Abnutzungskrieg in der Ukraine: "Rein militärisch kommen wir da nicht mehr heraus"

Militärische Unterstützung ohne politisches Konzept? Über Diplomatie, politische Klarheit in den Zielen und Kriegsrhetorik. Gespräch mit Erich Vad.

Die Waffenlieferungen in die Ukraine und die genauen Kriegsziele sind Auslöser von Debatten, die durch hohe Emotionalität und ein rigides Entweder-Oder gekennzeichnet sind. Entweder man unterstützt die Ukraine mit "vollem Einsatz" – aber bis zu welcher Grenze? – oder man spielt mehr oder weniger naiv oder gar ignorant den Zielen des Aggressors Russland in die Hände.

So lauten die groben Platzzuordnungen, die im verbalen Schlagabtausch von den Stimmen ausgeteilt werden, die bis auf weiteres – bis zum militärischen Sieg der Ukraine? – keine Alternative zur kriegerischen Lösung sehen.

Wie persönlich und harsch Reaktionen auf eine Position ausfallen, die für Verhandlungen plädiert, selbst wenn das Plädoyer dafür in abwägender, nuancierter Form ausfällt, die Gegenargumente miteinbezieht, zeigte sich die letzten Tage in den Antworten auf die jüngste Veröffentlichung des Philosophen Jürgen Habermas (siehe: "Zeit, ins Bett zu gehen").

Zu den bekanntesten Protagonisten in Deutschland, der seine Skepsis und Vorbehalte gegenüber einer Lösung des Konflikts durch Setzen auf kriegerische Mittel deutlich gemacht hat , gehört Erich Vad. Der frühere Bundeswehr-Brigadegeneral und Gruppenleiter im Bundeskanzleramt ist einer, der sehr viel Kritik in der Debatte abbekommt, er ist zu einer Art Lieblingsgegner der anderen Seite der Debatte geworden.

Florian Rötzer sprach mit ihm.

Waffenlieferungen: "Ich finde nirgendwo eine politische Klarheit"

Sie haben das Manifest für den Frieden (Petition) und den Aufruf zur Kundgebung am 25. Februar in Berlin mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiiert. Es gab ja schon ein paar ähnliche Manifeste. Warum meinen Sie, dass es jetzt an der Zeit ist, erneut für Verhandlungen einzutreten und die Eskalation der Waffenlieferungen zu beenden?
Erich Vad: Wenn ich auf die militärische Lage schaue, dann sehe ich, dass dieser Krieg zu einem Stellungs- und Abnutzungskrieg im Stil des Ersten Weltkriegs geworden ist. Stichwort Verdun. Dort wurde zum ersten Mal die Idee der gegenseitigen Abnutzung vorexerziert, mit Millionen von toten jungen Franzosen und Deutschen, ohne dass das militärisch etwas gebracht hat.
Der amerikanische Generalstabschef Mark Milley sagte mehrfach, zuletzt in Ramstein am 20. Januar, dass es schwer wird, eine militärische Lösung im Ukrainekrieg herbeizuführen. Diese Einschätzung ist kürzlich auch von der regierungsnahen Rand Corporation bestätigt worden und deckt sich auch mit meinen Analysen.
Ich war schon im letzten Herbst – als viele noch angesichts erfolgreicher ukrainischer Offensiven an einen Wendepunkt des Kriegs glaubten – der Auffassung, dass wir dabei sind, in eine militärische Pattsituation zu kommen, aus der wir rein militärisch nicht mehr herauskommen. Auffallend ist, dass es uns bislang auch nicht gelungen ist, die politischen Ziele unserer Unterstützung der Ukraine zu definieren.
Ich finde nirgendwo eine politische Klarheit, was wir eigentlich konkret mit den Waffenlieferungen erreichen wollen. Geht es darum, Russland zu besiegen, wie manche behaupten ? Geht es militärisch darum, den Donbass und die Krim zurückzuerobern, wie es u.a. die deutsche Außenministerin Baerbock einmal postulierte?
Oder geht es nur darum, die Ukraine zu stabilisieren, um ihr damit perspektivisch die Möglichkeit zu fairen Verhandlungen zu geben, wie ich den deutschen Bundeskanzler Scholz verstehe?
Diese Fragen sind nirgendwo beantwortet und der gewünschte politische "end state" unserer militärischen Unterstützung der Ukraine ist nirgendwo definiert worden. Das heißt, wir leisten militärische Unterstützung ohne politisches Konzept, ohne Strategie und ohne Zielsetzung. Das ist eigentlich und strenggenommen Militarismus pur, wenn man militärische Hilfeleistungen nicht an politische Ziele koppelt.

