9/11: US-Regierung gibt sich lernresistent
George W. Bush hatte nach den Anschlägen vor 20 Jahren von einem "Kreuzzug" gesprochen. Das ging grandios daneben
US-Präsident Joe Biden hat, vorbereitet von seinem Amtsvorgänger Donald Trump, mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan kurz vor dem 20. Jahrestag der 9/11-Anschläge und dem darauf folgenden Beginn des Kriegs gegen den Terror - George W. Bush hatte von "Kreuzzug" gesprochen - ein Zeichen für die Amerikaner setzen wollen. Das ging grandios daneben und muss nun als Warnung für alle Alliierten gelten und als Bestärkung für alle Islamisten: Dschihad lohnt sich, wenn die Gotteskrieger lange genug kämpfen.
Nun finden die Erinnerungsfeiern unter dem Zeichen statt, dass der Krieg gegen den Terror nicht nur gescheitert ist, weil das bekämpfte Taliban-Regime unverändert und teils mit dem alten Führungspersonal wieder an der Macht ist, sondern auch, weil er den islamistischen Terrorismus, nach Afghanistan fortgesetzt mit dem schon vor 9/11 geplanten und dann schnell mit Desinformation legitimierten Irak-Krieg, vor allem in Asien, im Nahen Osten und in Afrika erst richtig verbreitet hat.
"Geht voll ein. Fegt alles zusammen"
Schon fünf Stunden nach den WTC-Anschlägen plante der damalige Verteidigungsminister Rumsfeld den Krieg gegen den Irak, obgleich es keinerlei Verbindung zwischen Saddam Hussein (SH) und Usama bin Laden (USL) gab: "Judge whether good enough hit S.H. at same time. Not only UBL." Seinen Helfern teilte er mit: "Go massive. Sweep it all up. Things related and not."
US-Präsident Joe Biden ist alles andere als willens, kritisch die amerikanische Reaktion auf 9/11 zu hinterfragen. Es ist ein schlechtes Zeichen für die Zukunft, wenn höchstens oberflächliche, wenn auch die Kriegsführung umfassend verändernde Schlüsse gezogen werden.
Biden hatte seine Entscheidung, die Truppen aus Afghanistan - ohne Absprache mit den Alliierten - abzuziehen, damit begründet, dass das primäre Ziel erreicht worden sei: die Bekämpfung von al-Qaida und die Verhinderung, dass weitere Angriff aus Afghanistan stattfinden. Es gebe aber den Terrorismus weiter, den man aber ohne Bodentruppen mit "Over-the-horizon"-Angriffen, also mit Raketen, Kampfflugzeugen, Drohnen und Fernaufklärung als Telekrieg bekämpfen werde.
Biden macht weiter mit Racheaktionen, die Zivilisten treffen
Wie das aussieht, hat Biden schon gezeigt. Nach dem Anschlag von IS-K vor dem Flughafen von Kabul, bei dem 13 US-Soldaten getötet wurden und wo vermutlich wild um sich feuernde US-Soldaten viele Wartende erschossen und verletzten, wurde eine bewaffnete Drohne eingesetzt, um einen weiteren Anschlag zu verhindern. Eine Reaper-Rakete wurde auf ein Fahrzeug, das angeblich mit Sprengstoff beladen war, in einem Hinterhof abgefeuert und tötete 10 Zivilisten, darunter 6 Kinder.
Das Pentagon rechtfertigte den "Over-the-horizon"-Angriff dadurch, dass es nach dem Beschuss weitere Explosionen gegeben haben soll. Bilder von dem Hinterhof widerlegten diese Behauptung. Selbst die New York Times kam nach Nachforschungen zu dem Ergebnis, dass es keinen Sprengstoff in dem Fahrzeug gab und dass der Fahrer ein langjähriger Mitarbeiter von US-Hilfsorganisationen war. Räumt das Pentagon oder die Biden-Regierung einen Fehler ein? Nein, vielleicht Monate später, wenn es niemanden mehr interessiert.
Dass der Krieg in Afghanistan und dann der Einmarsch in den Irak al-Qaida und im Gefolge den Islamischen Staat im Irak, in Syrien und im Jemen und dann später im gesamten Nahen Osten, in Teilen Asiens und vor allem auch in Afrika neue Operationsfelder erschloss, erwähnt er ebenso wenig wie die Tatsache, dass al-Qaida und Co. zahllose Terroranschläge ausübten und dabei auch der islamistische Terror in Europa zwar nicht aus Afghanistan, aber aus dem Irak oder aus Syrien eine blutige Spur hinterließ.
