Getötetes Mädchen in Freudenberg: Gewalt, die aus der Kälte kommt

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Statt über die Ursachen kindlicher Gewalt zu sprechen, wird lautstark eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters gefordert. Kommentar.

Zwei 12 beziehungsweise 13 Jahre alte Mädchen aus dem nordrhein-westfälischen Freudenberg haben gestanden, am 11. März ihre 12-jährige Freundin Luise mit zahlreichen Messerstichen getötet zu haben. Es soll sich um einen Racheakt für irgendwelche vom späteren Opfer ausgesprochenen Beleidigungen gehandelt haben.

Bei dieser "Begründung" kann es sich aber auch um einen nachträglich formulierten Text handeln, der einen Akt nackter und sinnloser Gewalt in irgendeine Logik einbetten soll. Oft sind Rechtsanwälte und Erwachsene an diesem Akt der Nachproduktion von Motiven beteiligt. Die jungen Täterinnen oder Täter sagen einen Text auf, den man mit ihnen einstudiert hat.

Bei Gewalttaten, von Kindern an Kindern begangen – in diesem Fall auch noch von Mädchen an Mädchen – ist die Empörung groß. Statt über die Ursachen kindlicher Gewalt zu sprechen, wird lautstark eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters gefordert.

So als hätten die Freudenberger Mädchen den zum Stich mit dem Messer erhobenen Arm wieder sinken lassen, wenn ihnen klar gewesen wäre, dass man sie für ihre Tat zur Verantwortung ziehen und einer Bestrafung zuführen könnte. Abschreckung funktioniert umso weniger, je mehr Emotionen und Affekte bei einer Tat im Spiel sind.

Kinder dieser Gesellschaft

Es sind, wie immer man es dreht und wendet, Kinder dieser Gesellschaft. Ihre Gewalt stammt nicht von einem fremden Stern, sondern ist das Resultat einer Kindheit, die angefüllt ist mit Bildern der Gewalt und die in einer Gesellschaft stattfindet, die selber auf Gewalt basiert und tagtäglich Gewalt produziert. Wie viele Morde hat ein 13-jähriges Kind am Bildschirm bereits gesehen?

In und an deutschen Schulen wird viel Gewalt praktiziert und auch hervorgerufen. Es wird in einem Ausmaß gemobbt und verletzt, das wir uns nur schwer vorstellen können. Vieles war und ist also absehbar und wurde seit Jahren vielfach warnend beschworen. Aber wenn dann geschieht, was zu erwarten war, ist die Empörung groß und man macht trotz aller Erkenntnisse die Kinder für ihr Fehlverhalten verantwortlich.

Darin, dass das in dem Freudenberger Fall wegen der Minderjährigkeit der mutmaßlichen Täterinnen juristisch nicht funktionieren wird, liegt auch eine Chance, sich mit den wirklichen Ursachen der Gewalt auseinanderzusetzen.

Wir hätten zu fragen: Wollen wir die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche heranwachsen, weiter den ökonomischen Funktionsimperativen unterordnen und zulassen, dass auf Kindheit und Jugend der Kälteschatten von Elend, Bindungslosigkeit und Indifferenz fällt?

Was nach außen manchmal noch aussieht wie eine Familie, ist in Wahrheit oft nur eine Ansammlung von Einsamkeiten und Warencharakteren. Wenn wir nichts dagegen unternehmen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn dem unwirtlichen Schoß dieser Gesellschaft mehr und mehr verwilderte Wesen entspringen, deren Verhalten von kalter Schonungslosigkeit, moralischer Indifferenz und einer frei flottierenden Aggressivität geprägt sein wird.

Meiner Beobachtung nach kann man von einer zeitgemäßen Form der Kindesaussetzung sprechen. Kaum der Wiege entstiegen, werden Kinder vor Bildmaschinen gesetzt und mit der Flut der Bilder allein gelassen.

Schon- und Schutzräume

Da viele Familien keinen Schon- und Schutzraum mehr bieten, der schädliche Umwelteinflüsse von den Heranwachsenden fernhält, werden wir nicht umhinkönnen, nach neuen geschützten und schützenden Räumen zu suchen, in denen Kinder ihre Reifungsprozesse absolvieren und zu menschlichen Wesen heranwachsen können.

Gegenwärtig drohen sie, wie Peter Sloterdijk einmal gesagt hat, aus dem Mutterleib direkt in die Gesellschaft des entfesselten Marktes zu stürzen und moralisch zu verwildern. Dem Geld ist, salopp gesagt, "alles egal". Und das Geld ist, wie es bei Heinrich Heine heißt, "der Gott unserer Zeit" - und Christian Lindner ist sein Prophet.

Trotz aller nun vorgetragenen Erklärungs- und Deutungsversuche wird eine Tötung wie die von Freudenberg immer etwas Rätselhaftes bewahren. Sie bleibt erschütternd und schwer zu begreifen. All unsere Erklärungen reichen an das Geschehen letztlich nicht heran, sondern dienen in erster Linie dem Zweck, ein eigentlich unfassbares Ereignis irgendwie begreifbar werden zu lassen.

Wir wollen am Ende sagen können: "Aha, das ist es also!" und zur Tagesordnung und unserer Normalität zurückkehren. Es ist allerdings eine Normalität, aus der der Mord hervorgegangen ist und jederzeit erneut hervorbrechen kann.

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher. Eisenbergs Durchhalteprosa erscheint regelmäßig bei der GEW Ansbach.