Sexismus-Debatte: Annalena Baerbock als ideelle Gesamt-Frau?

Richard David Precht hält Annalena Baerbock offenbar nicht für die hellste Kerze auf der Torte – das liege nicht an ihrem Geschlecht. Bild: re:publica / CC BY-SA 2.0

Richard David Prechts Kritik an der Außenministerin war hart. Er liegt falsch, denn es ist kein "Unfall", wenn sie für eine Klasse spricht. Dass ihr Geschlecht für ihn von Belang sei, ist aber eine Unterstellung.

Ja, Richard David Precht hat kein gutes Haar an Annalena Baerbock gelassen. Er denke immer: "Was für ein Unfall, dass diese Frau Außenministerin geworden ist. Die hätte doch unter normalen Bedingungen im Auswärtigen Amt nicht mal 'nen Praktikum gekriegt", sagte Precht in Ausgabe 85 des ZDF-Podcasts "Lanz & Precht". In China habe die Grünen-Politikerin versucht, mit der "moralischen Inbrunst einer Klassensprecherin" westliche Werte zu erklären.

Dass er von einem "Unfall" ausgeht, ist bedauerlich, denn sonst könnte zumindest "Klassensprecherin" eine treffende Analyse sein: Wer wie Annalena Baerbock für das "Young Global Leaders Forum" des Weltwirtschaftsforums ausgewählt wurde, spricht in der Regel tatsächlich für eine Klasse.

Insofern stellt sich auch die Frage, für wen Baerbocks Auftreten ein Unfall sein soll: Für ihre politischen Förderer, für ihre Lobby-Kontakte oder doch nur für die Wahlberechtigten, die den Grünen ihre Stimme gaben, weil Baerbock im Bundestagswahlkampf 2021 versprach, eine gute "Klimakanzlerin" zu sein, falls ihre Partei stärkste Kraft würde?

Leider nutzt Precht die Bezeichnung "Klassensprecherin" wohl tatsächlich nur als Synonym für Unreife. Als sei der Wertewesten insgesamt viel weiser – und nicht etwa beleidigt über das Schwinden seiner Macht. Dass Baerbock dafür genau die richtige Repräsentantin sein könnte, weil das Beleidigtsein in der Konkurrenz mit anderen Großmächten ganz bewusst moralisch verbrämt werden soll, darauf kommt er nicht.

Da ist diese gerade mal etwas über 40-jährige junge Frau, die in ihrem Leben noch nichts geleistet hat, und droht diesem Land, das 600 Millionen Menschen aus der Armut rausgeholt hat. Das die rasanteste wirtschaftliche Entwicklung hingelegt hat, die je ein Land auf diesem Planeten gemacht hat. Das ist doch unsagbar zum Fremdschämen.


Richard David Precht

Letzteres darf Precht natürlich, wenn ihm die nötige Staatsferne fehlt, um sich nicht für Ministerinnen oder Minister zu schämen. Davon abgesehen könnte aber auch keine Einzelperson im Alter von 60 oder 70 Jahren mit der von ihm erwähnten chinesischen Gemeinschaftsleistung mithalten.

Deutschland hat nur gut 83 Millionen Einwohner; gut 14 Millionen gelten als arm; Tendenz steigend. Das ist kein Unfall, sondern geht auf politische Entscheidungen zurück. Baerbock kann unter anderem vorgeworfen werden, dass sie zum Establishment einer Partei gehört, die das Verarmungsprogramm der Agenda 2010 mitbeschlossen hat – allerdings vor ihrer Parteikarriere, denn als sie 2005 den Grünen beitrat, waren die "Arbeitsmarkt- und Sozialreformen" schon in Kraft getreten.

In diesem Punkt ist Baerbock durch ihr vergleichsweise junges Alter sogar persönlich weniger belastet als ältere Parteifreunde von Rang und Namen, die in der ersten "rot-grünen" Bundesregierung eine Rolle spielten. Das ist aber auch nicht so wichtig, denn eine Außenministerin repräsentiert nie nur sich selbst. Insofern war Prechts Äußerung wenig durchdacht. Ob es uns passt oder nicht: Die Klassensprecherin repräsentiert formell Deutschland.

Aber geben all diese Precht-Zitate den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit her? Zeigen sie "männliche Arroganz und Überheblichkeit", wie Baerbocks Parteifreundin Renate Künast in einem Tweet meint?

Dieser und andere Tweets voller Empörung wurden auch gleich vom Tagesspiegel aufgegriffen. "Dürfen Männer jetzt wieder so über Frauen sprechen? Voller Verachtung und Selbstgerechtigkeit?", fragte der Zeit-Journalist Bernd Ulrich.

Sie sind nicht irgendeine Frau und irgendein Mann

Geschlechtsneutral formuliert, müsste die Frage lauten: "Dürfen Medienschaffende so über politisches Spitzenpersonal reden?" – Aber genau so wollen sie manche Menschen, die Baerbocks China-Politik gut finden, lieber nicht stellen. Denn dann müssten wir über Meinungs- und Pressefreiheit reden.

