131 Dollar für einen toten Afghanen
Entschädigungszahlungen des US-Militärs: Eine weitere Verhöhnung der Kriegsopfer - und des gesamten Landes. Kommentar
In den vergangenen fünf Jahren hat das US-Militär rund zwei Millionen Dollar für Entschädigungszahlungen in Afghanistan aufgewendet. Diese betrafen hauptsächlich Familien, die Opfer von US-Operationen geworden sind. Doch abgesehen davon, dass das Gesamtausmaß des "Krieges gegen den Terror" weiterhin ignoriert wird, ist dieses Blutgeld lediglich eine weitere Verhöhnung der Kriegsopfer - und des gesamten Landes.
Seit Ende 2001 führen die Vereinigten Staaten ihren "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan. Mittlerweile spricht man vom längsten Krieg des US-Imperiums. Es handelt sich hierbei um einen Krieg, den man verloren hat. Heute, im Jahr 2020, scheiden nämlich jene radikalen Taliban-Kämpfer, die man einst auslöschen wollte, als Sieger aus.
Nach fast zwei Jahrzehnten war Washington gezwungen, mit den Taliban am Verhandlungstisch zu sitzen - und zwar auf gleicher Augenhöhe. Man kann dies als Appeasement bezeichnen. Menschenrechte, die Bildung von Frauen, Demokratie? All dies wurde über Bord geworfen, nicht wahr? Doch wer die Situation in Afghanistan aufmerksam verfolgt, kann nur von Realismus sprechen.
Um besagte Werte ging es ohnehin nie. Ansonsten hätten sich die USA und ihre Verbündeten nicht mit reaktionären Warlords und Drogenbossen verbündet, um die Taliban zu entmachten. Der Sprung nach vorne ist Washingtons Verbündeten in zwei Jahrzehnten nicht gelungen. Heute werden zahlreiche Gebiete des Landes von den Taliban kontrolliert, während zahlreiche weitere Gebiete als "umkämpft" gelten.
Konkret bedeutet dies, dass sie komplett in die Hände der aufständischen Extremisten fallen würden, falls Washington seine Truppen abziehen und Kabul nicht mehr unterstützen würde.
Kabul: Extrem hohe Armut und Kriminalitätsrate
Währenddessen herrscht in der Hauptstadt eine extrem hohe Armut und Kriminalitätsrate. Die absolute Mehrheit des Landes lebt von rund einem Dollar pro Tag und wenn von Kriminellen die Rede ist, sind nur nur brutale Straßenbanden gemeint, die schon seit langen für etwas Bargeld und Handys morden, sondern vor allem die korrupten Netzwerke innerhalb der Regierung, die sich in den letzten Jahren massiv bereichert haben.
Der Gipfel der Ungleichheit wurde allerdings abermals durch das Handeln der Amerikaner deutlich. In der vergangenen Woche berichtete nämlich die Washington Post, dass in den letzten fünf Jahren rund zwei Millionen Dollar an Entschädigungszahlungen seitens der US-Militärs geflossen seien.
Betroffen waren vor allem die Opfer von Militäroperationen, allen voran Luftangriffen, und deren Familien. Konkret ist hier die Rede von Beträgen zwischen 131 und 40.000 US-Dollar. Richtig gelesen. Obwohl hier keine näheren Details bekannt sind, besteht durchaus die Möglichkeit, dass für einen oder gar mehrere getötete Afghanen eine "Entschädigung" von 131 US-Dollar, rund 110 Euro, gezahlt wurde.
In einer Zahlungsliste, die die Zeitung dank des Freedom of Information Act erhielt und veröffentlichte, lässt ein solcher Betrag nicht finden. Entschädigungszahlungen ("Condolence Payments") liegen in vielen Fällen bei 3.024 US-Dollar. Allerdings gibt es auch mehrere Fälle, in denen Beträge zwischen 658 und 1.000 US-Dollar an Opferfamilien ausgezahlt wurden. Oftmals liegen die Kosten für Reparaturzahlungen ("Battle Damage Repair") sogar höher als jene für menschliche Verluste.
