Afghanistan: Am Ende ein Kampf um Kabul?
Heute beginnen in Katar neue Friedensgespräche. Wer kann die Taliban auf ihrem militärischen Siegeskurs aufhalten?
Der Eroberungskrieg der Taliban geht weiter. Pentagon-Sprecher John Kirby teilte mit, dass der Trend der Sicherheitssituation in Afghanistan in die falsche Richtung laufe und die USA darüber sehr besorgt seien. Aber: Die afghanischen Sicherheitskräfte hätten die Fähigkeiten, die Insurgenten zu bekämpfen.
Es sind ihre Streitkräfte, es sind ihre Provinzhauptstädte, ihre Bevölkerung, die es zu verteidigen gilt, und es wird wirklich darauf ankommen, welche Führungsstärke sie in diesem besonderen Moment an den Tag zu legen bereit sind.
John Kirby
US-Präsident Joe Biden äußerte sich kürzlich ähnlich: Die afghanischen Sicherheitskräfte hättes es selbst in der Hand. Die Vereinigten Staaten hätten mehr als genug getan, um die afghanische Polizei und das Militär dazu zu befähigen, die Zukunft ihres Volkes zu sichern.
Die Eroberungen
In den Tagen seit dem 6. August haben die Milizen der islamistischen Fundamentalisten fünf Provinzhauptstädte erobert: beginnend mit Sarandsch (engl: Zaranj), die Hauptstadt der Provinz Nimrus, an der Grenze zu Iran; am 7. August dann Scheberghan (engl: Shibirghan, Sheberghan), Hauptstadt der Provinz Provinz Dschuzdschan (engl: Jowzjan), die sich im Norden des Landes befindet, an der Grenze zu Turkmenistan. Am 8. August Kundus (Kunduz), Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, und Sar-i Pul, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Norden des Landes, sowie Taloqan, Hauptstadt der Provinz Tachar (Takhar) ebenfalls im Norden des Landes, an der Grenze zu Tadschikistan.
Am gestrigen Montag haben die Taliban Aibak (Aybak, öfter auch: Samangan), Hauptstadt der Provinz der Provinz Samangan im Norden des Landes unter ihre Kontrolle gebracht.
Das Rückgrat getroffen
Geht es nach einer Analyse des US-Magazins Long War Journal, so trifft der Vorstoß der Taliban-Milizen im Norden des Landes einen Nervenstrang der Regierung: Dort seien prominente afghanische Politiker, Beamte und Machthaber, die das Rückgrat der afghanischen Regierung und der Sicherheitskräfte bilden, ansässig. Der militärische Plan dafür stehe schon seit langem. Die Taliban hätten ihre vor mehr als einem Jahrzehnt sorgfältig geplante Strategie des "Aufstands" (Insurgenz) in ländlichen Gebieten geduldig umgesetzt.
Während sich die USA, die NATO und die afghanischen Sicherheitskräfte auf den Schutz der städtischen Bevölkerung konzentrierten, bauten die Taliban ihre Stärke in den ländlichen Gebieten aus, übernahmen die Kontrolle über abgelegene Bezirke und nutzten diese Stützpunkte, um ihren Einfluss auszuweiten. Die US-Generäle taten den Aufstand der Taliban auf dem Lande ab - zu ihrem eigenen Schaden.
Bill Roggio, Long War Journal
Auch die afghanische Regierung habe einen strategischen Fehler begangen, weil sie versucht habe, das gesamte Land zu verteidigen, was zu einer Überdehnung der Sicherheitskräfte geführt habe. Die reguläre Armee, Polizei und Hilfskräfte konnte die Taliban nicht aufhalten, kapitulierten oder flohen.
Das Militär hat sich zu sehr auf die afghanische Luftwaffe, Kommandos und Spezialeinheiten verlassen, um die Taliban abzuwehren. Diese afghanischen Elitetruppen, die zahlenmäßig begrenzt sind, werden am Boden gehalten. Die Kommandotruppen werden in Städten wie Lashkar Gah in Helmand und Kandahar City eingesetzt, wo die Kontrolle der Regierung auf Stadtviertel und Stadtteile beschränkt ist. Außerdem setzt die afghanische Luftwaffe Luftfahrzeuge und Munition für Angriffe in diesen südlichen Städten ein, die wahrscheinlich fallen werden, da sie isoliert sind und die Taliban entschlossen sind, sie einzunehmen.
