Abschied vom binären Geschlechtsmodell

Seite 2: Binäres Modell in der Wissenschaft

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Tatsächlich ist das binäre Modell schon seit einiger Zeit unter Beschuss. Die Biologieprofessorin und Genderforscherin Anne Fausto-Sterling vertrat in den 1990er Jahren die Existenz von fünf Geschlechtern. Auch andere Forscher halten das binäre Modell für zu eingeschränkt. In Reaktion auf Kritik relativierte Fausto-Sterling ihren Ansatz später zwar, schätzte die Häufigkeit verschiedener Formen von Transsexualität aber auf knapp 2%.

Diese Zahl wurde wiederum von dem Psychologen und Arzt Leonard Sax, spezialisiert auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, als um den Faktor Hundert zu hoch kritisiert. Dabei hat Sax Fälle wie das Klinefelter- oder Turner-Syndrom allerdings ausgeklammert, da sich dann das Geschlecht aufgrund der äußeren Erscheinung klar bestimmen ließe.

Dem widerspricht aber der vorliegende Fall, der immerhin das Bundesverfassungsgericht überzeugt hat: Der beschwerdeführenden Person mit Turner-Syndrom wurde bei der Geburt ja eindeutig ein weibliches Geschlecht zugewiesen. Sie braucht sich daran nicht zu halten und hat jetzt sogar Recht auf eine eigene Bezeichnung, sofern die Geschlechtsangaben nicht für alle aus dem Register gestrichen werden.

Frage der Definition

Die Frage, wie häufig Intersexualität ist, lässt sich gar nicht so leicht beantworten. Es hängt erst einmal davon ab, wie man sie definiert und welche Abweichungen von einer wie auch immer bestimmten Norm man dazu zählt. Die Wissenschaft wird erst langfristig wertneutrale Zahlen liefern können, da man bis vor wenigen Jahren uneindeutige Fälle chirurgisch eindeutig gemacht, beziehungsweise Menschen dazu gezwungen hat, mit der ihnen einmal zugewiesenen sexuellen Identität zu leben.

Damit einher geht die Diskussion, ob und, wenn ja, wann ein Unterschied zwischen gewünschter und zugewiesener Identität eine psychische Störung ist (Genderdysphorie). Tatsächlich war man im 18. Jahrhundert schon einmal weiter. So sah das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 die Möglichkeit vor, bei Volljährigkeit eine andere Geschlechtsidentität anzunehmen:

Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Aeltern, zu welchem Geschlechte sie erzogen werden sollen. Jedoch steht einem solchen Menschen, nach zurückgelegtem achtzehnten Jahre, die Wahl frey, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle.

Preußisches Recht von 1794

Anpassung durch Gesetz und Wissenschaft

1875 wurde diese Regelung mit Einführung der Standesämter aber gestrichen. Das fällt auch in die Zeit, in der die Homosexualität pathologisiert wurde: Krafft-Ebings einschlägiges Werk Psychopathia Sexualis erschien elf Jahre später. Von 1875 bis 2013 galt dann uneingeschränkt das binäre Modell.

Man mag sich wundern, warum Gesetz, Medizin und Wissenschaft so lange gebraucht haben, um dessen Defizite zu beheben - und in der Zwischenzeit die Betroffenen lieber an das vorherrschende Denken angepasst haben als umgekehrt. Dass der 2013 eingeführte leere Eintrag keine ausreichende Alternative ist, ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts jetzt unanfechtbar festgestellt.

Unklare Folgen

Das Urteil wird eine Reihe von Folgefragen aufwerfen: Ist es diskriminierend, wenn in öffentlichen Gebäuden nur Toiletten für Frauen und Männer verfügbar sind? Wird man zusätzlich zur Frauenquote auch eine für Intersexuelle einführen müssen? Was ist mit Transsexuellen, die nicht zum anderen Geschlecht wechseln wollen, sondern zu keinem von beiden? Die Amsterdamer Regisseurin Sophie Dros begleitete in der Dokumentation "Genderbende" junge Menschen, die sich nicht eindeutig ins binäre Spektrum einordnen wollen.

Vielleicht gibt es auch eine Zukunft gänzlich ohne Damen-, Herren- und Inter-Toiletten, ohne geschlechtsbezogene Anrede, sondern nur noch mit Einzelkabinen für Menschen ohne (erkennbares) Geschlecht. Wäre das der verwirklichte Traum des Individualismus oder ein Albtraum? Für den Staat könnte es sogar einfacher und effizienter sein, die Bürger geschlechtsneutral anzusprechen. Welche Privilegien würden wir dann verlieren und wollen wir das?

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.