Wie viel Schuld trägt die EU-Troika an der Zugkatastrophe in Griechenland?

Sah sich mittlerweile zur Entschuldigung bemüßigt: Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis. Archivbild: European People's Party / CC BY 2.0

Sicherheit im Bahnverkehr zu teuer. Sparmaßnahmen für mindestens 57 Menschen tödlich, Fahrdienstleiter inhaftiert. Warum es keine Kontrollsysteme mehr gab

"Ihr Profit ist unser Tod", schreien die Demonstranten in allen griechischen Städten. In den Großstädten sind sie am Mittwoch gleich zweimal am Tag zu Zehntausenden auf die Straße gegangen. Es handelte sich in Athen um eine der größten Demonstrationen der vergangenen Jahrzehnte.

Auslöser war das Zugunglück bei Tempi vom 28. Februar. Beim Zusammenstoß zweier Züge fanden mindestens 57 Menschen den Tod, manche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Weil ein Großteil der Todesopfer Studierende, Schüler und junge Menschen waren, gibt es kaum einen Ort im Land, wo es nicht bedrückende Szenen auf Beerdigungen gibt.

"In der Gesellschaft herrscht berechtigte Empörung. Das fatale Systemversagen, das zu Unrecht so vielen Menschen das Leben gekostet hat, rechtfertigt Trauer und Wut", schreibt die an sich regierungsfreundliche Zeitung Kathimerini in ihrem kurzen aktuellen Leitartikel.

Ein Frontalzusammenstoß als Auslöser

Es war ein Unglück mit Ansage. Kurz vor einem Tunnel auf der Höhe der Ortschaft Evangelismos im Tempi-Tal in Nordgriechenland raste der aus dem Süden kommende Intercity ungebremst mit einer Geschwindigkeit von 163 Stundenkilometern gegen einen aus dem Norden mit 80 bis 90 Stundenkilometern fahrenden Güterzug.

Die Eisenbahnen, deren Fahrzeuge noch im staatlichen Besitz sind, werden nach der "Privatisierung" von 2017 als Hellenic Train für 45 Millionen Euro von der staatlichen italienischen Eisenbahn Ferrovie dello Stato Italiane betrieben. Die europäischen Strukturmaßnahmen schrieben zudem die Zerschlagung des früher einheitlichen Eisenbahnkonzerns OSE vor.

Die bei der Privatisierung beschlossenen Investitionen durch den Käufer wurden offensichtlich nicht festgeschrieben. Die Hellenic Train wird für den Schienenverkehr jährlich mit 50 Millionen Euro vom griechischen Staat bezuschusst. Sämtliche Altschulden der OSE übernahm der griechische Staat.

Das Schienennetz wird von der staatlichen Bahngesellschaft ErgOSE gewartet. Über die Sicherheit und den Betrieb der Eisenbahnen wacht eine unabhängige Behörde, die außer den beiden Direktoren aus Kostengründen nur vier Angestellte hat.

Kompetenzgerangel und chronischer Geldmangel bestimmten den mittlerweile bis auf Weiteres eingestellten Betrieb der Eisenbahnen. Von beantragten 50 Millionen Euro für dringende Wartungen genehmigte die Regierung 2022 nur 25 Millionen Euro.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Premier Kyriakos Mitsotakis am Folgetag nach dem Unglück einen weiteren Teilabschnitt der neuen elektronischen Fahrdienstüberwachung in Thessaloniki einweihen wollte. Die Bilder wollte er im Wahlkampf nutzen. Die bis 2010 funktionierenden älteren elektronischen Verkehrssysteme der Eisenbahnen zerfielen wegen der Sparmaßnahmen der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB), Internationalem Währungsfonds (IWF).

Seit 2014 wird an einem neuen System gebaut, das aufgrund von Vertragsschwierigkeiten und politischen Fehlern der Regierungen bis heute nicht fertig wurde. Bis Ende März will die Regierung, wie der neue Verkehrsminister Georgos Gerapetritis bei seiner Pressekonferenz am Mittwoch verkündete, ein rudimentärer, eingeschränkter Eisenbahnverkehr mit verringerter Geschwindigkeit der Züge wieder aufgenommen werden. Mögliche Entschädigungsforderungen der Hellenic Train stehen im Raum.

Man sei in "Verhandlungen", antwortete Gerapetritis auf eine diesbezügliche Frage. Weitere Entschädigungsforderungen drohen seitens der Wirtschaft. Die Eisenbahn ist der Hauptverkehrsweg für Güter, die aus Griechenland exportiert werden. Für den von der chinesischen COSCO betriebenen Hafen von Piräus ist der Schienenweg ein Teil des Unternehmenskonzeptes für die Rolle des Hafens als Knotenpunkt für Importe nach Europa.

Der Wahlkampf wurde ebenso wie die für vergangene Woche vorgesehene Terminierung der Neuwahlen bis auf Weiteres verschoben. Aus den üblichen "informierten Kreisen" wird nun über einen Termin Ende Mai oder Ende Juni berichtet. Professor George Pagoulatos, Direktor der Eliamep-Denkfabrik in Athen bemerkt, "dies war eine Katastrophe, die vor allem die Jugend getroffen hat. Sie könnte sich auf die Art und Weise auswirken, das politische System als nicht funktionierend anzusehen, und so zu einer systemfeindlichen Wahl oder einer weit verbreiteten Enthaltung führen."

Die "Memoranden-Parteien", die Parteien, welche den Sparkurs der Kreditgeber als Regierung mit trugen stehen nun unter Druck. Die regierende Nea Dimokratia, die Pasok und Syriza haben alle den katastrophalen Sparkurs, dessen fatale Folgen nun unübersehbar sind, mitgetragen.

Mitsotakis nutzt seine Regierungsmacht und wies den obersten Staatsanwalt des Landes Isidoros Dojakos an, auch die Verantwortlichkeiten der Vorgängerregierungen zu überprüfen und den strafrechtlichen Untersuchungen des Unglücks absoluten Vorrang vor allen anderen Fällen zu geben. Dass dies ein verbotener Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz ist, wurde von Syriza angeprangert. Die Menschen auf der Straße interessieren solche Details kaum, ihnen geht es um das Gesamtbild.