Rechtsextremes Lob für Tunesiens Robocop

Zusammentreffen von US-Außenminister Blinken mit Tunesiens autoritärem Präsident Kaïs Saïed, Dezember 2022. Foto: US-Außenministerium/gemeinfrei

Präsident Saïed betreibt Hetze gegen Migranten und demontiert Demokratie. Das kommt bei Rechtsextremen gut an. In den USA sieht man das anders.

Stell Dir vor, es ist Parlament und keiner schaut hin: Mit dieser Formel – in leichter Abwandlung einer historischen Parole – lässt sich die aktuelle innenpolitische Situation in Tunesien beschreiben. Das nordafrikanische Land gilt als "Wiege der Jasmin-Revolution", doch hat sich die Lage dort weit von der Demokratie entfernt. Das betrifft Wünsche nach Basisdemokratie oder auch lediglich die Forderung nach formaler, parlamentarischer Demokratie.

Wahlbeteiligung: Gerade einmal elf Prozent

Niemand achtet auf das dortige Parlament, seine offizielle Bezeichnung lautet "Versammlung der Vertreter des Volkes" (ARP, Assemblée des représentants du peuple), vielleicht, weil kaum jemand an dessen Wahl teilgenommen hat.

Auch laut offiziellen und möglicherweise noch übertriebenen Zahlen nahmen in den beiden Durchgängen der letzten Wahlen am 17. Dezember 2022 sowie – für die Stichwahl – am 29. Januar dieses Jahres nur 11,2 respektive 11,4 Prozent der Stimmberechtigten teil.

Zuvor hatte Staatspräsident Kaïs Saïed, der seit Juli 2021 die damalige Volksvertreter-Versammlung auf unbestimmte Zeit suspendiert und faktisch Gesetzgebungsvollmachten an sich gezogen hatte, politischen Parteien verboten, Listen zu den Wahlen aufzustellen. Nur Einzelpersonen konnten antreten.

Da auf diese Weise die politische Zugehörigkeit und Programmatik der Kandidaten und (wenigen) Kandidatinnen den meisten Stimmberechtigten schleierhaft blieb, war das Desinteresse groß. Wer überhaupt wählen ging, tat dies oft als "staatsbürgerlichen Akt", um eine Zustimmung zu Präsident Saïeds Regierungsstilen und seinen Plänen auszudrücken und nicht aufgrund des Wahlprogramms der künftigen Abgeordneten.

Verhaftungen durch "Robocop"

Doch die Liste der Gründe der Abwesenheit von Beachtung für das frisch gewählte Parlament geht noch weiter. Dessen erste Sitzung wurde am 13. März eröffnet. Doch von der Eröffnungssitzung waren Medien ausgeschlossen, mit Ausnahme des Staatsfernsehens und der offiziellen Nachrichtenagentur TAP.

Journalistinnen und Journalisten protestierten dagegen. Und ein Abgeordneter des frisch gewählten Parlaments wurde gleich bei der Eröffnungssitzung noch im Saal verhaftet. Ihm wird die Benutzung gefälschter Dokumente vorgeworfen.

Da dieses Parlament zum ersten Mal zusammentrat, ist es schlichtweg unmöglich, dass es zuvor – wie man es in einer Demokratie erwarten musste – über die eventuelle Aufhebung der Immunität seines Mitglieds abstimmen konnte.

Verhaftet worden waren seit Anfang Februar dieses Jahres eine Reihe weiterer politischer Akteure. Das Spektrum reicht von der eher sozialdemokratischen Partei Ettatakol bis zur islamistischen Formation En-Nahdha, über Gewerkschafter und den Leiter des Rundfunksenders Radio Mosaïque, Noureddine Boutar.

Vor kurzem ließ Staatspräsident Saïed, dessen Spitzname schon zur Zeit seiner Wahl (2019) "Robocop" lautete, ferner die früheren gewählten Kommunalparlamente und -regierungen am 09. März 2023 per Dekret auflösen und ersetzte sie auf unbestimmte Zeit durch von oben eingesetzte "Exekutivdelegationen", also ernannte Verwalter.

Ähnlich hatte etwa in Frankreich das Vichy-Regime im Jahr 1940 oder die damalige algerische Militärregierung im Jahr 1992 agiert.

