Drei Jahre Pandemie im Spiegel der Übersterblichkeitsstatistik

Wie schneidet Deutschland im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern ab? Was ist aus Schwedens "Sonderweg" geworden? Eine Zwischenbilanz.

Mit dem allmählichen Abklingen der Maßnahmen ist es ruhiger geworden um die Pandemie und damit auch um die Frage nach der Übersterblichkeit. Die Abkühlung der erhitzten Gemüter sollten wir nutzen für eine Zwischenbilanz: Wie ist Deutschland – im Vergleich zu den übrigen OECD-Ländern – bisher durch die Pandemie gekommen? Und was ist aus dem "Schwedischen Sonderweg" in der Pandemie geworden?

Grundsätzlich ist festzustellen, dass Deutschland im unteren Mittelfeld liegt – während einige Länder für die drei vergangenen Jahre Übersterblichkeiten von bis zu 30 Prozent gegenüber der erwartbaren Sterblichkeit verzeichnen, waren es in Deutschland circa sechs Prozent; in einigen Ländern lag die Übersterblichkeit sogar bei null. Allerdings ist zu beobachten, dass bei den anfänglichen No-Covid-Musterschülern im Verlauf der drei Jahre der Erfolg deutlich nachgelassen hat.

Das gilt nicht nur für China, das deswegen öffentlichkeitswirksam mit klammheimlicher Schadenfreude bedacht wird, sondern eher still und leise auch für einige andere Länder, wie zum Beispiel Australien, Norwegen, Korea und Japan, die 2020 noch Untersterblichkeit vermelden konnten, aber gerade 2022 höhere Übersterblichkeiten aufweisen.

Umgekehrt liegen bei den ehemaligen schwarzen Schafen, die wegen anfangs hochschnellender Ansteckungen und Todeszahlen einer laxen Politik geziehen wurden, die Mortalitätsraten vielfach wieder im Normalbereich oder sogar darunter.

Schweden, das wegen seiner entspannteren Politik anfangs besonders am Pranger stand, hat, auf die drei Jahre gerechnet, eine niedrigere Übersterblichkeit als Deutschland, das sich dank seines aufgeregten Aktivismus wohlbehütet wähnte. Es scheint sich also anzudeuten, dass über die Jahre die weißen Schafe schwärzer und die schwarzen Schafe weißer geworden sind, so dass am Ende alle grau gescheckt aus der Pandemie herauskommen – 37 shades of grey, denn so viele Länder werden wir im Folgenden betrachten (für die Türkei als 38. OECD-Land liegen keine ausreichenden Daten vor).

Beim Vergleich dieser Länder kann man dann auch fragen, was "die Maßnahmen" gebracht haben. Hierzu hat Our World in Data einen recht umfangreichen Datensatz zusammengetragen und zum Download zur Verfügung gestellt.

Das Ergebnis ist etwas ernüchternd: Für die Kontaktbeschränkungen lassen sich dämpfende Wirkungen gar nicht, für die Impfungen lassen sie sich nur für 2021 nachweisen. Im Wesentlichen sind die Unterschiede zwischen den Ländern statistisch korreliert mit systemischen Ursachen, auf die die Politik kurzfristig keinen Einfluss hat.

Andererseits sind aber auch kaum Übersterblichkeitswellen auszumachen, die nicht mit Covid-Todesfällen assoziiert wären. Außer in der zweiten Hälfte 2022: In diesem Zeitraum sind in Deutschland und einigen anderen Ländern Mortalitätswellen aufgelaufen, die von Corona weitgehend entkoppelt waren.

Diese Beobachtung hat in der deutschen Öffentlichkeit zu allen möglichen Überlegungen Anlass geboten – die einen wollen hier Impfschäden deklarieren, die anderen Nachwirkungen der Pandemie am Werk sehen. Da dieses Muster aber nur in einem Teil der 37 Länder zu finden ist und mit der Impfquote weder positiv noch negativ korreliert, sollte man sich mit vorschnellen Mutmaßungen zurückhalten.

Übersterblichkeit als Maßstab von Katastrophen

In einer Pandemie kann man nicht wissen, ob alle Todesfälle akkurat erfasst werden. Einerseits sterben viele Menschen, ohne dass ihr Tod zuverlässig der entsprechenden Infektion zugerechnet werden kann. Oder man könnte umgekehrt den Verdacht hegen, dass ein mittels Infektionsnachweis zugerechneter Covid-Tod sich ohnehin im betreffenden Zeitraum ereignet hätte – die Menschen also mit Covid, aber nicht an Covid gestorben wären.