Baerbock ist nicht einfach irgendeine Frau und Precht ist nicht irgendein Mann. Sie hat als Außenministerin deutlich mehr Macht als die durchschnittliche Frau – und Precht hat als Publizist deutlich mehr Reichweite als Otto-Normal-Twitterer.

Er muss dementsprechend auf seine Wortwahl achten. Sie muss aber als Spitzenpolitikerin grundsätzlich aushalten, dass ihre Arbeit vor einer breiten Öffentlichkeit bewertet wird – und nicht immer nur positiv. Das ist der Preis der politischen Macht außerhalb von Diktaturen. Für Frauen wie für Männer.

Insofern macht es sich auch die SPD-Politikerin Sawsan Chebli sehr einfach, wenn sie in einem Tweet über Precht schreibt: "Er ist ein eitler Mann, der nach Aufmerksamkeit sucht und es scheinbar nicht erträgt, dass eine starke Frau mit klarem Profil deutsche Außenministerin ist."

"Normale Umstände" sind kein Wunschkonzert

Berechtigt ist aber die Frage, was die von Precht erwähnten "normalen Umstände" sein sollen – ideale Umstände sind es sicher nicht. In der deutschen Parteienlandschaft setzt sich seit vielen Jahren Spitzenpersonal durch, das den Gang zur Wahlurne nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig macht. Woher sollte also eine gute Außenministerin oder ein guter Außenminister kommen – und wer soll die Qualitätsmerkmale festlegen, wenn die meisten Menschen, die in Deutschland vom Wahlrecht Gebrauch machen, ebendiese Parteien wählen?

Praktikantinnen und Praktikanten sollten jedenfalls im Durchschnitt nicht über 40 sein, denn in diesem Alter hätten die meisten Menschen doch gern ein weniger prekäres Arbeitsverhältnis. Der durchschnittliche deutsche Macho würde eine Frau in diesem Alter vielleicht eher nicht als jung bezeichnen, aber geschenkt. Precht ist schließlich Philosoph und geht auf die 60 zu.

Wahrscheinlich liegt es weder am Alter noch am Geschlecht: Precht scheint Baerbock einfach nicht für die hellste Kerze auf der Torte zu halten. Er spricht ihr Lebenserfahrung, interkulturelle Kompetenz und jedes diplomatische Geschick ab.

Mutmaßung statt inhaltlicher Gegenargumente

Ist es nun sehr unwahrscheinlich, dass er so auch über einen knapp über 40-jährigen Mann mit ähnlichem Lebenslauf gesprochen hätte, der in China exakt so aufgetreten wäre?

Precht hat genau das betont, nachdem Markus Lanz erwidert hatte, er sehe das Geschlecht und den Umstand, dass Baerbock "vielleicht noch relativ unerfahren" sei, nicht als Argument:

Also die Tatsache, dass sie eine Frau ist, ist hier völlig irrelevant, ich hätte das auch gesagt, wenn ein 40 Jahre alter Mann das gewesen wäre


Richard David Precht

Viele, die sich nun bei Twitter über Prechts Aussagen empören, scheinen trotzdem fest davon auszugehen, dass er über einen männlichen Außenminister in diesem Fall freundlicher geredet hätte. Den Beweis dafür bleiben sie schuldig. Precht kann die Unterstellung aber auch nicht widerlegen – sie dient manchen Baerbock-Unterstützern einfach als Platzhalter für sachliche Gegenargumente.

Die Außenministerin scheint in diesen Kreisen als ideelle Gesamt-Frau zu gelten – Kritik an ihr kann dann einfach nur sexistisch gemeint sein. Schließlich beruft sie sich auf "feministische Außenpolitik" – was sie bei Bedarf nicht hindert, bei Nato-Partnern wie der Türkei auch mal über frauenfeindliche Politik hinwegzusehen und gut Wetter zu machen, wenn es geopolitisch opportun ist.

Dass es auch jede Menge sexistische Anfeindungen gegen Baerbock und andere Grünen-Politikerinnen gibt, ist unbestreitbar. Die kommt aber in der Regel aus rechten Kreisen. Im Fall der Grünen-Chefin Ricarda Lang ist es besonders häufig reines Bodyshaming, das es gegen dicke Männer in dieser aggressiven Form selten gibt.

Manche Äußerungen über Baerbock bewegen sich in einer Grauzone: Manche "Kritiker", die gern über Äußerlichkeiten herziehen, nehmen es als Steilvorlage, dass sehr viel Geld aus Steuermitteln für ihr Make-up und ihre Stylistin ausgegeben wird – nach Medienberichten im ersten Regierungsjahr 137.000 Euro.

Ansonsten gibt es aber auch jede Menge inhaltliche Kritik an Grünen-Politikerinnen und ihrer Partei. Übrigens auch von Frauen, die sich mehr waldgrüne Politik statt olivgrüner Nato-Rhetorik wünschen.

Männer dürfen aber grundsätzlich genauso verärgert sein, wenn politische Spitzenkräfte einen Großteil ihrer Wahlversprechen brechen und dann auch noch Großmachtambitionen nach außen tragen.

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