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75 Jahre Nato: Warum das kein Grund zum Feiern ist

Munition Nato-Symbol

Bild: Marek Studzinski / Unsplash Licence

In Europa hängt man sich an die Militärallianz. Dabei wird unterstellt, dass die Nato Frieden und Sicherheit garantiert. Das ist aber keineswegs so, im Gegenteil. Eine Einordnung.

Gestern wurde in westlichen Medien feierlich an 75 Jahre Nato erinnert. Tagesschau.de titelte [1]: "Nato feiert Jubiläum: Alles andere als ‚hirntot'".

Eine Anspielung an eine Äußerung vom französischen Präsident Emmanuel Macron, der die Militärallianz 2019 noch als "hirntot" bezeichnete [2]. Heute sieht er das anders und fordert robustes Engagement, sprich westliche Truppen in der Ukraine.

Das Friedensbündnis

Vor fünfundsiebzig Jahren – am 4. April 1949 – schlossen [3] die Außenminister der Vereinigten Staaten, Kanadas und zehn westeuropäischer Länder den Vertrag von Washington [4] und gründeten damit die spätere Nordatlantikvertrags-Organisation, kurz Nato.

Die Bundesrepublik kam am 9. Mai 1955 dazu. Heute sind es 32 sogenannte Mitgliedsstaaten, die der Nato angehören. Vor allem nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Ende des Warschauer Pakts und dem Zerfall von Jugoslawien kamen neue Mitglieder aus Ost- und Südosteuropa hinzu.

Von Politikern und in Medien im Westen wird dabei immer wieder erklärt [5], dass die Nato ein Friedens- und Verteidigungsbündnis sei – und nicht nur aus diesem Grund geschaffen wurde, sondern gemäß diesem Prinzip auch in den letzten Jahrzehnten agiert habe.

Trump erschreckt Europäer

US-Präsident Harry S. Truman habe das bei der Vertragsunterzeichnung 1949 stellvertretend so formuliert [6]:

Die Nationen, die das Dokument unterzeichnen, verpflichten sich den friedlichen Prinzipien der Vereinten Nationen, sie pflegen freundschaftliche Beziehungen und wirtschaftliche Kooperation, und wenn das Gebiet oder die Unabhängigkeit von einem bedroht ist, kommen sie ihm zur Hilfe.

Alle für einen, das sei laut Beistandsklausel die Leitlinie der Nato, bis heute. Umso mehr erschreckt zeigt man sich in Europa, dass 75 Jahre nach der Gründung, ein ehemaliger US-Präsident und Präsidentschaftskandidat, Donald Trump, die Allianz infrage stelle [7].

So erklärte Trump, er würde Nato-Staaten nicht zur Hilfe kommen, wenn die nicht die geforderten zwei Prozent des BIP an Militärausgaben erreichen.

Warum hängt Europa so an der Nato?

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat die Nato eine starke Aufwertung in den EU-Ländern erfahren. Ihr Ansehen und ihre Strahlkraft dringen heute selbst in gesellschaftliche Schichten vor, in denen "militärische Lösungen" und Aufrüstung früher strikt abgelehnt wurden. Insofern funktioniert der Ukraine-Krieg wie ein intellektueller Durchlauferhitzer: Das Militärische, die Nato stehen heute hoch im Kurs.

Warum aber schätzen die Europäer, zumindest die Meinungsmacher:innen, die Nato so sehr, warum hängen sie derart an der von den USA angeführten und garantierten Militärallianz? Gibt es wirklich, 75 Jahre später, Grund zum Feiern?

Russland: Militärischer Koloss oder "Papiertiger"?

Man sollte sich dabei die Annahmen anschauen, auf denen die Wertschätzung des Bündnisses ruht. Eine Kernprämisse, mit der die Existenz der Nato, ihr Sinn, gerechtfertigt wird, ist, wie schon gesagt, dass das atlantische Bündnis für Sicherheit und Verteidigung steht und sie garantiert.

