Die "Karl-May-Frage": Rassismus oder kulturelle Aneignung?

Mays Schriften sagen wenig oder gar nichts über die Kulturen der amerikanischen Ureinwohner aus. Aber viel über einen bestimmten Zug deutscher Gesinnung.

Die Aufregung um einen Indianerfilm für Kinder schien vielen Meinungsmachern unter den Krisen des vergangenen Jahres am entbehrlichsten zu sein. Immerhin war die Analyse der sogenannten "Karl-May-Frage" für amerikanische Anthropologen 1953 wichtig genug, um den deutschen "Nationalcharakter" zu verstehen.

Der Anlass für die ungezügelte Debatte schien kaum der Rede wert. Der Ravensburger Verlag, bekannt für sein jugendliches Publikum, zog eine Reihe von geplanten Veröffentlichungen zurück, die zur Premiere des Kinderfilms Der junge Häuptling Winnetou erscheinen sollten.

Angesichts "negativer Rückmeldungen" sei man nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluss gekommen, dass Film und Begleitpublikationen ein "romantisierendes Bild mit vielen Klischees" anstelle der "geschichtlichen Wirklichkeit, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung" zeichnen würden.1

Der Film selbst hatte mit Ausnahme der musealen Ausstattung wenig mit der geschichtlichen und kulturellen Wirklichkeit der amerikanischen Urbevölkerung gemein. Offensichtlich ging es darum, Motive aus den Karl-May-Romanen in eine authentisch wirkende Umwelt zu verpflanzen, also Stereotype als gleichbleibende, immer wiederkehrende Verallgemeinerungen zu verstärken und zu bekräftigen.

Wounded Knee

Erstaunlich ist nur, dass ein solch pauschales Denken heute noch als pädagogisch wertvoll angesehen wird. Vor genau fünfzig Jahren, am 27. Februar 1973, besetzten Angehörige der Amerikanischen Indianer-Bewegung (AIM) ein Massengrab ihrer Vorfahren in dem kleinen Ort Wounded Knee in Süd-Dakota. Dieser Akt der Verzweiflung führte zu einer weltweiten Aufmerksamkeit für die alltägliche Verfolgung der Ureinwohner.

Nicht nur die amerikanischen Indianer, sondern auch die australischen Aborigines, die skandinavischen Sameh, die Inuit und Yupik am Polarkreis, die Ainu in Nord-Japan und viele mehr verstanden sich nun als "indigene Völker".

Hollywood begann, realistische Indianerfilme zu drehen, in denen die einheimischen Darsteller – für Europäer unverständlich – in ihren Muttersprachen miteinander kommunizierten. In Deutschland wurden Schulbücher nach Darstellungen durchgesehen, die Indianer ihrer Menschlichkeit beraubten und stattdessen in "faszinierende" Exoten verwandelten.

"Besonders wertvoll"

Angesichts dieser Bemühungen um Aufklärung und Verständnis während eines halben Jahrhunderts ist es dann doch bemerkenswert, wenn ein Film als "besonders wertvoll" ausgezeichnet wird, in denen die Täuschungen des Kolonialzeitalters wieder aufleben.

Die Begründung der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) für ihr Steuer ermäßigendes Prädikat lässt keinen Zweifel daran, dass nicht eine realistische Begegnung zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen ausgezeichnet wird.

Die Bewertungsstelle mit Behördenstatus, von den Bundesländern finanziert, findet die "Einladung in das märchenhafte Reich eines literarischen Mythos" preiswürdig. Der "märchenhafte Abenteuerfilm" verkünde – unter anderem mit einer "witzig agierenden Gaunerbande" und der "kleinen Schwester von Winnetou", die den männlichen Figuren "mindestens ebenbürtig" sei – "eine Botschaft, die aktueller und positiver nicht sein kann".2

Nun geht es in dem Film wie in den Karl-May-Büchern und in den "Cowboy und Indianer"-Spielen nicht um eine authentische Darstellung der verschiedenen indianischen Kulturen, sondern ganz konkret um die Eroberung des amerikanischen Kontinents.

Realitätsverzerrung und "das Recht der Kritiker"

Während es zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch zahlreiche indianische Staatswesen gab, die den amerikanischen "Pionieren" organisatorisch überlegen waren und nicht dem gängigen Indianerbild entsprechen, werden indianische Kultur und Geschichte in den populären Darstellungen auf die farbenprächtige Kultur der Prärieindianer und die Zeit der Indianerkriege reduziert.

