80 Jahre nach dem Angriff auf einen Staat, den es nicht mehr gibt

Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park. Bild: Marek Śliwecki/CC BY-SA 4.0

Es gibt genug an der russischen Politik zu kritisieren. Wer das aber ausgerechnet zum Jahrestag des Beginns des deutschen Vernichtungskriegs tut, beteiligt sich an Geschichtsrelativierung

"Am 22. Juni 1941 begann ein Vernichtungskrieg. Mit 27 Millionen Toten, davon 14 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten, hatte die Sowjetunion die meisten Opfer des Zweiten Weltkrieges zu beklagen", heißt es in einer Erklärung von Bundespräsident Steinmeier zum 80. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion.

Diese Worte wären vor noch vor wenigen Jahrzehnten in Deutschland nicht möglich gewesen. Schließlich gehörte die Stoßrichtung gegen die Sowjetunion zur Staatsdoktrin der BRD. Sie war die Klammer, die im Kalten Krieg die ehemaligen Alliierten der Anti-Hitler-Koalition USA, Großbritannien und im geringeren Maß Frankreich mit dem besiegten Deutschland verbunden hat. Nur unter den Bedingungen des Kalten Krieges konnte die BRD zum Frontstaat gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten in Ostdeutschland werden.

Das war nicht nur mit einer scharfen Frontstellung gegen Kommunisten - und solche, die dafür gehalten wurden - im Inland verbunden. Gegen die Sowjetunion und den nominalsozialistischen Block konnten die oberflächlich entnazifizierten ehemaligen Eliten des NS-Staates in der BRD ihren Kampf sogar fast mit denselben Parolen fortsetzen. Der Kampf des europäischen Abendlandes gegen den Bolschewismus stand nun im Mittelpunkt der Propaganda in der BRD.

Den Ton hatten schon die Mitarbeiter von NS-Reichspropagandaministers Goebbels vorgegeben, der damit die Spaltung der Anti-Hitler-Koalition erhoffte, die allerdings erst nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus einsetzte.

Verdächtigungen

Der Kalte Krieg mit der Fortsetzung der Frontstellung gegen die Sowjetunion hatte für die BRD die Folge, dass eine Person, die sich für das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland interessierte, als kommunistisch und damit als verdächtig galt.

Das bedeutete konkret, dass der Arbeitskreis "Blumen für Stukenbrock", der sich für einen würdigen Gedenkort auf dem Areal eines ehemaligen Lagers für sowjetische Kriegsgefangene in Ostwestfalen einsetzte, vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Das galt auch für andere Gedenkinitiativen.

Dabei war es eine Arbeit für eine Minderheit von engagierten Menschen. Noch immer sind viele ehemalige Kriegsgefangenenlager der Soldaten der Roten Armee so vergessen wie ihre Friedhöfe. Die deutschen Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangen wurden lange Zeit ausgeblendet.

Da ist es natürlich ein Fortschritt, wenn ein Bundespräsident in Deutschland von einem Vernichtungskrieg in der Sowjetunion spricht. Kritisiert wird von einer Kommentatorin der Berliner Zeitung, dass es keine Feierstunde im Bundestag zum Jahrestag des Überfalls gab. Doch von der irritierenden Begrifflichkeit abgesehen, wäre das nur eine weitere symbolische Gedenkpolitik.

Wie Russlandkritik zur Geschichtsrelativierung beiträgt

Dabei darf nicht übersehen werden, dass Hitler-Deutschland den Krieg gegen die Sowjetunion verloren und das westliche Bündnis den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion gewonnen hat. Das Land, gegen das Deutschland einen Vernichtungskrieg führte, existiert heute nicht mehr.

Aus dessen Konkursmasse entstanden Staaten, deren Regierungen teilweise von den politischen Kräften mitbestimmt werden, deren historische Vorfahren sich mit der deutschen Wehrmacht am Krieg gegen den Bolschewismus verbündeten.

Besonders im Baltikum und in der Ukraine sind die politischen Erben der Kräfte heute dominant, die sich mit Hitler-Deutschland für die Zerschlagung der Sowjetunion und damit auch am Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus beteiligten. Sie teilten mit der deutschen Wehrmacht oft auch den Antisemitismus und brauchten nicht erst durch die Wehrmacht zum Judenmord angestiftet werden.

Der Aufstieg dieser politischen Kräfte in mehreren osteuropäischen Staaten bringt Deutschland gleich in mehrfacher Hinsicht in eine komfortable Situation. Sie haben so deutschfreundliche Bündnispartner, auf die sie bei ihrer Russland-Kritik immer verweisen können. Nun muss natürlich betont werden, dass das Russland von heute nicht mehr die Sowjetunion und die Sowjetunion der 1930-er Jahre wenig mit deren emanzipatorischen Ansprüchen in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution zu tun hatte.