Doch die Frage ist: Gegen wen benötigen die EU-Staaten, der reichste Kontinent der Welt und wehrhaft, den Schutz von den USA? Wer würde sich trauen, sie anzugreifen?

Russland hat es nicht einmal geschafft, das an der eigenen Grenze gelegene Kiew unter Kontrolle zu bringen. Im Vergleich zu den Nato-Staaten ist das Land eher "Papiertiger" [8] als der heraufbeschworene militärische Koloss, der den Westen abräumen kann. In Europa gibt es Atomwaffen. Und so weiter.

Nato ist kein Verteidigungsbündnis

Wir brauchen die Nato nicht, um sicher in Europa zu leben. Die Militärallianz ist auch kein Verteidigungsbündnis, das auf die Sicherheit der Bevölkerungen in Europa ausgerichtet ist.

Sie wurde deswegen nicht gegründet und betrieben. Das wurde den Menschen zwar über Jahrzehnte erzählt. Aber dadurch wird es nicht wahrer.

Offiziell hieß es nach dem Zweiten Weltkrieg, die USA wollten damit der Gefahr aus der Sowjetunion begegnen.

Doch erst die Wiederbewaffnung der BRD innerhalb der Nato führte zur Gegenreaktion, dem Warschauer Pakt. Die Russen und Osteuropäer konnten sich nämlich noch gut an die Zeit zwischen 1933 und 1945 erinnern.

Als die UdSSR der Nato beitreten wollten

Zuvor hatte die UdSSR versucht, der Nato beizutreten [9], da man eine erneute Militarisierung Deutschlands befürchtete. Auf der sogenannten Berlin-Konferenz im Februar 1954 hatte der russische Außenminister Molotow zudem eine Alternative vorgeschlagen: eine pan-europäische, kollektive Sicherheitsarchitektur.

Zugleich sollte dabei Deutschland wiedervereinigt und neutralisiert werden.

Der französische Präsident Charles de Gaulles sollte einen ähnlichen Vorschlag machen [10], eine gemeinsame Sicherheitszone vom Atlantik bis zum Ural. Putin schloss vor der Ukraine-Krise immer wieder im Sinne der KSZE daran an [11], um ebenfalls eine pan-europäische Lösung politisch zu forcieren.

Es gab vor- und nachher weitere Vorschläge vonseiten Moskaus, eine unabhängige europäische Lösung zu finden. Die USA lehnten alle ab, weil sie davon ausgeschlossen worden wären.

USA: Die Angst vor der europäischen Neutralität

Vor allem wollte Washington ein unabhängiges, neutrales Europa verhindern – egal, was das für die Sicherheit der Europäer bedeutete. Fakt ist: Die Nato war eine Reaktion auf die "gefährlichen Angebote" Russlands, Europas Sicherheit unabhängig von den USA zu gestalten.

US-Außenminister Dean Acheson selbst stellte damals fest [12], dass die Gründung des Bündnisses weniger dadurch motiviert sei, dass man erwartete, dass Stalins Truppen möglicherweise Westeuropa angreifen würden, sondern aus Angst vor einem neutralen Europa, einer "dritten Kraft", eine "suizidale Abkürzung", so Acheson.

Wie wir aus unterschiedlichen Quellen wissen, sahen die US-Planer in der Sowjetunion keine militärische Bedrohung [13], sondern eine ideologische und politische. Ein einflussreicher Kopf im Kalten Krieg, George Kennan, hat das klar ausgedrückt [14].

Außenpolitik-Analyst Melvyn Leffler stellt in einer wissenschaftlichen Untersuchung [15] fest, dass man damals in Washington davon "überzeugt war, dass die Sowjets tatsächlich Interesse daran hatten, einen Deal hinzubekommen, Deutschland wiederzuvereinigen und die Spaltung Europas zu überwinden."

Davor hatten die USA die größte Angst. Die Zerstörung von europäischer Neutralität war der Motor, der die Nato vorantrieb.