Verhandlungen: "Signale, auch aus Washington"

Wie steht es derzeit um die Forderung nach Verhandlungen?
Erich Vad: Wir haben jetzt auch die Sicherheitskonferenz in München vor uns. Es gibt Signale, auch aus Washington, dass man über Verhandlungen zumindest nachdenkt, auch innerhalb der Biden-Administration, und dass es diesbezügliche Gespräche insbesondere mit der chinesischen Delegation geben wird.
China ist gerade mit Blick auf Russland, das ja nicht auf der Münchner Konferenz vertreten ist, ein wichtiger politischer Akteur geworden. Das Gleiche gilt für die Türkei. Erdogan verfügt ja über einen Draht zu Putin und hat mit ihm ein Wirtschaftsabkommen während des Krieges und im letzten Jahr auch mit Russland und der Ukraine unter Vermittlung von UN-Generalsekretär Guterres das wichtige Getreideabkommen ausgehandelt.
Gleichzeitig beteiligt sich die Türkei nicht an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland, unterstützt aber die Ukraine militärisch und führt – ähnlich wie Russland in seinem Nachbarland Ukraine – Militäroperationen in Syrien und im Irak gegen die Kurden durch. Das ist alles sehr widersprüchlich und stimmt nachdenklich.

"Gut, dass es Geheimdiplomatie in diesem Krieg gibt"

Brauchen wir angesichts der festgefahrenen militärischen Lage nicht endlich mehr Diplomatie?
Erich Vad: Ja, wir brauchen tatsächlich mehr Diplomatie und Interessenausgleich und weniger diese öffentlich zur Schau gestellte Haltungsdiplomatie, wie dies die deutsche Außenministerin zum Beispiel vorexerziert. Die ist ehrenhaft, weil sie unsere Solidarität mit der Ukraine ausdrückt, aber sie führt nicht weiter zu einer politischen Lösung und ist damit – einschließlich der öffentlichen Kriegsrhetorik – einfach zu wenig.
Es ist gut, dass es Geheimdiplomatie in diesem Krieg gibt. Dazu gehört auch eine Kommunikation zwischen den Generalstabschefs und den Chefs der Geheimdienste. Und es gibt auch informelle Gespräche, Gott sei Dank. So eine Geheimdiplomatie ist zum jetzigen Zeitpunkt sehr wichtig, um auszuloten, wann und wie man politisch mit Verhandlungen etwas erreichen kann.
Am letzten Dienstag fand wieder die Rammsteinkonferenz, diesmal in Brüssel, statt, wo die Militärhilfe des Westens koordiniert wird. Das ist auch alles schön und gut so, aber auch das reicht einfach nicht.
Wir brauchen letztlich, was komplett fehlt, eine Art Friedensgruppe einflussreicher Staaten darüber. Also in Richtung der Vorschläge, die der brasilianische Präsident Lula gemacht hat.
Die EU kommt aber dafür nicht in Frage?
Erich Vad: Das müsste sicher jemand anders machen. Und ich sehe da eben die Notwendigkeit Länder wie China mitzunehmen, weil die Russen eben auf die Chinesen viel stärker hören als auf die USA. Notwendig wäre jetzt eine politisch-strategische Kontaktgruppe oberhalb der Koordinierung der Waffenlieferungen, die die Aufgabe hat, Wege zum Waffenstillstand aufzuzeigen oder zu erarbeiten.

Waffenstillstandsforderungen: "Ein Verrat an die Ukraine"?

Wenn ein Waffenstillstand vorgeschlagen wird, heißt es, man falle den Ukrainern damit in den Rücken, das sei ein Verrat, das Land müsste der Gewalt weichen. Was würden Sie dazu sagen?
Erich Vad: Das ist nicht richtig. Dieser Abnutzungskrieg führt auch dazu, dass die Ukrainer etwas verteidigen, was es am Ende vielleicht gar nicht mehr gibt. Es gibt jetzt schon über 200.000 Gefallene auf beiden Seiten, 50.000 Ziviltote.
Wir haben eine immense Flüchtlingsbewegung. Es gibt Tausende junge Männer – in Russland wie in der Ukraine – , die sich dem Wehrdienst in diesem Krieg entziehen wollen. Es gibt gleichzeitig in der Ukraine die achte Mobilisierungswelle, auch die 60-Jährigen werden zu den Waffen gerufen. Die russische Seite hat ein vergleichsweise viel größeres Mobilisierungspotenzial, das Putin noch gar nicht ausgespielt hat.
Man kann nur hoffen, dass es nicht dazu kommt, dass auch Russland wie die Ukraine eine Generalmobilmachung und eine Neuauflage des "Großen Vaterländischen Krieges" ausruft. Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt.
Die Situation ist militärisch nicht zu drehen. Rein militärisch betrachtet kann man sie nur drehen, wenn die Nato als ganzes Russland den Krieg erklärt. Aber das will derzeit niemand. Dann hätten wir erst recht das große Risiko eines Nuklearkrieges. Man muss auch sehen, dass dieses Risiko quasi wie ein Damoklesschwert schon jetzt über uns schwebt.
Viele machen es sich da zu leicht, wenn sie sagen, dass eine Atommacht, wenn sie militärisch keinen Erfolg hat, schon nicht zu Nuklearwaffen greifen wird. Das hätten die US-Amerikaner in Vietnam oder Afghanistan ja auch nicht gemacht.
Aber diese Vergleiche hinken, weil die Schwarzmeerregion für Russland etwa die gleiche strategische Bedeutung hat wie die Karibik oder Panama für die Sicherheit der USA oder das Südchinesische Meer oder Taiwan für China.
Die Russen können da nicht einfach – wie der Westen in Afghanistan, im Irak, in Syrien oder Libyen – nach Hause gehen und sagen, das ist schlecht gelaufen, wir geben es auf.
Gerade die zentrale strategische Bedeutung der Schwarzmeerküste mit der Krim macht es schwierig für Russland, kompromissbereit zu werden. Das ist ähnlich wie es in der Kubakrise 1962 für die USA nicht möglich war, der Stationierung sowjetischer Waffen auf Kuba oder in den neunziger Jahren dem politischen Machtwechsel auf Grenada und in Panama zuzustimmen.
Das sind strategische Einflussgrößen und Faktoren, die man im politischen Umgang mit großen Mächten, gerade wenn sie wie Russland im Abstieg begriffen sind, berücksichtigen muss, um Konflikte politisch vernünftig steuern zu können. Und hier bringt Säbelrasseln wenig, wenn es nicht mit einem klugen und besonnenen politischen Vorgehen verknüpft wird.