Nur kann das nicht das Thema sein, wenn in Deutschland über den Beginn eines Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion vor 80 Jahren gesprochen wird. Die Sowjetunion wurde als das von den Nazis imaginierte "jüdisch-bolschewistische" Gebilde angegriffen und genau deshalb begann die Vernichtung von Juden und Kommunisten schon in den ersten Stunden des Angriffskriegs.

Diese Gewalt wird in dem beeindruckenden Film "Komm und Sieh" sehr gut eingefangen. Wer daher ausgerechnet zum Jahrestag des von Deutschland ausgehenden Terrors über die repressive Innenpolitik im heutigen Russland sprechen will, beteiligt sich an der Relativierung der deutschen Verbrechen. Nicht anders übrigens als die, die das Gedenken an der Shoah mit Kritik an der aktuellen israelischen Politik gegenüber den Palästinensern vermengen wollen.

Zum Glück gibt es in Deutschland und vielen anderen Staaten mittlerweile genügend Stimmen, die einer solchen Shoah-Relativierung, von wo immer sie kommt, entgegentreten. Wenn allerdings ausgerechnet am 22. Juni 2021 in der taz der Leserbrief abgedruckt ist, in dem es heißt:

"Da wären wir bei Russland. Ein Monster als Präsident, zerfressen von krankhaftem Narzissmus, viele Spielregeln eines menschlichen Miteinanders ignorierend und sich sicher seiend, dass ihm niemand was kann, weil er ein Terrorregime aufgebaut hat, das seine Macht sichert. Sollten wir nicht wenigstens aufhören, mit einer solchen Regierung Geschäfte zu machen."

Dann fragt man sich doch, ob hier nicht der alte Kampf des westlichen Abendlandes gegen den Bolschewismus mit etwas modernisierten Vokabular fortgesetzt wird.

Übrigens sprachen diese Abendlandverteidiger auch vor 1991 schon immer von Russland, auch als es die Sowjetunion noch gab.

Historische Verpflichtungen gegenüber wem?

Man muss nur die teils feindselige Reaktion auf den ausgewogenen Beitrag von Russlands Präsident Putin in der Zeit verfolgen, um die Gedenkinitiativen zum Überfall auf die Sowjetunion als Symbolpolitik zu erkennen.

Würden sie ernst gemeint, würde man erst einmal lesen, was der gewählte Präsident des damals überfallenen Landes zu sagen hat, und nicht gleich wie Samira El Ouassil im Deutschlandfunk als Desinformation eines Despoten zu diffamieren.

Dass es die Sowjetunion nicht mehr gibt, freut auch den ehemaligen Außenminister mit immer noch grünen Parteibuch, Josef Fischer, in einem Interview, das die taz sicher zufällig ebenfalls exakt 80 Jahre nach dem Beginn des deutschen Vernichtungskrieges veröffentlichte.

Dort stellte er klar, dass Deutschland historische Verpflichtungen hat "nicht nur gegenüber Russland, sondern mindestens genauso gegenüber der Ukraine und anderen Völkern, die unter dem Dach der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland gekämpft und furchtbar gelitten haben".

Der Interviewer Peter Unfried fragt nicht nach, wie man nun 80 Jahre nach dem Angriff auf die Sowjetunion damit umgeht, dass in der "Ukraine und den anderen Völkern" politische Kräfte an der Macht sind, deren politische Vorfahren sich freiwillig daran beteiligten. Vielmehr redet Fischer Klartext, was diese Verantwortung in Bezug auf die Ukraine konkret bedeutet.

Peter Unfried: Konkret: Sollte man der Ukraine mit Waffen helfen, sich verteidigen zu können? Joschka Fischer: Ich finde es völlig legitim, darüber nachzudenken, was man tun kann, um einem angegriffenen Nachbarn zu helfen, dem man in der Vergangenheit, auch durch Russland, die territoriale Integrität zusichert hat im Tausch gegen seine Atomwaffen. Aber meine These lautet: Wir sollten das niemals national und alleine tun, nur in Verbindung mit unseren Partnern in der Allianz und EU. Und das ist gut so.

Gespräch mit mit Ex-Außenminister Joschka Fischer, taz

Da kann man feststellen, 80 Jahre nach Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion haben heute auch grüne Außen- und Realpolitiker gelernt, wenn es das nächste Mal gegen Russland geht, muss man sich auf seine Verbündete verlassen können und Alleingänge vermeiden.