Nato und die globale Machtstellung der USA

Nach dem Ende des Kalten Kriegs hätte man, wenn man an die Kalte-Kriegs-Erzählung glaubte, die Nato sei dafür da, die "russischen Horden" von Westeuropa fernzuhalten, die Nato eigentlich auflösen müssen. Die Sowjetunion war zusammengebrochen. Keine russischen Horden mehr.

Das Gegenteil geschah. Die Nato wurde gegen Versprechen [16], die man Gorbatschow machte, weiter nach Osten ausgedehnt. Die westliche Militärallianz rückte immer näher an die russischen Grenzen, während Moskau warnte und deutlich signalisierte [17], dass Georgien und die Ukraine rote Linien seien für ihre eigenen Sicherheitsbedürfnisse.

Die Ausrichtung der Nato wurde auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs weiter von Washington vorgegeben. In einem geleakten Pentagon-Papier von 1992 [18] zur US-Verteidigungsstrategie wird die "globale Machtstellung" der USA reklamiert. Es dürfe kein unabhängiges europäisches Sicherheitssystem geben.

Vielmehr muss die von den USA dominierte Nato das "Hauptinstrument der westlichen Verteidigung und Sicherheit sowie das Instrument für den Einfluss der USA und ihre Beteiligung an europäischen Sicherheitsangelegenheiten" bleiben.

"Humanitäre Interventionen"

Zugleich wurde offen eingestanden, dass die Nato eine Interventionsarmee ist. Es fanden nun "Out-of-Area"-Einsätze oder "humanitäre Interventionen" zum Beispiel im Kosovo oder in Afghanistan statt.

Der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer teilte auf einer Nato-Tagung [19] im Juni 2007 mit, dass "die Nato-Truppen Pipelines bewachen müssen, die Öl und Gas transportieren, das für den Westen bestimmt ist". Sie sollen insgesamt die von Tankern genutzten Seewege und andere "entscheidende Infrastrukturen" des Energiesystems schützen.

Ein Jahr später, auf der Nato-Tagung 2008, unterstrichen die USA ihr Bestreben, die Ukraine wie Georgien in die Nato aufzunehmen – um Russland einzudämmen. Vor allem Frankreich und Deutschland sperrten sich.

Daher wurde vorerst keine offizielle Einladung ausgesprochen. Doch die USA drängten weiter, was die Spannungen mit Moskau erhöhte.

Seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise 2014 und dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 beherrscht in westlichen Ländern das Narrativ vom "unprovozierten Konflikt" bzw. "unprovozierten Krieg" den Diskurs. Doch jeder kann wissen, dass der Krieg nicht unprovoziert [20] gewesen ist (wenn auch kriminell und illegitim).

Ein zentrales, wenn auch nicht das einzige Element der Provokation war, die Ukraine enger an die USA und die Nato anzuschließen.

Ukraine-Krieg als Geschenk für die USA

Der Angriff von Putin war schließlich ein Geschenk für die US-Außenpolitik-Planer. Europa wandte sich von Russland ab und den USA zu.

Es folgten Aufrüstung, weitere Nato-Mitglieder (Finnland, Schweden), das vorläufige Ende der Idee europäischer Neutralität und eines unabhängigen Wegs, Sicherheit auf dem Kontinent zu garantieren.

Das Ergebnis: Europa ist heute unsicherer als viele Jahrzehnte zuvor, nicht trotz, sondern wegen der Nato, die Europa zunehmend von Russland abtrennte und Spaltprozesse in Gang setzte.

Die Ukraine erhielt beim Nato-Gipfel im letzten Jahr dann nur Sicherheitszusagen, weiter keine formelle Einladung [21]. Für die Ukraine sieht es im Moment schlecht aus, weil das Land für die USA und Nato nicht von genuinem, sondern lediglich strategischem Interesse ist.