Der "Retter" aus der Krise, der alles Richtung autoritärer Staat dreht

Der frühere Verfassungsrechtsprofessor und jetzige Staatspräsident Kaïs Saïed wurde im Oktober 2019 in Tunesien gewählt, vor dem Hintergrund einer politischen Krise, die aus der Diskreditierung der seit dem Umbruch von 2011 und dem damaligen Sturz des langjährigen Diktators Zine el-Abidine Ben ‘Ali (an der Macht seit 1987) regierenden Parteien und ihrer sozio-ökonomischen Bilanz.

Seitdem hat sich einerseits die ökonomische und soziale Krisensituation im Lande zugespitzt, zumal die Tourismusindustrie, die einen der stärksten Wirtschaftszweige in Tunesien neben der Textilindustrie und den Zulieferern für den europäischen Automobilsektor bildet, durch die Corona-Krise schwer gebeutelt wurde. Zum anderen hat Saïed, in Antwort darauf, autoritäre Maßnahmen auf allen Ebenen eskaliert.

Doch wenn dies nicht ausreicht, um durchregieren zu können und ein Minimum an Unterstützung dafür zu bekommen, bleibt noch die willkommene Möglichkeit, Ablenkung, etwa durch rassistische Kampagnen und das Schüren von Pogromstimmung zu erzeugen. Solches kennt man ja auch aus zur Genüge aus Ländern in anderen Weltgegenden.

Hetze gegen Migranten und Vorlagen für Rechtsextreme

"Horden von illegalen Migranten" verübten "Gewaltakte, Verbrechen und unakzeptable Taten". Sie seien im Lande, um gezielt die "demografische Zusammensetzung" der Gesellschaft zu verändern und um ihm seinen ethnisch-religiösen Charakter zu nehmen. Dafür fließe "viel Geld aus dem In- und Ausland", von namentlich nicht bezeichneten Lobbygruppen.

Der so spricht, ist kein Rechtsextremer aus einem europäischen Land, auch wenn es inhaltlich natürlich gepasst hätte, sondern wiederum Kaïs Saïed, aus Anlass der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am 21. Februar dieses Jahres.

Im Unterschied zu Angehörigen der zuvor genannten Politikerkategorie benannte er den angeblich natürlich Charakter der Gesellschaft, den man mittels einer Einwanderungs-Verschwörung abzuändern strebe, einen "arabo-islamischen".

Daran kam schnell auch Kritik im In- und Ausland auf, etwa von einer auf soziale Rechte spezialisierten tunesischen NGO.

Dennoch beeilte sich der französische Rechtsextreme Éric Zemmour, gescheiterter Präsidentschaftskandidat im April 2022 und seitdem Vorsitzender einer neu gegründeten Partei unter dem – auf die spanische Reconquista 1492 anspielenden Namen Reconquête! (R!, für "Rückeroberung!"), die Äußerungen des tunesischen Staatschefs zu begrüßen: "Hier ist es Tunesien, das dringende Maßnahmen ergreifen will, um sein Volk zu schützen. Worauf warten wir noch, um gegen den Grand Remplacement zu kämpfen?", twitterte Zemmour.

Auch wenn Worte wie "arabisch" und "islamisch" bei Herrn Zemmour ansonsten wohl eher Abscheu provozieren würden, sieht er hier nur die absolute Bestätigung der von ihm selbst in Frankreich vertretenen Thesen.

Zemmour bestritt seinen Wahlkampf 2022 an zentraler Stelle mit der These vom Grand Remplacement ("Großen Austausch" der Bevölkerung), den es umzukehren gelte – wie die früher von deutsch-völkischem Autor so benannten "Umvolkung" heute von Rechtsextremen von Frankreich über Jürgen Elsässer in Deutschland und "Identitäre" in Österreich bis zum rassistischen Attentäter vom 15. März 2019 in Christchurch, Neuseeland, bezeichnet wird.

Den heute auf dieser Seite benutzten Begriff prägte im Jahr 2010 der einschlägig bekannten Schriftsteller Renaud Camus, ein Autor, dessen Buchtitel "Tagebuch 1994" im April 2000 aufgrund antisemitischer Passagen vom Verlag zurückgezogen wurde.

In diesem Kontext bot sich die rassistische Hetze gegen subsaharische Migrantinnen und Migranten für Saïed als ein Ventil zum Ablassen gesellschaftlicher Frustrationen an.

Ihre Zahl bezifferte er auf angeblich "eine Million", während Expertinnen und NGOs von rund 25.000 in Tunesien ausgehen.

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