Man stelle sich einmal vor, es würde für Jugendliche ein "märchenhafter Abenteuerfilm" aus der Zeit des Holocaust nicht nur gedreht, sondern auch noch ausgezeichnet!

Als Reaktion auf die öffentlichen Debatten um die Entscheidung des Ravensburger Verlags weist die Filmbewertungsstelle darauf hin, dass es in der Jury-Diskussion "auch (…) kritische Anmerkungen" gegeben habe. An der Auszeichnung ist freilich nicht zu rütteln. An ihr halten sich alle Kritiker fest, die ihr vermeintliches Recht gefährdet sehen, frei entscheiden zu können, was sie für wahr halten wollen und was nicht.

So twitterte der SPD-Politiker Sigmar Gabriel, seit 2019 Vorsitzender der Atlantik-Brücke:

Als Kind habe ich Karl Mays Bücher geliebt, besonders Winnetou. Als mein Held starb, flossen Tränen. Zum Rassisten hat mich das ebenso wenig gemacht wie Tom Sawyer & Huckelberry Finn. Und deshalb bleibt Winnetou im Bücherregal für meine Kinder. Und den Film schauen wir uns auch an.

Der Thüringer FDP-Chef Thomas Kemmerich tritt Gabriel zur Seite:

Am Ende von Winnetou 3 haben wir alle geweint ... Winnetou ging in die ewigen Jagdgründe ein und dennoch ist er unsterblich.

Nun kann man freilich auch beim Tod des treuen Hundes Krambambuli Tränen vergießen.3 Aber im konkreten Fall ist es schon wichtig, welche Worte Karl May seinem sterbenden Winnetou in den Mund legt4:

Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!

"Das Schicksal" der "Roten Rasse"

Mit diesem dramatischen Abgesang seines Helden bekräftigt May das unvermeidliche "Schicksal" der "Roten Rasse", das er bereits im Vorwort zum ersten Band der Winnetou-Reihe 1893 verkündet hatte:

Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein (…). Mag es zwischen beiden noch so wenig Punkte des Vergleiches geben, sie sind einander doch ähnlich in dem einen, daß man mit ihnen (…) abgeschlossen hat: Man spricht von dem Türken kaum anders als von dem "kranken Mann", während jeder, der die Verhältnisse kennt, den Indianer als den "sterbenden Mann"‘ bezeichnen muß.

Ja, die rote Nation liegt im Sterben! (…) niedergeworfen von einem unerbittlichen Schicksale, welches kein Erbarmen kennt. Er hat sich mit allen Kräften gegen dasselbe gesträubt, doch vergeblich; seine Kräfte sind mehr und mehr geschwunden; er hat nur noch wenige Atemzüge zu thun, und die Zuckungen, die von Zeit zu Zeit seinen nackten Körper bewegen, sind die Konvulsionen, welche die Nähe des Todes verkündigen.

Keine Frage. Karl May ist Rassist, wenn er die Gründe für den Bevölkerungsrückgang der amerikanischen Ureinwohner nicht in der versuchten Ausrottung, sondern in dem Fehlen eines genetisch verankerten Lebenswillens sieht.

Wie kann man angesichts dieser erklärten Tendenz noch von der "Botschaft eines friedlichen Miteinanders" sprechen, die nach Auffassung der Filmbewertung das Werk Karl Mays kennzeichne?

Wie viel Einsicht in die Zusammenhänge von Kolonialismus, Rassismus und Diskriminierung besteht bei einer Fachfrau wie der einstigen FDP-Justizministerin und ersten Antisemitismus-Beauftragten des Landes NRW, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, wenn sie auf Twitter textet:

Ich finde diese Winnetou Debatte einfach nur grauenvoll. Dürfen nur noch Indianer für Indianer Winnetou aufführen? Ich habe 45 Karl May Bücher gelesen. Und bin weder Rassistin noch Anhängerin des Kolonialismus.

Man muss doch wohl zurückfragen, ob es ein menschenwürdiges Leben ist, wenn Menschen anderen Menschen ein bestimmtes Klischeebild vorspielen müssen. Sind "Indianer" nur das, was man in Verkleidung "spielen" kann?