Im Großen und Ganzen kann man diesbezüglich ohnehin nur von einem Blutgeld sprechen. Das Gesamtausmaß amerikanischer Kriegsverbrechen in Afghanistan lässt sich mit ein paar Millionen Dollar weder verdrängen noch vergessen.
In fast zwei Jahrzehnten wurden seitens des US-Militärs, der CIA und ihren Verbündeten viele unschuldige Afghanen getötet. Wie viele es genau gewesen sind, weiß niemand, weil man sie kaum gezählt hat. Seit 2009 zählen die Vereinten Nationen zivile Opfer in Afghanistan. In den UNAMA-Berichten, die alle drei Monate veröffentlicht werden, fokussiert man sich auf alle Kriegsparteien.
In den allermeisten Fällen wird die Hauptschuld allerdings auf die Afghanen selbst abgewälzt. Sowohl die Taliban als auch die afghanischen Sicherheitskräfte wurden stets für die meisten Opfer verantwortlich gemacht. In der Vergangenheit sorgte dies für Kontroversen.
Afghanistans Ex-Präsident Hamid Karzai warf UNAMA des Öfteren vor, einseitig und im Interesse "der UN als westliche Institution" zu handeln. Er behauptete immer wieder, dass die Angriffe der NATO - etwa klassische Bombardements, Drohnen-Angriffe oder nächtliche Spezialeinsätze - im Schatten der Öffentlichkeit weitaus mehr Zivilisten töten als bekannt.
Testgelände für alle möglichen Waffen
"Die meisten Menschen, die diesen Bericht erstellen, sitzen in Kabul und sind kaum in jenen Gebieten, die vom Krieg am meisten betroffen sind, zugegen", kritisierte Waheed Mozhdah, ein mittlerweile verstorbener politischer Analyst aus Kabul. "Es fehlt weiterhin an Transparenz", so Mozhdah. Hinzu kommt natürlich, dass die UNAMA-Zählungen fast ein Jahrzehnt nach Beginn des Krieges aufgenommen wurden. Wie viele Afghanen in diesem Zeitraum getötet wurden, lässt sich nur schwer rekonstruieren.
Realistische Entschädigungszahlungen würden wohl in die Milliardenhöhe gehen. Aktuell gehört Washington zum wichtigsten Geldgeber der Kabuler Regierung, doch all die Milliarden, die jährliche an korrupte afghanische Eliten fließen, haben gewiss nichts mit jenen Entschädigungen zu tun, die dem "einfachen Volk", sprich, mehr als neunzig Prozent der Afghanen zustehen.
Konkret geht es hier nicht "nur" um Kriegsverbrechen, sondern um das verheerende Gesamtausmaß des Krieges. In den letzten Jahren wurden über dem Land so viele Bomben abgeworfen wie noch nie zuvor. Das Land wurde zu einem Testgelände für alle möglichen Waffen. 2017 detonierte die sogenannte "Mutter aller Bomben", die größte nicht-nukleare Bombe des US-Militärs, in der Provinz Nangarhar.
Bis heute weiß niemand, wie viele Menschen ihr zum Opfer gefallen sind. Fakt ist mittlerweile allerdings, dass weite Landstriche verseucht wurden und sich Krankheiten, die mit dem Bombenabwurf direkt in Verbindung stehen, ausbreiten.
Nach zwei Jahrzehnten ist Afghanistan in jeglicher Hinsicht abhängig und liegt wirtschaftlich vollkommen brach. Die afghanische Diaspora gehört zu den größten der Welt. Geflüchtete leben nicht nur in Europa, sondern in erster Linie in Ländern wie Iran und Pakistan. Mehrere Generationen kennen nichts anderes als den Krieg in ihrer Heimat.
Es gibt gewiss keinen Betrag auf der Welt, der all das entschädigen kann. Dass die Familien getöteter Afghanen allerdings mit wenigen hundert oder tausend Dollar abgespeist werden, macht lediglich ein weiteres Mal deutlich, dass man von jenen Mächten, die Afghanistan Demokratie und Freiheit bringen wollten, nichts erwarten darf - lediglich Zynismus und Verhöhnung.