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19 oder 7 Prozent: Weg mit dieser Mehrwertsteuer!

Anlässlich der Bundestagswahl im September hier ein Vorschlag für ein rationales, demokratisches sowie lenkendes Mehrwertsteuer-System im Sinne des Wohles von Mensch und Natur...

Alle Jahre wieder wird eine neue Sondersteuer in der bundesdeutschen Öffentlichkeit diskutiert, die man doch auf Produkte erheben sollte, die Menschen, der Natur oder den Tieren schaden.

Immer wieder ploppt irgendwo ein Skandal auf und prompt folgen nach dem Schnellschuss-Prinzip einer überbeschleunigten Aufmerksamkeitsgesellschaft einzelne mehr oder weniger durchdachte solcher Forderungen etwa nach "Extra-Steuern", "Sondersteuern", "Strafsteuern" oder einer wahlweise reduzierten oder erhöhten Mehrwertsteuer auf einzelne Güter oder Dienstleistungen.

Die eine und der andere wird sich erinnern, wenn hier einige Beispiele für solche diskutierten Sondersteuern aufgelistet werden. Diese sollten, hieß es in der Vergangenheit immer wieder, doch bitte erhoben werden für:

Auch wenn es zu begrüßen ist, den Konsum einzelner Güter steuerlich zu verteuern oder günstiger zu machen, ist es zum Verzweifeln, mit ansehen zu müssen, wie die allermeisten Berufspolitiker:innen des Landes sich mit solchen nicht zu Ende gedachten, aus den Fingern gesogenen Forderungen und Wahlkampfthemen im Klein-Klein verlieren. Anstatt mit mutigen Visionen und Konzepten voranzugehen, wie man denn nun zu neuen Möglichkeiten kommen kann, die Gesellschaft zu ändern und grundlegende Defizite des marktwirtschaftlichen Systems zu beheben.

Die organisch gewachsene Mehrwertsteuer heute

Die Mehrwertsteuer heißt in Deutschland offiziell Umsatzsteuer und ist eine sog. Verbrauchssteuer, wird also beim Kauf von Gütern oder Dienstleistungen erhoben. Sie besteht in Deutschland in zwei Abstufungen: einem Normalsatz von 19 Prozent und einem reduzierten Satz von sieben Prozent.

Der Sinn dieser Abstufung liegt unter anderem darin, dass der Konsum essenziell wichtiger Güter wie etwa von Lebensmitteln weniger vom Einkommen abhängig sein soll. Bekanntlich sind Nahrungsmittel, aber auch Bücher/Zeitschriften, ebenso wie ÖPNV-Fahrten mit dem reduzierten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent versehen.

Es gibt zudem einige erwähnenswerte Ausnahmen [1] mit abweichenden Steuersätzen, etwa für medizinische Produkte, Wissenschaft und Bildung, einige Bereiche in Kultur und Sport. In diesen Bereichen wird keine Mehrwertsteuer erhoben. Auf der anderen Seite gibt es einen Wildwuchs von "kleinen" Sondersteuern, die zusätzlich auf Konsumgüter wie z.B. Sekt oder andere Alkoholika, Benzin oder Luxusartikel erhoben werden (Schaumweinsteuer, Brandweinsteuer, Kaffeesteuer, Benzinsteuer usw.).

Einige Abstrusitäten haben sich in das Mehrwertsteuersystem eingeschlichen, wenn Gewürze beispielsweise je nach Art und Mischung mal reduziert, mal mit der vollen Steuer versehen sind. Des Weiteren gibt es absurde Ausnahmen für Schnittblumen (7 Prozent) und Pferde (7 Prozent). Esel hingegen müssen mit 19 Prozent versteuert werden [2].

Weiterhin nicht sinnvoll ist, dass Schweinefleisch aus schlimmer Massentierhaltung mit De-Facto-Sklavenarbeit hergestellt, einen reduzierten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent hat, während eine Öko-Süßkartoffel mit 19 Prozent versteuert werden muss.

Warum das alles so ist? Man sollte lieber nicht nachfragen. Fakt ist, dass diese Steuer mit einem Anteil am gesamten Steueraufkommen mit knapp einem Drittel [3] eine der wichtigsten Steuern in der Bundesrepublik ist und daher mehr Aufmerksamkeit verdient.

International wird die Mehrwertsteuer, also die Verbrauchersteuer, die Konsument:innen beim Kauf von Produkten oder Dienstleistungen entrichten müssen, überaus unterschiedlich gehandhabt. Insbesondere bestehen riesige Unterschiede bezüglich der Höhe jener Steuer [4].