Minderheitenposition und Mehrheiten

Es gibt derzeit immer heftige Kritik an Initiativen zur Beendigung des Kriegs. In den Talkshows ist es meistens so, dass man dann einen Befürworter einlädt, der umgeben oder eingehegt wird von vier oder fünf Pro-Kriegs-Befürwortern. Wie sehen Sie denn die Situation des politischen Diskurses hier in Deutschland?
Erich Vad: Ja, ich habe auch den Eindruck, dass man sich in nicht wenigen politischen Talkrunden eher als Anhänger einer Minderheitenposition fühlen musste. Ich habe es erst gelernt, dass das nicht stimmt und die Mehrheit der Deutschen über den Krieg ganz anders denkt, eher so wie die Initiatorinnen des Manifests, Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht.
Dahinter stand das bestimmte Gefühl – und die Hunderttausenden Unterschriften unter der Petition zeigen das ja auch –, dass die öffentliche Meinung von der veröffentlichten abweicht. Das wollen wir einfach mit unserer Kundgebung in Berlin am 25.2.23 zum Ausdruck bringen.
Die wahrscheinlich gewollte Einseitigkeit in den Talkshows sieht man auch als Zuschauer.
Erich Vad: Ja, da wünsche ich mir mehr Vielstimmigkeit, gerade wenn es um Krieg und Frieden geht. Man kann und muss mit der Ukraine solidarisch sein, das ist ganz in Ordnung.
Aber ich finde, man muss auch Leute in den Diskurs mit einbeziehen, die einen realpolitischen strategischen Blick haben und nicht nur diese Kriegsrhetorik mitmachen. Die war mir persönlich einfach zu schrill und zu einseitig. Bei aller Solidaritätsbekundung, das war einfach maßlos.

"Regelrechte Kriegsbegeisterung"

Wie entstand diese Kriegsrhetorik? Woher kommt der Ton?
Erich Vad: Das ist für mich wirklich eine gute Frage, die ich abschließend noch nicht beantwortet habe. Wie kam diese – mittlerweile ruhiger gewordene – regelrechte Kriegsbegeisterung und -rhetorik wie 1914 zustande?
Wir sind doch eigentlich ein durch und durch pazifistisches Land, vor allen Dingen die Grünen als Partei. Diese Mutation von einer Friedens- zu einer Kriegspartei wundert mich am meisten. Für mich ist das psychologisch nur mit einer zum Teil mit schrillen Tönen ausgelebten kollektiven Übersprungreaktion erklärbar.
Auch bei der FDP herrscht nicht gerade eine liberale Argumentation vor. Und dass die bürgerliche Opposition im Bundestag auch einfach mitmacht, hat mich sehr enttäuscht.
Ich weiß aber auch von vielen, dass sie hinter vorgehaltener Hand sagen: Na ja, so ganz richtig finden wir das auch nicht, wenn sich deutsche Außenpolitik nur noch eindimensional auf Waffenlieferungen fokussiert und nicht mehr auf Diplomatie, Interessenausgleich und Konfliktlösung.
Aber auch das stimmt nachdenklich, weil wir offenbar ein Klima haben, wo man sich nicht mehr so richtig traut, das wirklich zu artikulieren, was man sagen möchte. Das sieht man jetzt auch bei den Reaktionen auf das Manifest. Hunderttausende finden jetzt im Grunde zum ersten Mal durch das Manifest Gehör. Deswegen finde ich die Initiative von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht richtig gut – und deshalb mach ich da auch mit.

Das Interview ist im Overton-Magazin erschienen.