Warum sind die Taliban frauenfeindlich?

Archivbild aus dem Jahr 1998: Frauen-Proteste in Peschawar, einer Stadt in Pakistan am Kyber-Pass, an der Grenze nach Afghanistan, gegen Fundamentalisten und Unterdrückung. Foto: Revolutionary Association of the Women of Afghanistan / CC BY 3.0

Unterricht nur an religiösen Mädchen-Schulen, später lebenslanger Hausarrest. Liegt die Unterdrückung an der Kultur der Paschtunen? Nobelpreisträgerin Malala Yousafzai, selbst Paschtunin und Frauenrechtlerin, widerspricht.

Gestern hat das neue Unterrichtsjahr in Afghanistan begonnen. Laut Reuters dürfen Mädchen, anders als es die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 der Weltöffentlichkeit gegenüber verkündet hatten, nicht am Unterricht teilnehmen, wenn die Schule nicht religiös geprägt ist und einzig Mädchen vorbehalten.

Dem liegt ein tiefer Konflikt und eine albtraumhafte Sichtweise auf Frauen zugrunde.

Pakistans UN-Botschafter Munir Akram (77) hatte keine Provokation im Sinn als er Folgendes am 1.Februar im UNO-Plenum zum Ausschluss afghanischer Mädchen und Frauen von Schulen und Universitäten durch die Taliban nüchtern bemerkte:

Die von der afghanischen vorläufigen Regierung verfügten Beschränkungen sind nicht so sehr religiös begründet, sondern entstammen mehr der eigentümlichen kulturellen Perspektive der Kultur der Paschtunen, die verlangt, dass Frauen zu Hause bleiben müssen. Das ist die seit Jahrhunderten unveränderte eigentümliche, distinktive, kulturelle Realität Afghanistans.

UN-Botschafter Munir Akram

Innerhalb von Stunden sah sich Akram, ethnisch ein Mohajir (Muslime, die 1947 von Indien nach Pakistan auswanderten, die Volksgruppe lebt nicht in Stammesform), einem Shitstorm afghanischer und pakistanischer Paschtunen ausgesetzt und musste seine Aussage erheblich relativieren. Am 5. Februar widersprach auch Malala Yousafzai in Pakistans größter englischer Tageszeitung Dawn in einer Gegendarstellung seiner These.

Wer ist Malala Yousafzai?

Geboren 1997 in Swat im gebirgigen Nordwesten Pakistans und wie ihr Name sagt, vom Tribe der Yousafzai, begann das Mädchen im Januar 2009, ein Jahr nach der ersten Niederlage der Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP) für das Urdu-Programm der BBC unter einer Tarnidentität einen Blog zu verfassen.

Sie beschrieb Alltagserfahrungen von Schülerinnen und Mädchen im Schatten der wiedererstarkten TTP, die erneut die Schließung der Mädchenschulen in Swat forcierte. Malala beendete ihre riskante Tätigkeit nach zwei Monaten. Dann kam es zwischen TTP und Armee zur zweiten Schlacht um Swat. Mit zwei Millionen Bewohnern, zumeist Yousafzai, flüchteten Malala und ihre Familie aus dem Tal.

Nach dem Sieg der Armee kehrte sie zurück und wurde dank ihres Vater im Kindesalter eine lokale Berühmtheit, die sich für Menschen- und Frauenrechte einsetzte. Es folgten Todesdrohungen der TTP gegen ihren Vater und sie. Am 9. Oktober 2012 hielt ein TTP-Kommando ihren Schulbus an und verletzte das Mädchen durch einen Kopfschuss schwer. Sie überlebte, kam zur Behandlung nach England und erhielt 2014 den Friedensnobelpreis.

Für einige Jahre war sie das bekannteste Gesicht ihres Landes, kehrte aber erst 2018 und nur für kurz zurück. Sie lebt in England und setzt sich mit ihrer NGO Malala Fund weltweit für Frauenbildung ein.

Malala Yousafzais Gegendarstellung

In der Dawn am 5. Februar dieses Jahres schrieb Yousafzai:

Als Paschtunin, Pakistani und Muslima muss ich vehement widersprechen. Der Botschafter, der sich seitdem für seine Bemerkungen entschuldigt hat, versuchte die Schuld an der unmenschlichen Frauenfeindlichkeit, der afghanische Frauen begegnen, auf die Kultur der Paschtunen zu schieben. Während die Taliban ihren Glauben und ihr Erbe (Kultur) verbiegen mögen, um ihren Zielen zu dienen, so tragen sie doch allein die Verantwortung für die katastrophale Missachtung der Frauenrechte in dem Land, das sie kontrollieren. (...)