Jenseits der Infektionen gibt noch eine Reihe anderer Gründe für zusätzliche Todesfälle infolge einer Pandemie. Sie könnten auch der Angst ins Krankenhaus zu gehen, dem Hunger infolge von Einkommensausfall, der Überlastung der Krankenhäuser usw. geschuldet sein, und müssten außerdem gegengerechnet werden zu eventuell verminderten Todeszahlen aufgrund von beschränkenden Maßnahmen – weniger Autoverkehr und entsprechend weniger Verkehrsopfer zum Beispiel. Das ist die erste Unschärfe, die man bei der Übersterblichkeitsstatistik im Auge behalten muss.

Die zweite Unschärfe liegt im Berechnungsverfahren der Übersterblichkeit. Übersterblichkeit liegt vor, wenn die Todeszahlen über die normal erwartbare Mortalität ansteigen. Wenn in Deutschland zum Beispiel im Jahr ca. 1 Million Tote zu erwarten sind und tatsächlich 1,1 Millionen sterben, dann betrüge die Übersterblichkeit 100.000 Todesfälle oder zehn Prozent.

Aber woher wissen wir, dass in Deutschland im Jahr 2022 tatsächlich mit rund einer Million Toten zu rechnen ist? Das einfachste Verfahren, wie es auch die statistischen Ämter verwenden, besteht darin, den Durchschnitt der letzten vier oder fünf Jahre als Erwartungswert anzusetzen. Durchschnitt deshalb, weil die Todeszahlen normalerweise von Jahr zu Jahr schwanken – in bevölkerungsreichen Ländern um bis zu fünf Prozent, in kleinen Ländern bis zu 20 Prozent.

Neben den Schwankungen gibt es aber auch Trends: In manchen Ländern sinken die Todeszahlen in gewissen Zeiträumen wegen steigender Lebenserwartung oder wegen Abwanderung; in anderen Ländern steigen sie aufgrund von Zuwanderung oder der Alterung der Bevölkerung.

Das Mittelwertverfahren kann diese Trends nur sehr unzureichend erfassen und zeigt einen deutlichen Nachlaufeffekt. In Phasen sinkender Todeszahlen werden die Erwartungswerte zu hoch angesetzt und damit die Übersterblichkeitswerte unterschätzt.

Andere Verfahren versuchen, diese Trends zu extrapolieren und sind daher viel besser geeignet, die Übersterblichkeit akkurat zu erfassen. Das in Our World in Data verwendete Verfahren, auf das man interaktiv und frei zugreifen kann, arbeitet mit solchen Trendprojektionen. Es wurde anhand historischer Daten evaluiert und hat sich gegenüber dem von den statistischen Behörden verwendeten Mittelwertverfahren als klar überlegen erwiesen.

Abbildung 1 zeigt die entsprechenden Unterschiede auf. Es wird sichtbar, dass das Mittelwertverfahren der statistischen Ämter die Übersterblichkeit in der Mehrzahl der Fälle überschätzt – weil in den meisten OECD-Ländern die Bevölkerungszahl und die Zahl älterer Menschen schneller steigt als die Lebenserwartung.

Wenn das Mittelwertverfahren die Übersterblichkeit in allen Ländern gleichmäßig überschätzen würde, wäre das für unsere Frage nach dem relativen Erfolg der Länder und ihrer Maßnahmen kein Problem – denn es käme hier nur auf die Abstände der Maßzahlen untereinander und nicht die absolute Höhe an. Aber die Überschätzung ist eben nicht gleichmäßig; und in einigen Ländern – LTU, LVA, SWE – unterschätzt das Mittelwertverfahren sogar die Sterblichkeit und verwirrt damit die Reihenfolge.

Abbildung 1: Differenz der Übersterblichkeitswerte im Dreijahresraum 2020 bis 2022 aufgrund unterschiedlicher Berechnungsverfahren

Daher werden wir im Folgenden ausschließlich das Extrapolationsverfahren anwenden. Auf die Ergebnisse des Mittelwertverfahrens sei daher jetzt nur ganz kurz verwiesen, um eine besonders streitbare Aussage abzusichern – nämlich, dass Schweden besser durch die Pandemie gekommen ist als Deutschland: Dem Extrapolationsverfahren zufolge betrug die Übersterblichkeit in Schweden im Mittel der drei Jahre 5,1 und in Deutschland 5,7 Prozent.

Dem Mittelwertverfahren der Statistischen Ämter zufolge war der Unterschied noch sehr viel deutlicher: In Schweden betrug die Übersterblichkeit demnach 3,8 und in Deutschland 9,1 Prozent. Wie man in Abbildung 1 zudem bei näherer Betrachtung deutlich erkennen kann, wäre Schweden – dem Mittelwertverfahren zufolge – sogar Spitzenreiter im Ranking. Für alle anderen Länder würde demnach eine höhere Übersterblichkeit registriert. Das ist überraschend, angesichts der Verdikte über den "schwedischen Sonderweg".

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