4. November 1989: Die gescheiterte Revolution
Seite 2: Basisdemokratie in Aktion
- 4. November 1989: Die gescheiterte Revolution
- Basisdemokratie in Aktion
- Auch eine Niederlage der Westlinken
- Auf einer Seite lesen
Der Filmemacher Thomas Heise ist ein solcher Nachkomme. Er kommt aus einer Familie, für die der Antifaschismus auch in der DDR maßgeblich war. Sie rieben sich immer wieder an der autoritären Parteistruktur der SED, eine Flucht in die BRD war aber für sie kein Thema. In seinem jüngsten Film Heimat ist ein Raum auf Zeit bringt Heise in der Länge von über 3 Stunden die unabgegoltenen Utopien der DDR zur Sprache.
Es ist ein Film, in dem es eben nicht um die DDR-Dauerbrenner Stasi und Mauer geht. Hier sieht man Menschen, die täglich an den Zuständen in der DDR leiden, gerade, weil sie sie erhalten wollen. So könnte man sagen, Thomas Heise hat hier auch einen Film produziert, der den Protagonisten des 4. November Gerechtigkeit wiederfahren lässt.
Bereits vor 10 Jahren zeigte Heise in seinem Film "Material" in einer Episode, wie die SED-Basis auf dem Parteitag im Dezember 1989 den Aufstand gegen die stalinistischen Strukturen wagt. Wir sehen aufgewühlte Delegierte, teilweise sehr alt, die nicht fassen können, was aus dem Traum von einer Sache, für die sie gelebt und gelitten haben, geworden ist.
Wir sehen auch eine Basisdemokratie in Aktion, wenn die SED-Basis an dem kalten Dezembertag 1989 vor dem Parteitagsgebäude Rechenschaft fordert. Die lange unnahbare Führung musste vor den Türen Rede und Antwort stehen. Hier hätte sich eine Kooperation zwischen linken DDR-Oppositionellen und kritischer SED-Basis entwickeln können. Das war eine Tendenz des 4. November, die die BRD-Eliten nun verhindern wollte.
Daher wurden die Oppositionsdemonstrationen immer mehr zum Spießrutenlaufen für die "Wandlitzkinder", wie von rechter Seite die linken DDR-Oppositionellen gescholten wurden, die oft Kinder und Enkel von SED-Funktionären waren. Auch ihnen lässt Heises neuester Film Gerechtigkeit widerfahren. Er ist einer der wenigen, der Brechts Mahnung An die Nachgeborenen künstlerisch umsetzt:
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
Bert Brecht, An die Nachgeborenen
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.
Zweierlei Gedenken
Einen Höhepunkt im Film "Heimat ist ein Raum auf Zeit" markieren 20 Minuten, in denen Deportationslisten Wiener Jüdinnen und Juden gezeigt werden, die in die NS-Vernichtungslager geschickt werden sollten. Darunter sind einige seiner Vorfahren. Die Überlebenden gehörten zu denen, die in der SED eine neue Gesellschaft aufbauen wollten.
Hätte sich die DDR-Opposition durchgesetzt, dann wäre der 4. November ein wichtiger Gedenktag geworden. Es war auch der Tag, als vor 101 Jahren die Novemberrevolution eigentlich begann. An diesem Tag strömten die in Rostock und Lübeck erfolgreichen Matrosen in andere Teile Deutschlands, um den Aufstand zu verbreiten. Als er am 9. November Berlin erreichte, hatten in vielen anderen Städten bereits Arbeiter- und Soldatenräte die Macht übernommen.
Dann wäre der 4. November die Fortsetzung dieser Bewegung geworden. Denn es gibt eine Verbindung zwischen den Räteaufstand 1918 und der Gründung der DDR. Gebrochen zwar und deformiert durch die stalinistische Konterrevolution versuchte die DDR das umzusetzen, was sich der linke Flügel der Räte 1918 schon auf die Fahnen geschrieben hatte. Auch er sah sein Ziel nicht in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung, sondern in einer Räterepublik.
Am 9. November 1918 wurden von der SPD, die mit den gerade gestürzten alten Gewalten kooperierte, die Weichen für die blutige Unterdrückung der Rätebewegung gestellt. Tausende Ermordete im Frühjahr und Sommer 1919 in verschiedenen Teilen Deutschlands sicherten die alten Eigentumsverhältnisse ab. Die DDR war mit dem Anspruch angetreten, die unerfüllten Forderungen der Räte doch noch umzusetzen.
Wenn die DDR-Opposition gesiegt hätte, wäre mit dem 4. November auch der passende Gedenktag datiert: der Tag, an dem 1918 die Revolution sich ausbreitete. Der 9. November ist somit ein Tag der doppelten Niederlage geworden. 1918 kamen an diesem Tag die Kräfte an die Macht, die bald gegen die Revolution blutig vorgehen sollten. Und 1989 war es der Tag, als die DDR-Opposition ausgebremst wurde. Stattdessen kam die friedliche Revolution, d.h. die Übergabe der DDR an die BRD ohne nennenswerten Widerstand.