Häufig bestehen innerhalb von Nationalstaaten abgestuften MwSt.-Sätze für unterschiedliche Produktkategorien - und oder es existieren regional unterschiedliche Sätze. Ein vollständig organisiertes politisch-wissenschaftliches System aber, nach dem diese Steuersätze in regelmäßigen Abständen für die Bürger:innen transparent verändert und neu festgelegt werden, scheint es aber weltweit noch nicht zu geben.

Lenkungsfunktion, dort, wo der Markt versagt

In welchen Bereichen ist eine Lenkung des Marktes notwendig? Dort, wo der Markt versagt - also in fast allen Bereichen könnte man zu sagen versucht sein. Auf der anderen Seite wird auch immer wieder betont, die Konsumentscheidungen der Verbraucher [5] hätten das Potenzial, die Welt zu verändern (Lenkung durch Konsum wird auch Verbraucherpolitik genannt [6]).

Aber reicht es aus, wenn einige Menschen bewussten Konsum betreiben, eine Mehrheit das aber nicht oder nur kaum tut?

Regulierung

Nein, es bedarf ganz offensichtlich einer Regulierung für eine wirkungsvolle politische Lenkung. Das sehen inzwischen sogar die lobbydurchsetzten [7] Polit-Eliten der Bundesrepublik ein, die just in diesem Jahr 2021 das sogenannte Lieferkettengesetz beschlossen haben. Verwässert [8], aber immerhin beschlossen.

Eine lenkende Mehrwertsteuer sollte in diesem Sinne nicht als Ersatz für Regulierung gesehen werden, sondern als Ergänzung, um auch die Konsumseite effektiv in den Fokus zu rücken. Dies ist insbesondere deshalb keine schlechte Idee, zumal das Lieferkettengesetz recht kurz greift und unendlich viele Ausnahmen enthält für Unternehmen und Produkte, für die es nicht gilt.

Worum es in diesem Artikel gehen soll, ist der Vorschlag, die Festlegung der Mehrwertsteuer 1. entlang von vier anstatt nur zwei Hauptstufen mit einer größeren Spannweite festzulegen und 2. eine Klassifizierung von verschiedenen Produkten und Dienstleistungen von einer unabhängigen Kommission vornehmen zu lassen, welche Produkte, wie hoch besteuert, werden sollen.

Es bedarf einer unabhängigen Kommission

Lassen wir uns einmal auf ein Gedankenexperiment ein: Festgelegt werden sollen die MwSt.-Sätze zukünftig von einer Kommission. Natürlich sollte die Kommission unabhängig sein und nicht aus ausschließlich konformen Staats- und Regierungsdiener:innen bestehen (wie z.B. die KEF [9] zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten).

Sinnvoll wäre eine Mischung aus ausgelosten Bürgern und Wissenschaftler:innen. Vorschlag: Sie soll bestehen aus nach dem Zufallsprinzip ausgewählten 30 Wissenschaftler:innen verschiedener natur- sozial- und geisteswissenschaftlicher Fachrichtungen sowie jeweils 15 zufällig ausgewählten Bürger:innen und Vertreter:innen von Nichtregierungsorganisationen. Die Kommission soll öffentlich tagen und namentlich abstimmen - für die maximale Transparenz alles live übertragen im Fernsehen und im Internet.

Die Kommission arbeitet mit Ausschüssen und Arbeitsgruppen und tagt wie eine Art Mini-Parlament. Sie diskutiert jeweils über den Zeitraum eines Jahres und legt per Mehrheitsentscheiden die Steuersätze von Produkten für den Zeitraum des nächsten Jahres fest - orientiert an den Zielen der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung [10].

Die in der Kommission vertretenden Personen werden von ihren Arbeitsstellen für den Zeitraum des Jahres bezahlt freigestellt. Sie wird dann im nächsten Jahr durch eine nachfolgende Kommission ersetzt, wobei dieses Rotationsprinzip verhindern soll, dass Strukturen entstehen, in deren Rahmen Zwischenabsprachen, Einflussnahme von Außen oder sogar Korruption entstehen können.

Insbesondere in Zeiten, in denen verstärkt über die demokratische Legitimation des politischen Systems diskutiert und gestritten wird, sollten innovative Ideen wie das in diesem Artikel vorgestellte Konzept ausprobiert werden. Bisher gibt es weltweit wohl keine Erfahrungen mit einer solchen vorgeschlagenen Kommission, aber es wäre einen Versuch wert. Wenn sich ein solches System als nicht praktikable erweisen sollte, kann es ja wieder zu den Akten gelegt werden.

