Reinwaschung des Westens?
Kritik am UN-Bericht über die zivilen Opfer in Afghanistan
Die jüngst erschienen Zahlen der Vereinten Nationen zu den zivilen Opfern in Afghanistan erscheinen schockierend. Demnach wurden im Jahr 2015 mindestens 11.002 Menschen am Hindukusch verletzt oder getötet. Diese Tendenz war schon im Halbjahr 2015 vorhersehbar, als man noch von über 5.000 Opfern ausging.
Der Bericht von UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) ist nun zum sechsten Mal in Folge erschienen und enthält die höchste Anzahl von zivilen Opfern seit Beginn der Zählung.
Hauptverantwortlich für den blutigen Alltag werden vor allem aufständische Gruppierungen, allen voran die afghanischen Taliban, gemacht. Laut UNAMA gehen zweiundsechzig Prozent aller Opfer auf ihr Konto. Für die restlichen Opfer werden die afghanische Armee, Polizeikräfte, regierungstreue Milizen sowie Akteure, die keiner der Kriegsparteien zuzuordnen sind, verantwortlich gemacht. Den NATO-Kräften vor Ort wird nur ein extrem minimaler "Kollateralschaden", nämlich ganze zwei Prozent, zugerechnet.
Besonders kriegerisch war es im vergangenen Jahr im Norden des Landes. Dies wurde allen voran durch die zeitweilige Eroberung der Hauptstadt der Provinz Kunduz durch die Taliban deutlich. In diesem Kontext wurde allerdings auch klar, dass Zivilisten nicht nur durch die Extremisten zu Schaden kommen, sondern eben auch durch die afghanische Armee. "Hier schert sich keine Seite um uns", waren damals die prägenden Worte eines Einwohners der Stadt.
Auch der US-Angriff auf das MSF-Krankenhaus in Kunduz, der international für Schlagzeilen sorgte, wurde seitens der Regierungsstreitkräfte erwünscht, indem behauptet wurde, Taliban-Kämpfer befänden sich im Gebäude. Das Kriegsverbrechen wurde auch im Nachhinein von führenden afghanischen Politikern relativiert oder gar verteidigt.
Besonders zugenommen hat die Opferrate im Fall von Frauen und Kindern. Demnach waren elf Prozent der Gesamtopfer im Jahr 2016 Frauen, was einem Anstieg von vier Prozent im Vergleich zu 2014 darstellt. Währenddessen machten sechsundzwanzig Prozent der Opfer Kinder aus, was einem Anstieg von vierzehn Prozent entspricht. Ergo ist im Durchschnitt jedes vierte zivile Opfer in Afghanistan ein Kind.
"Das Leid, welches Zivilisten zugefügt wird, ist absolut inakzeptabel", meinte Nicholas Haysom, UN-Sondergesandter für Afghanistan, in Bezug auf den Bericht. Des Weiteren rief er die Konfliktparteien dazu auf, 2016 mehr auf Zivilisten zu achten.
Wie in jedem Jahr gaben sich auch dieses Mal die Taliban mit dem Bericht nicht einverstanden und warfen der UN Einseitigkeit vor. Laut der Gruppierung wurden viel mehr Zivilisten von NATO-Bomben und der afghanischen Armee, die von westlichen Staaten gefördert wird, getötet, als bisher bekannt. Obwohl die Kritik der Taliban besonders zynisch erscheint - dass durch deren Angriffe zahlreiche Zivilisten getötet wurden, liegt nämlich auch ohne UNAMA-Bericht auf der Hand -, steht sie tatsächlich nicht nur seitens der Extremisten im Raum.
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Andere Akteure und Beobachter kritisieren etwa den UNAMA-Bericht seit Jahren. Afghanistans Ex-Präsident Hamid Karzai warf UNAMA des Öfteren vor, einseitig und im Interesse "der UN als westliche Institution" zu handeln. Er geht weiterhin davon aus, dass die Angriffe der NATO - etwa klassische Bombardements, Drohnen-Angriffe oder nächtliche Spezialeinsätze - im Schatten der Öffentlichkeit weitaus mehr Zivilisten töten als bekannt. "Die meisten Menschen, die diesen Bericht erstellen, sitzen in Kabul und sind kaum in jenen Gebieten, die vom Krieg am meisten betroffen sind, zugegen", kritisiert auch Waheed Mozhdah, ein politischer Analyst aus Kabul. "Es fehlt weiterhin an Transparenz", fügt Mozhdah hinzu.