Eine Million Tote
Ebenso wenig wie sich die Amerikaner jemals für den unnötigen Angriff mit Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki mit Hunderttausenden von toten Zivilisten entschuldigt haben, wird dies wahrscheinlich auch beim Globalen Krieg gegen den Terror (GWOT) nicht geschehen, den Biden durchaus fortsetzen will und der nach Schätzungen bislang 400.000 Zivilisten das Leben gekostet hat, indirekt sehr viel mehr.
Nach dem Costs of War Project ist die 20-jährige Bilanz: insgesamt eine Million Tote, 40-50 Millionen Vertriebene, zerstörte Länder (failed states), Verbreitung des Terrors und ein islamistisches Regime in Afghanistan als aktueller Höhepunkt.
Der 11. September wurde bereits zum Patriot Day und zusätzlich zum National Day of Service and Remembrance, um die Erinnerung an die Anschläge als Legitimation für die Kriege und die innere Aufrüstung wachzuhalten. Biden erklärte nun etwas einfallslos, aber die Tradition bruchlos fortsetzend, den 11. September zum "Patriot Day and National Day of Service and Remembrance".
Erinnert und geehrt werden sollen diejenigen, die am 11.9. gestorben sind und die vielen Helfer. Aber beschworen wird vor allem eine Heldengeschichte, die die Nation einen soll, die nicht erst seit Trump und Covid-19 auseinanderfällt. Die Amerikaner seien "dem Unvorstellbaren mit Entschlossenheit und Mut" entgegengetreten und hätten selbstlos geholfen.
Aber da sind dann auch diejenigen, die auf Rachefeldzug gingen, wie das damals George W. Bush ausdrückte: "Wir werden sie aus ihren Löchern räuchern. Wir werden sie in die Flucht schlagen, und wir werden sie vor Gericht bringen." Biden 20 Jahre später: "Wir erinnern den Patriotismus und Mut unserer Soldaten, die die Angreifer verfolgten, Osama bin Laden Gerechtigkeit widerfahren ließen und al-Qaida zerstörten."
Die vielen Afghanen, die ihr Leben dabei lassen mussten oder vertrieben wurden, erwähnt Biden symptomatisch nicht. Die Soldaten verfolgten auch nicht die Angreifer, sondern überzogen das Land mit einem Krieg, in dem sie neue Kampfstrategien und Waffen wie Kampfdrohnen, aber auch Folter, willkürliche Verschleppungen und die Umgehung des Kriegsrechts und des US-Rechtssystems durch die Schaffung von "feindlichen Kämpfern" als Parias austesteten.
Die Gegner
Der schnell ausgerufene GWOT, der die Leere nach dem Ende des Kalten Kriegs füllte, stellte sicher, dass der militärisch-industrielle Komplex alle Register ziehen konnte, bis man wieder mit Russland und China dann erneut neben der asymmetrischen Kriegsführung staatliche Kriegsgegner mit einer hybriden Kriegsführung - letztlich einer Version des totalen Kriegs mit allen Mitteln - aufbaute.
Man muss daran erinnern, dass die Taliban damals so schrecklich waren wie jetzt, aber dass nicht sie die Angriffe geplant und ausgeführt haben. Sie weigerten sich vor 9/11, Bin Laden auf Verlangen des UN-Sicherheitsrats wegen der Anschläge auf US-Botschaften in Afrika auszuliefern, so der damalige Außenminister und jetzige Regierungschef Mullah Mohammed Hassan Akhund, boten aber nach 9/11, wenn auch vielleicht nur zum Schein an, ihn auszuliefern, wenn die USA Beweise vorlegen.
Gerichtsfeste Beweise dafür, dass Bin Laden die Anschläge geplant und organisiert hat, gibt es bis heute nicht. Die Geschichte wäre anders verlaufen, hätten die USA tatsächlich nur Osama bin Laden und al-Qaida in Afghanistan in einer Antiterroroperation gesucht und festgesetzt - ähnlich wie die Aktion, mit der bin Laden in Pakistan exekutiert wurde - und keinen Krieg gegen islamische Länder begonnen.