Eine bessere Mehrwertsteuer muss her

Die Festlegung darauf, welche Güter und Dienstleistungen mit dem hohen (19 Prozent) und welche nach dem niedrigen (7 Prozent) Mehrwert-Steuersatz versehen sind, erscheint in Deutschland zum heutigen Stand ziemlich willkürlich und die Kriterien werden nicht klar kommuniziert.

Neben dem bereits bestehenden sozialen Entscheidungskriterium (Grundnahrungsmittel sollen für ärmere Menschen billig sein) sollten aber noch weitere Kriterien eine Rolle spielen. Etwa auf die Ökologie, die globale Gerechtigkeit oder die menschliche Gesundheit bezogene Aspekte.

Auch wenn die folgenden Vorschläge1 [11] nicht perfekt sind und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sollen sie doch aufzeigen, wie eine Produktkategorisierung für eine bessere Mehrwertsteuererhebung aussehen könnte, wie sie von der vorgeschlagenen Kommission festgelegt werden könnte.

1. Stufe: Keine Steuer für Grundbedarf entsprechend der UN-Ziele für Nachhaltige Entwicklung (zumindest ihnen nicht entgegenstehend)

2. Stufe: 15 Prozent. Normale Mehrwertsteuer für mehr oder weniger notwendige Dinge und/oder Dinge, deren Überkonsum verhindert werden soll

3. Stufe: 25 Prozent für Produkte oder Dienstleistungen, deren Konsum gering gehalten werden soll, da ihre Herstellung und oder Verbreitung gesamtgesellschaftlich hohe externe Kosten erzeugen, zu sozialer Ungerechtigkeit oder zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen beitragen.

4. Erhöhte Mehrwertsteuer von 35 Prozent für Produkte oder Dienstleistungen, deren Konsum gering gehalten werden soll, da ihre Herstellung und oder Verbreitung gesamtgesellschaftlich sehr hohe externe Kosten erzeugen, zu massiver sozialer Ungerechtigkeit oder zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen beitragen.

5. Deutlich höhere Steuern und Einzelregelungen für Produkte, deren Konsum ganz deutlich reduziert werden soll

Eine weiter Prämisse sollte sein, dass gebrauchte oder Refurbished-Artikel in die jeweils geringere MwSt.-Kategorie einsortiert werden sollten. Also würde ein gebrauchter Elektro-Kleinwagen mit 0 Prozent versteuert werden, gegenüber dem neuen Elektro-Kleinwagen mit 15 Prozent Mehrwertsteuer.

Fragen, die zu klären wären...

Es stellt sich die Frage, ob es möglich ist, alle Produkte oder Produktkategorien einzeln nach ihrer Förderwürdigkeit oder Nicht-Förderwürdigkeit zu besteuern, oder ob es vielleicht sinnvoller wäre, mit sagen wir einem Warenkorb von 500 ausgewählten Produkten zu beginnen.

Geklärt werden müsste im Vorwege auch die Trennschärfe, mit der die Produkte kategorisiert werden. Ist beispielsweise ein günstiges Baumarkt-Klappfahrrad für eine Pendlerin genau mit dem selben MwSt.-Satz zu besteuern, wie ein High-End-Kohlefaser-Sport-Rennrad "Made in Belgium" für einen Profisportler? Hier wäre es wohl sinnvoll, die Kategorien nicht allzu stark unterteilt zu wählen, so dass die Übersicht nicht verloren geht.

Eine zu grobe Eingrenzung hingegen könnte den Nachteil haben, dass das China-Billigfahrrad in unserem Beispiel, für dessen Produktion Umwelt und Menschen massiv belastet werden, einen ebenso niedrigen Steuersatz im Laden hätte, wie sagen wir ein zertifiziertes Bambus-Fahrrad aus dem fairen Handel.

Andersherum könnte eine Überregulierung zu zu vielen verwirrenden Abstufungen führen. Zum Beispiel in 30 unterschiedliche Kategorien von Fahrrädern mit jeweils unterschiedlichen Steuersätzen, bei der kein Mensch, kein Unternehmen und vielleicht nicht einmal mehr der Staat hinterher käme, diese alle auseinander zu halten.

Neue Ideen haben viele Feinde

Dieser Artikel soll einen Denkanstoß geben, ohne den Anspruch zu haben, ein wasserdichtes und sofort zu 100 Prozent umsetzbares Gesamtkonzept zu bieten.

Im Lichte der Katastrophen, in denen sich die Menschheit befindet, ist es nun an der Zeit, mit radikaleren Ansätzen zu handeln, damit eine Trendumkehr gelingen kann. Sei es wegen des anziehenden Klimawandels und der durch ihn bereits ausgelösten beginnenden Naturkatastrophen, sei es aufgrund des massiven Artensterbens auf unserem Planeten infolge des menschlichen Raubbaus und der industriellen Landwirtschaft.

