Acht Prozent sind acht Prozent zu wenig
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Mit sinkenden Reallöhnen lässt sich die Inflation nicht bekämpfen. Ein Gastbeitrag.
Am 12. September haben die Tarifverhandlungen für die etwa vier Millionen Beschäftigen in der deutschen Metall- und Elektroindustrie begonnen. Der nun zu verhandelnde Tarifabschluss hat wegen des noch immer großen Gewichts der Industrie in Deutschland eine große volkswirtschaftliche Bedeutung. Vor dem Hintergrund der galoppierenden Inflation geht von den Tarifverhandlungen zudem eine wichtige Signalwirkung für die Lohn- und Gehaltsentwicklung auch in anderen Branchen aus.
Die IG Metall ist mit der Forderung nach einer Anhebung der Tariflöhne um acht Prozent in die Tarifverhandlungen gegangen. Das ist auf den ersten Blick verblüffend, dann damit liegt die Latte der Gewerkschaft weit unterhalb des aktuellen Preisanstiegs.
Schon vor einigen Wochen prognostizierte die Bundesbank, dass der Verbraucherpreisanstieg in diesem Herbst im zweistelligen Bereich liegen werde. Tatsächlich hatte sich die Inflation im August im Vergleich zum Vorjahresmonat schon auf 7,9 Prozent beschleunigt. Im September droht ein weiterer Inflationsschub, weil inflationsdämpfende staatliche Maßnahmen zurückgenommen wurden.
Falls die Inflationsrate tatsächlich auf über zehn Prozent steigt, wären die Verbraucherpreise in Deutschland innerhalb von nur zwei Jahren um mehr als 15 Prozent gestiegen, denn schon im Herbst letzten Jahres hatten sie um etwa 5 Prozent zugelegt. Ein Ende der inflationären Dynamik ist zudem nicht in Sicht.
Nachdem Zentralbanken und Ökonomen Irrtümer in ihren Inflationsprognosen einräumen mussten, gehen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland nun davon aus, dass die Inflation über das gesamte nächste Jahr kaum unter zehn Prozent liegen wird.
Zu wenig und zu spät
Die IG Metall verzichtet mit ihrer Acht-Prozent-Forderung nicht nur auf einen Ausgleich für die verlorene Kaufkraft in diesem Jahr, sie akzeptiert auch, dass die Preise im nächsten Jahr wieder den Löhnen davonlaufen werden. Obendrein nimmt sie hin, dass die in den letzten beiden Jahren eingetretenen Reallohnverluste von den Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie nun endgültig geschluckt werden.
Denn bereits in Jahren 2020 und 2021 gab es nur geringe nominale tarifvertragliche Lohn- und Gehaltssteigerungen, so dass sich bis Ende 2021 ein Reallohnverslust von 2,3 Prozent ergab, wie der Arbeitgeberverband Gesamtmetall in einer aktuellen Studie ausweist.
Der Tarifbereich der IG Metall ist damit jedoch keine Ausnahme, denn auch in der Gesamtwirtschaft sind die durchschnittlichen Reallöhne gesunken. Der Reallohnindex des Statistischen Bundesamtes weist für die Jahre 2020 und 2021 insgesamt einen Reallohnverlust von einem Prozent aus.
Im zweiten Quartal 2022 hat sich der Reallohnverlust beschleunigt. Gegenüber dem Vorjahresquartal waren die durchschnittlichen Reallöhne in Deutschland bereits um weitere 4,4 Prozent gesunken.
Der Staat kann nicht helfen
Die IG Metall begründet ihre niedrige Lohnforderung damit, dass es vielen Unternehmen wirtschaftlich zu schlecht gehe, um höhere Lohnforderungen zu verkraften. Um die Beschäftigten dennoch vor weiteren Reallohnverlusten möglichst zu schützen, fordert sie nun staatliche Maßnahmen, die die Beschäftigten vor dem Preisanstieg abschirmen sollen.
Und tatsächlich hat die Bundesregierung nach bereits zwei Entlastungspaketen nun ein drittes Entlastungspaket in Arbeit, das die Inflation dämpfen und dafür sorgen soll, dass die Bürger mehr Geld in der Tasche haben, um steigende Preise auch ohne Lohn-Inflationsausgleich zu verkraften.