Die USA versuchten auch gar nicht, den verarmten und bedeutungslos gewordenen Bin Laden vor Gericht zu stellen, sondern exekutierten ihn sicherheitshalber, wie sie dies auch nach den ersten Erfahrungen mit Guantanamo machten. Tote machen keine politischen und juristischen Probleme. Eine juristische Farce ist auch der jetzt wieder aufgenommene Prozess vor einem Militärgericht gegen fünf Guantanamo-Gefangene, die für die Planung oder der Beihilfe für die 9/11-Anschläge verantwortlich sein sollen.
Als Mastermind gilt Khalid Sheikh Mohammed, der unter zahlreichen Waterboarding-Prozeduren alles Mögliche bekannt hat. Kaum vorstellbar, dass bei diesem Prozess, der sich nun schon über Jahre hinzieht, etwas herauskommt, abgesehen von der Fragwürdigkeit der Inhaftierung und der durch Folter erzwungenen Geständnisse.
Ist Saudi-Arabien in die 9/11-Anschläge verwickelt?
Ungeklärt ist weiter, welche Drahtzieher hinter den Anschlägen steckten. Jedem ist klar, dass Saudi-Arabien, woher auch 15 der 19 Terroristen in den Flugzeugen stammten, eine Rolle spielte, die von der Bush-Regierung und den folgenden Regierungen aber vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben sollte (9/11: Mühsame Aufklärung über saudische Mitwirkung).
Joe Biden hat im Vorfeld am 3. September eine Anordnung erlassen - um Proteste von Opfern und Opferangehörigen zu vermeiden, die einen Prozess gegen Saudi-Arabien führen -, dass das Justizministerium und andere Behörden die Veröffentlichung von geheimen Dokumenten der FBI-Untersuchung Operation Encore innerhalb von sechs Monaten prüfen soll.
Damit war schon vorgesorgt, dass vielleicht zum 11.9. lediglich ein 16-seitiges FBI-Dokument vorliegt, das allerdings möglicherweise dien Zusammenfassung der Ergebnisse der Operation darstellt.
Die geschwärzten Teile des Berichts der 9/11-Kommission, die sich auf Saudi-Arabien beziehen, werden damit weiterhin geheim gehalten. Und Biden äußerte schon Vorbehalte, die erahnen lassen, dass vieles weiter aus Gründen des angeblichen Schutzes der nationalen Sicherheit geheim bleiben wird.
Das FBI untersuchte etwa die Beziehungen zwischen saudischen Regierungsangehörigen und zwei der Selbstmordattentäter vor dem Anschlag in Kalifornien: Khalid al Mihdhar und Nawaf al Hazmi. Angeblich sollen Beweismittel 2007 vom FBI archiviert oder zerstört worden sein.
Die saudische Botschaft in den USA erklärte am 8. September, dass jede Anspielung, Saudi-Arabien sei in die 9/11-Angriffe verwickelt, falsch ist und verbreitet durchsichtige Lügen: "Saudi-Arabien kennt das Böse, das al-Qaida durch seine Ideologie und Aktionen darstellt, nur zu gut … Neben den USA hat das Königreich alles unternommen, um die Männer, das Geld und die Einstellung zum Terrorismus und Extremismus in all ihren Formen zu bekämpfen." Man setzte auf die "volle Deklassifizierung aller Dokumente", um die "grundlosen Behauptungen über das Königreich ein für allemal zu beenden".
Man muss davon ausgehen, dass Saudi-Arabien mit seinem besonderen Verhältnis zu den USA genügend Druck aufgebaut hat und weiß, dass vieles im Dunklen bleiben wird. Bekannt ist freilich, dass al-Qaida zumindest bis 2001 Gelder aus Saudi-Arabien meist über Stiftungen erhielt, an denen teils die saudische Regierung beteiligt war.
Nach der 9/11-Kommission konnte aber eine direkte Finanzierung durch den saudischen Staat nicht nachgewiesen werden. Ex-Justizminister William Barr lehnte im April 2020 eine Veröffentlichung von diesbezüglichen Dokumenten wegen vermeintlicher Gefährdungen der nationalen Sicherheit ab. Biden kuschelt nicht so mit den Saudis, aber einen Bruch wird er auch nicht riskieren. Wirkliche Aufklärung wird man nicht erwarten können.
Der Artikel ist zuerst bei Krass & Konkret erschienen.