Diejenigen, die immer gesagt haben, dass man Russland nicht trauen darf, dass Moskau expansionistisch ausgerichtet ist und Europa, wenn der Zeitpunkt günstig erscheint, überfallen wird, scheinen nun in der veröffentlichten Debatte recht zu haben.

Moskau ist nicht irrational und suizidal

Wer jedoch Moskau unterstellt, Pläne zu hegen, EU-Länder zu attackieren, muss der russischen Führung Irrationalität und Suizidalität unterstellen. Machtambition (einmal unterstellt) reicht eben nicht, entscheidend ist Machtreichweite, die Putin wie jeder andere russische Präsident sicherlich einzuschätzen weiß. Und die reicht nicht mal bis Kiew.

Am Ende ist es so: Die Nato ist der falsche Weg, war es immer, um Sicherheit für die Bürger:innen in Europa herzustellen. Sie ist dafür nicht gegründet worden, ihre Organisation und ihre Ausrichtung dienen diesem Ziel nicht. Im Gegenteil. Das Militärbündnis ist ein stetiger Quell der Destabilisierung und Polarisierung.

Denn die Nato ist ein Militärbündnis der Starken, betrieben von den USA, mit imperialen Motiven, nicht derjenigen, die sich schützen müssten im Verbund.

Europa muss mit Russland leben

Europa wird mit Russland leben müssen, das Land wird nicht einfach verschwinden. Es braucht daher eine pan-europäische Lösung, die wechselseitig Sicherheit garantiert.

Vielleicht sollten die Europäer Trumps Äußerungen zum Anlass nehmen, einen unabhängigen, neutralen Weg erneut ins Auge zu fassen.

Aber klar ist auch: Im Moment ist das ein bloßer Wunschtraum.


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https://www.heise.de/-9675365

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nato-jubilaeum-100.html
[2] https://www.tagesschau.de/ausland/macron-nato-101.html
[3] https://www.archives.gov/exhibits/featured-documents/north-atlantic-treaty
[4] https://www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_17120.htm
[5] https://www.wiwo.de/politik/ausland/verteidigung-quicklebendig-statt-hirntot-die-nato-ist-stark-wie-nie/29738054.html
[6] https://www.presidency.ucsb.edu/documents/address-the-occasion-the-signing-the-north-atlantic-treaty
[7] https://taz.de/Trumps-Aussagen-zur-Nato/!5988869/
[8] https://www.telepolis.de/features/Papiertiger-Russland-und-Doppelmoral-gegenueber-Washingtons-Kriegsverbrechern-7155277.html?seite=al
[9] https://www.wilsoncenter.org/publication/molotovs-proposal-the-ussr-join-nato-march-1954
[10] https://www.aies.at/download/2019/Grosseuropa-von-Lissabon-bis-Wladiwostok_AIES-KFIBS-KAS-Tagungsbeitrag_2019_Erokhin_final.pdf?m=1580302236&
[11] https://euobserver.com/news/2964
[12] http://goodtimesweb.org/analysis/2015/Noam-Chomsky-1993-Year-501-The-Conquest-Continues.pdf
[13] https://www.amazon.de/-/en/Noam-Chomsky/dp/0231101570
[14] https://www.jstor.org/stable/20097039
[15] https://www.sup.org/books/title/?id=2846
[16] https://natowatch.org/newsbriefs/2018/how-gorbachev-was-misled-over-assurances-against-nato-expansion
[17] https://www.telepolis.de/features/USA-wussten-dass-man-Russlands-rote-Linien-bei-Nato-Expansion-ueberschritt-7518151.html
[18] https://chomsky.info/year01/
[19] https://www.salon.com/2011/04/21/global_empire_united_states_iraq_noam_chomsky/
[20] https://www.telepolis.de/features/Der-Ukraine-Krieg-wurde-provoziert-Warum-das-fuer-Frieden-zentral-ist-9066817.html
[21] https://www.theguardian.com/world/2023/jul/11/zelenskiy-accuses-nato-of-lack-of-respect-over-ukraine-membership