Vor kurzem wurde ein weiterer Fall bekannt, bei dem durch einen US-amerikanischen Drohnen-Angriff im vergangenen Jahr vierzehn Zivilisten in der östlichen Provinz Khost getötet wurden. Die Nomaden wollten ursprünglich an einer Beerdigung teilnehmen. Kurz darauf hieß es seitens Politiker und Medien - wie gewohnt -, dass Taliban-Kämpfer, die angeblich die Beerdigung eines ihrer Kommandanten besuchen wollten, getötet worden seien. Eine nun veröffentlichte, ausführliche Recherche des Bureau of Investigative Journalism (TBIJ), einer in London ansässigen Journalisten-Gruppe, machte deutlich, dass an der offiziellen Version erheblich zu zweifeln ist. Der besagte Kommandant etwa lebt heute noch.
Zehntausende von Zivilisten starben in Frühphase des "Krieges gegen den Terror"
Im Zentrum der Kritik an UNAMA steht unter anderem auch die Tatsache, dass die Zählung erst seit 2009 erfolgt. Der Krieg in Afghanistan herrscht allerdings schon seit Ende 2001. Vor allem in den ersten Jahren tobte dieser Krieg seitens der westlichen Akteure am heftigsten - und tötete dementsprechend. Die damaligen Bombardements, die Zehntausenden von Zivilisten das Leben kosteten, sind mit jenen der letzten Jahre kaum zu vergleichen. Es war immerhin die Frühphase des sogenannten Krieges gegen den Terror.
Abgesehen vom späten Beginn der Zählung ist allerdings auch die Methodik von UNAMA fragwürdig. Laut der Organisation sind mindestens drei verschiedene Quellen für die Bestätigung eines einzelnen Falles nötig. In den kriegerischsten Regionen Afghanistans sind allerdings kaum Journalisten und Menschenrechtler vor Ort. Auch die Berichterstattung lässt in vielen Punkten zu wünschen übrig.
So ist unter anderem kaum bekannt, wer von US-amerikanischen Drohnen-Angriffen getötet wird. Regelmäßig ist von "mutmaßlichen Extremisten" die Rede - und dabei bleibt es auch. Selbiges betrifft die geheimen Spezialeinsätze der US-Armee, die Nacht für Nacht im Schatten der Öffentlichkeit stattfinden und denen in der Vergangenheit schon Zivilisten zum Opfer fielen. Meist wurden solche Fälle nur mühsam von investigativen Journalisten aufgedeckt - von der UN fehlte währenddessen jegliche Spur. Dies ist nur einer von vielen Gründen, warum die Dunkelziffer bezüglich ziviler Todesopfer in Afghanistan deutlich höher sein dürfte.
Der Bericht hebt auch die Tatsache hervor, dass eine starke Abwesenheit der internationalen Truppen in Afghanistan besonders bezeichnend für das Jahr 2015 gewesen ist. Auch in den Berichten der vergangenen Jahre wurden den westlichen Streitkräften deutlich weniger zivile Opfer angelastet als dem Rest der Akteure - sprich, den Taliban oder der afghanischen Armee. Die Botschaft könnte man demnach wie folgt interpretieren: Seht her, die Afghanen bringen sich gegenseitig um. Wir machen doch fast gar nichts.
Dies mag womöglich etwas überspitzt und provokant klingen, wird allerdings von vielen afghanischen Kritikern genau auf diese Art und Weise wahrgenommen und macht vor allem auch die Sichtweise von Personen wie Hamid Karzai deutlich.
Tatsächlich sollte nicht vergessen werden, warum in Afghanistan bis zum heutigen Tage immer noch ein derartiges Blutvergießen herrscht - und wie es seinen Anfang nahm. Wie im 19. oder 20. Jahrhundert ist das Land am Hindukusch seit den 1970ern im Fokus externer Interessen, die allesamt aufeinander prallen und die gegenwärtige Situation hervorgebracht haben. Jene afghanischen Akteure, die laut UNAMA gegenwärtig für das meiste Blutvergießen verantwortlich sind, sind nicht von heute auf morgen plötzlich in Erscheinung getreten. Abgesehen davon, und das ist ein besonders wichtiger Punkt, gibt es keine Waffen "Made in Afghanistan". Den Rest dieses Gedankens sollte jeder fortführen können.