Das Ansinnen der Gewerkschaften, den Staat einzuspannen, um weitere Reallohnverluste zu verhindern, zeigt, dass sie in der Klemme stecken. Sie wollen einerseits verhindern, dass die vielen Unternehmen, die bereits vor dem akuten Energie- und allgemeinen Erzeugerpreisanstieg – und wegen Preisschüben durch aus dem Takt geratene Lieferketten – kaum profitabel waren, aufgrund von zusätzlich steigenden Löhnen und Gehältern aufgeben müssen.
Andererseits wollen sie mit niedrigen Lohnforderungen die Unternehmen schützen, die erst durch diese Krisen in existenzielle Not geraten sind, weil es ihnen nicht gelingt, die gestiegenen Kosten an ihre Kunden weiterzugeben. Um Arbeitsplatzverluste zu verhindern, sind sie nun offenbar zu Reallohneinbußen bereit.
Denn selbst wenn staatliche Entlastungspakete einen gewissen Ausgleich schaffen sollten, werden sie aufgrund der enormen Kosten endlich sein und wieder zurückgefahren werden müssen. Was dann bleibt, sind hohe Verbraucherpreise und ein niedrigeres Lohnniveau.
Zu viel Geld, zu wenig Investitionen
Die Gewerkschaften haben sich in den Augen des Verfassers dieser Zeilen selbst in diese missliche Lage gebracht, da sie eine Wirtschafts- und Geldpolitik der letzten Jahrzehnte mitgetragen haben, die dazu beigetragen hat, dass die Widerstandskraft der Unternehmen, mit der sie temporäre Erzeugerpreissteigerungen sowie auch langfristigen Kostenschübe ausgleichen könnten, inzwischen vollständig verlorengegangen ist.
Die Ursache für die fehlende Resilienz der Unternehmen gegenüber Preissteigerungen beruht darauf, dass es ihnen in Deutschland wie auch in allen entwickelten Volkswirtschaften kaum noch gelingt, technologische Verbesserungen einzuführen, die deutliche Kostensenkungen ermöglichen. Erkennbar ist dies an den im Verhältnis zur Wertschöpfung sinkenden Investitionen in neue Anlagen und Maschinen und der dadurch gelähmten Entwicklung der Arbeitsproduktivität.
Seit den 1960er Jahren sind die jährlichen Produktivitätsfortschritte immer geringer geworden, wobei sich dieser Trend seit der Finanzkrise 2008 und dem Versuch, die Realwirtschaft mit immer billigerem Geld und massiver fiskalischer Konsumstimulierung über Wasser zu halten, nochmals verschärft hat.
Die Wirtschafts- und Geldpolitik in den entwickelten Volkswirtschaften ist darauf ausgerichtet zu viele schwache und kaum profitable Unternehmen auf Dauer am Leben zu erhalten. Diese Unternehmen sind letztlich auf niedrige Löhne angewiesen, um wirtschaftlich zu überleben. Das Hauptproblem ist jedoch, dass diese Wirtschaftspolitik die gesamte Wirtschaft gelähmt hat.
Denn indem man wirtschaftliche Restrukturierungen verhindert und die damit einhergehende Kapitalvernichtung scheut, beeinträchtigt man durch den Erhalt einer zu großen Kapitalbasis die Profitabilität auch der besser aufgestellten Unternehmen.
Auch ihnen gelingt es heute kaum noch, die notwendigen oft extrem hohen Investitionen zur Einführung neuer Technologien zu stemmen, um auf diesem Weg die Kosten zu senken und Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Zudem ist das damit verbundene Ziel, schwächere Wettbewerber zu verdrängen, politisch nicht gewollt.
Mit allen zur Verfügung stehenden wirtschafts- und geldpolitischen sowie mit gesetzgeberischen Mitteln, werden wettbewerbsschwache Unternehmen erhalten. Die Unternehmen sind daher dazu übergegangen, ihre Profitabilität zu stärken, indem sie auf riskante Investitionen in neue Technologien weitmöglichst verzichten.
Ganz im Gegenteil steigern sie ihre Ertragskraft, indem sie durch das Eindampfen ihrer Investitionsbudgets die Kosten drücken. So kommt es, dass die Unternehmen in Deutschland seit den frühen 2000er Jahren steigende Finanzierungsüberschüsse erzielen, also netto kein Kapital mehr aufnehmen müssen, sondern den Kapitalmärkten freie Mittel zur Verfügung stellen.1