Oder sei es wegen der Vermüllung der Weltmeere, der Verseuchung des Trinkwassers mit Nitrat in vielen Regionen - oder in Bezug auf die soziale Katastrophe, ausgelöst durch den globalisierten Turbo-Kapitalismus. Ein Wirtschaftssystem, das auf der einen Seite extreme Armut in den Weltmarktfabriken sowie den abgehängten Regionen der Welt zur Folge hat - und auf der anderen Seite einen verbrecherischen Reichtum einiger weniger hervorbringt und legitimiert.

Als Reaktion auf die hier gemachten Vorschläge, kommt sicherlich der Standard-Einwand aus dem politisch rechten und neoliberalen Spektrum, solche Forderungen nach ökologischem und nachhaltigem Konsum könne man sich - und könnten sich insbesondere ärmere Menschen - nicht leisten. Auch sei das alles linker Hochmut oder gar "Selbstgerechtigkeit".

Es soll hier bereits präventiv betont werden, dass die Einführung eines solchen Mehrwertsteuersystems natürlich mit flankierenden Maßnahmen und wissenschaftlicher Begleitung angegangen werden müsste. Entsprechend müssten auch Standard-Warenkörbe und Sozialhilfesätze (Hartz 4 wird ja hoffentlich bald der Vergangenheit angehören) in diesem Zuge angepasst werden.

Außerdem ist es mit dem vorgeschlagenen System viel besser möglich, echte (überflüssige) Luxusgüter wie große PKW hoch zu besteuern und fördernswerte Güter des Grundbedarfs ganz ohne Mehrwertsteuer zu belassen. Damit hat dieses System viel mehr Potenziale, sozial gerecht zu sein, als das System, das wir haben.

Ein weiterer Einwand wird sein, das Ganze sei doch viel zu bürokratisch, man brauche schlanke Lösungen (und dann werde es der Markt schon richten). Dem ist entgegenzuhalten, dass Warenwirtschaft heutzutage elektronisch abläuft und daher eine Vielzahl von Mehrwertsteuer-Kategorien durch die Systeme problemlos abgebildet werden können.

Dies hat nicht zuletzt die vorübergehend reduzierte Mehrwertsteuer während der Corona-Krise 2020 bewiesen. Zudem ist das momentan bestehende Mehrwertsteuersystem bereits sehr kompliziert und unlogisch aufgebaut, jedoch weitgehend OHNE eine nützliche Wirkung für Mensch und Natur zu entfalten.

Zum Schluss...

Der Preis ist einer der wichtigsten Entscheidungsfaktoren [12] für den Konsum von Produkten. Eine lenkende Mehrwertsteuer für einen progressiven Konsum auf allen Ebenen kann in diesem Sinne ein überaus effektives Instrument sein, um die Kaufentscheidung von Millionen von Menschen in eine ökologische und soziale Richtung zu bewegen.

Und zwar ohne, dass das Ganze allzu viele "Schmerzen" für die individuellen Bürger verursacht, da nichts verboten wird. Und ohne, dass wir alle sechs Monate über eine weitere Sondersteuer für dies oder eine Strafsteuer für jenes diskutieren müssen. Außerdem könnten wir uns endlich einiger antiquierter und wenig nachvollziehbarer Spezialsteuern wie der Kaffeesteuer aus dem 17. Jahrhundert entledigen.

Neben der politischen Regulation wie durch das Lieferkettengesetz können wir durch die vorgeschlagene Reform des Mehrwertsteuersystems zumindest auf der Konsumseite ein effektives Instrument schaffen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6124421

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.invoiz.de/welcher-steuersatz-gilt/
[2] https://www.steuern.de/mehrwertsteuer.html
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Umsatzsteuer_(Deutschland)#Entwicklung_des_Umsatzsteueraufkommens_in_Deutschland
[4] https://tradingeconomics.com/country-list/sales-tax-rate
[5] https://utopia.de/ratgeber/so-kann-bewusster-konsum-die-welt-veraendern/
[6] http://www.wirtschaftslexikon.co/d/verbraucherpolitik/verbraucherpolitik.htm
[7] https://www.lobbycontrol.de/?s=bundestag
[8] https://www.heise.de/tp/features/Lueckenhaft-und-unzulaenglich-das-neue-Lieferkettengesetz-6111728.html
[9] https://kef-online.de/
[10] https://unric.org/de/17ziele/
[11] https://www.heise.de/tp/features/19-oder-7-Prozent-Weg-mit-dieser-Mehrwertsteuer-6124421.html?view=fussnoten#f_1
[12] https://www.business-wissen.de/hb/preise-preiswahrnehmung-und-preiswirkung-auf-den-kunden/