Das Totalitäre als letzte Chance des Kapitalismus: Agambens ignorierte Warnungen

Der renommierte italienische Intellektuelle wurde in der Corona-Krise gecancelt – doch seine Zeitdiagnose um Biopolitik und Ausnahmezustand ist noch immer alarmierend (Teil 2 und Schluss).

Die Schelte ließ nichts aus: Er gebe "Verschwörungstheorien" wieder, streue "Desinformation", er "hört sich an wie ein rechter Spinner", "die letzten zwei Jahre verkehren sein intellektuelles Vermächtnis" (Übersetzer Adam Kotsko) – und, ein besonderes Juwel: "Jetzt müssen wir ihn und die Philosophie vor seinen Verschwörungstheorien retten." (Philosophin Donatella Di Cesare)

Selten wurde ein Intellektueller so schnell und so tief fallengelassen wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben in der Corona-Krise. Selbst enge Freunde wie sein inzwischen verstorbener Kollege Jean-Luc Nancy versagten ihm die Unterstützung und halfen mit, das Bild des Wissenschafts-Leugners zu zeichnen – gerade Nancy, der die (erneute) Thematisierung von Heideggers Hang zum Nationalsozialismus für einen übertriebenen Akt der Political Correctness hielt.

Der politisch verseuchte Corona-Diskurs infizierte auch die deutschen Medienberichte über Agamben: Weil die aus der Querdenker-Bewegung heraus entstandene Zeitung Demokratischer Widerstand Agamben als Mitherausgeber nannte und sich das als rechtsextrem geltende Monatsmagazin Compact auf zwei seiner Texte berief, sprach das laut Verfassungsschutz linksextremistische Magazin konkret dem italienischen Intellektuellen die Fähigkeit ab, genuiner Antifaschist zu sein – gerade Agamben, der sein gesamtes Leben der Analyse des Faschismus widmete, um den berüchtigten Anfängen zu wehren.

Dabei war Agambens Reaktion auf die Corona-Krise abzusehen. Im Unterschied zu Geistesgrößen wie Jürgen Habermas oder Noam Chomsky ist Agamben seinen Prinzipien treu geblieben (siehe Teil 1). In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wurde die Behauptung aufgestellt, diejenigen, die Agamben unterstützten, hätten wohl nie "eine Zeile seines Werks gelesen". Offensichtlich sind es eher seine Kritiker, die mehr hätten lesen sollen.

Diese stürzten sich vor allem auf Agambens ersten von zahlreichen Einwürfen, die er auf dem Blog seines (bis heute loyalen) Hausverlags Quodlibet veröffentlichte. Der Text trug den Titel "Erfundene Pandemien".

Falsche Verurteilungen und tatsächliche Neuerfindungen

Wohlgemerkt: Wir schreiben den 26. Februar 2020, die Inzidenzzahlen werden noch als belastbare Datengrundlage herangezogen. Finanzielle Fehlanreize zur Hospitalisierung wurden noch nicht gerügt, tödliche Falschbehandlungen noch nicht offengelegt, Wirksamkeit und Kollateralschäden von Isolationsmaßnahmen nach chinesischem Vorbild noch nicht in Zweifel gezogen. Nein, Zweifel waren 2020 noch nicht erlaubt.

In seinem Erbsünde-Text beging Agamben den Hochverrat, die Erkrankung Covid-19 aufgrund von 80 bis 90 Prozent Überlebensrate, zehn bis 15 Prozent Lungenentzündungen und vier Prozent Intensivbehandlungen in der Gesamtzahl der Fälle – übrigens Zahlen, die bis heute nicht dramatischer oder sogar weitaus weniger dramatisch sind – mit der saisonalen Grippe zu vergleichen.

Wer ihm daraus noch keinen Strick drehte, bediente sich dazu seiner Behauptung von einer "erfundenen Pandemie", das klang für viele so klar nach "Leugner". Nur unterschlugen seine zahlreichen Kritiker dabei meist einen entscheidenden Aspekt.

Und zwar den, dass Agamben sich in seinem Text auf die Informationen des Nationalen Forschungsinstituts CRN bezog: Dieses hatte noch am 23. Februar behauptet, es gäbe "keine Epidemie in Italien". Man hätte das nachlesen können.

Offenbar ging es hier aber nicht um einen Austausch von Argumenten, sondern um einen (identitäts-)politischen Grabenkampf. Fortan lag ein Tabu über Agamben. Er wurde zur Figur seiner eigenen Theorie, zum Homo Sacer des Corona-Regimes (siehe Teil 1). Natürlich war er damit bei Weitem nicht allein.

Lehnen wir uns einmal aus dem Fenster und fragen: Hatte Agamben nicht generell recht? Denn "mit dem Wissen von heute", um den ehemaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zu zitieren, kann man, richtig verstanden, von einer politischen Erfindung in Sachen Corona sprechen.

Das Virus mag nicht erfunden sein und auch die Krankheits- und Todesfälle sind es nicht. Sehr wohl eine Neuerfindung war aber die gesellschaftliche Reaktion: Nie zuvor in der Geschichte hat man ein solches Arsenal aufgeboten, das versprach, eine Atemwegserkrankung aufspüren und kontrollieren zu können. Nur, die dramatischen Prognosen stammten teilweise von denselben Leuten, die auch bei Vogelgrippe und Schweinegrippe im Einsatz waren – und sich jedes Mal um ein Vielfaches verschätzten.

Der emeritierte Epidemiologe und ehemalige Berater der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Ulrich Keil, der 2010 als Sachverständiger im parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Europarats zur Schweinegrippe-Pandemie aussagte, warnte schon damals vor "weiteren erfundenen Pandemien" sowie davor, dass sich mit dem entsprechenden Instrumentarium auch die saisonale Grippe zum Public Health Emergency of International Concern (PHEIC) hochstilisieren ließe. Auch Keils Kollege Tom Jefferson und der Pharmakologe Peter Doshi machten sich Sorgen.

Agamben hat die alten Pandemien offenbar genauso wenig vergessen. Denn im Mai 2020 erscheint unter dem Titel "Biosicherheit und Politik" ein weiterer Einwurf Agambens, in dem er an die Prognose der WHO erinnert, zwei bis 150 Millionen Menschen könnten an der Vogelgrippe sterben. Tatsächlich waren es bis zum Jahr 2022 1.100.

In seinen darauffolgenden Einlassungen verlässt Agamben die medizinische Debatte und wendet sich dem zu, was in der Corona-Krise nicht deutlicher hätte zu Tage treten können: die Verbindung zu seinem philosophischen Lebenswerk.