Es war nicht meine Gemeinde (community), die mich nicht mehr zur Schule gehen ließ – es waren die Pakistani Taliban, die Mädchenbildung verboten (…) Wir machen Fortschritte und entwickeln uns weiter, während die Taliban und andere Extremisten gleichzeitig versuchen, uns zurückzuhalten. (…)

Im September 2021, kurz nachdem die Taliban zurück an die Macht kam sagte mir ein pakistanischer Beamter: "Afghanistan ist jetzt friedlicher als vorher." Aber friedlicher für wen? Sicherlich nicht für Frauen und Mädchen, die ihre Freiheit verlieren, das Recht zu arbeiten und das Recht auf Bildung.

Malala Yousafzai

Yousafzai wird wohl aus persönlichen Gründen den Frieden durch die Taliban als nebensächlich betrachten. Und für sie ist die Frauenfeindlichkeit der Taliban eine Verzerrung und damit Missbrauch ihres kulturellen Erbes, während Akram die Kultur und damit die Gesellschaft verantwortlich macht.

Für Außenstehende mag das ein semantischer Unterschied sein, der am Schicksal der Betroffenen nichts ändert. Besonders in Pakistan ist es dagegen eine äußerst umstrittene Frage, wie der Shitstorm gegen Akram beweist. Yousafzais Ansehen, Herkunft und Geschichte verleihen ihrer Position extra Gewicht.

Wer soll urteilen, wenn nicht sie? Sie entschuldet die Gesellschaft, die dankend annimmt. Doch was ist nun Fakt? Ist es Missbrauch ihrer Kultur, wenn die Taliban hüben und drüben so entschieden darauf bestehen, Frauen hätten nur einen Platz, nämlich in den eigenen vier Wänden?

Purdah und Burqa

Die Paschtunen praktizieren Purdah (Geschlechtertrennung) seit vorislamischer Zeit. Nur wenige so streng wie sie; in Pakistan sonst nur Balochen, Kohistani, Shin und als einzige Shiiten die Balti. In Afghanistan praktizieren es auch die anderen Völker, aber nur dort und nicht in anderen Siedlungsgebieten. Im Iran nur in stark abgemilderter Form.

Die Stämme der Arabischen Halbinsel, auch die Saudis, praktizieren ihn rigoros, es fällt im märchenhaften Reichtum nur weniger auf. Nichts symbolisiert Purdah stärker als die Burka (öfter auch: Burqa), die ultimative Form der Verschleierung, ein zeltartiger Überwurf mit Sichtnetz, der außer Haus getragen wird – wenn eine Frau unbedingt das Haus verlassen muss.

Reiche Paschtunen brüsten sich damit, dass ihre Frauen das nur einmal nötig haben – mit den Füßen voraus, auf dem Weg zum Friedhof. Die Burqa sieht man außer in den genannten Ausnahmen nur bei den Paschtunen. Erst seit wenigen Jahrzehnten ist bei einer kleinen urbanen Elite ein Umdenken im Gange. Auf dem Land ändert sich quasi nichts – es gibt von Paschtunen bewohnte Distrikte, wo mehr als Dreiviertel der weiblichen Bevölkerung Analphabeten sind.

Zahlen und Statistiken sprechen eine glasklare Sprache: Nirgendwo in Asien sind frauenspezifische Indizes so schlecht wie bei den Paschtunen und ihren kulturellen Verwandten. Vor Jahrzehnten bewiesen islamische Rechtsgelehrte, dass für ihre Frauen die Scharia ein rechtlicher Fortschritt wäre.

Im Ehrenkodex "Paschtunwali" haben sie unter anderem bei Erb- und Besitzfragen weniger Rechte als ihnen im Koran zustehen. Die Paschtunen sehen trotzdem ihre Traditionen ganz auf Scharia-Linie. Und beteuern Außenstehenden mit reinstem Gewissen, dass niemand die Frauen stärker respektiert und schützt als sie.

Weil sie es nichts anderes kennen und wissen. Wer es nicht selbst erlebt hat, glaubt es kaum: In den Bazaaren sind nur Männer zu sehen, woran man sich vielleicht noch gewöhnen kann; doch auch die Häuser scheinen ausschließlich von Männern bewohnt. Auf der Einladung zur Hochzeit kein Bild des Paares, nicht einmal der Name der Braut. Was die Frauen denken, ist völlig unbekannt, es gibt keinerlei wissenschaftliches Material.

Die Mehrheit hat wohl nur eine vage Vorstellung vom eigenen Schicksal – wohl zum Glück. Das ist die Kultur der Paschtunen, nicht Politik der Taliban.