Bill Roggio, Long War Journal
Politische Agenden
Nun gibt es noch andere Einschätzungen. Beachtenswert sind zum Beispiel die detaillierten und hintergründigen Lage- und Ortsberichte der Afghanistan-Analysts, die in der Vergangenheit sehr präzise und ortskundig die Schwierigkeiten darlegten, mit denen die afghanischen Sicherheitskräfte in ihren jeweiligen lokalen Missionen zu tun hatten. Leider ist die Seite am heutigen Tag nicht erreichbar. Der Bericht über den Fall der Provinz Nimrus im Südwesten Afghanistans dürfte erfahrungsgemäß wichtige Einsichten in die Abläufe liefern, die die Sicherheitslage im Land "in die falsche Richtung" (John Kirby, Pentagon) treiben.
Zu den Analysen, die vom Long War Journal kommen, ist zu erwähnen, dass sie meist schneller und rücksichtsloser auf die Eroberungen und militärischen Stärken eingehen als die offiziellen Äußerungen aus der US-Führung. Das LWJ dokumentierte schon seit Jahren die Geländegewinne der Taliban, als die offiziellen US-Lageberichte noch ganz auf Beschönigung der Situation ausgerichtet waren. Die Betreiber betonten auch unnachgiebig und unermüdlich, dass die Verbindungen der Taliban zur al-Qaida sehr viel enger sind und unterstützend, als es die Taliban bei den Verhandlungen in Katar mit US-Vertretern darstellten.
Hier kommt dann allerdings auch eine politische Agenda des LWJ ins Spiel. Sie ist ein Ableger des Think Tanks Foundation for Defense of Democracies (FDD), eine einflussreiche neokonservative Institution, die ein striktes Anti-Iran-Hardlinertum pflegt. Weswegen nicht wenige Analysen letztlich zum Schluss kommen, dass Iran seine Finger im Spiel hat, sei es bei al-Qaida in Afghanistan oder auch bei den Taliban. Summa summarum finden bei FDD oder dem Long War Journal Interventionisten ihre Bühne.
Mit der Einsicht, dass die afghanischen Sicherheitskräfte überfordert sind, stehen sie allerdings nicht allein. Große Unterschiede gibt es allerdings in der Antwort darauf, wie damit umzugehen ist. Auch in Deutschland wurde gestern über eine neue militärische Intervention diskutiert, wobei die Sache vorerst wohl noch im abgehobenen, spekulativen Bereich bleibt. Es sieht nicht danach aus, dass es bis zur Wahl im September eine politische Mehrheit dafür zu gewinnen gäbe.
Die Wahrscheinlichkeit eines internen Krieges
Indessen kommen von der afghanischen Regierung beunruhigende Aussagen. Der afghanische Präsident Ashraf Ghani betrachte die Friedensgespräche mit den Taliban als gescheitert, berichtete das US-Medium Bloomberg gestern und kündete von der Absicht Ghanis, "sowohl die Zivilbevölkerung bewaffnen als auch mit den Warlords zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass die militante Gruppe seine Regierung in Kabul überrollt".
Es sind Stimmen aus dem Präsidentenpalast, die Bloomberg dazu eingefangen hat, keine Quellen werden genannt, man sollte solchen Hören-Sagen-Insider-Infos skeptisch gegenüberstehen. Bemerkenswert ist folgende Stimmungsbeschreibung:
Menschen, die mit der Situation vertraut sind, beschreiben die Stimmung im Präsidentenpalast als schlimmer denn je und sagen, dass Ghani sich zunehmend isoliert fühlt, da die USA das Land verlassen und die Taliban diplomatische Unterstützung von wichtigen Ländern wie Pakistan, Russland und China erhalten. Sein einziger Ausweg bestehe darin, die afghanischen Gruppen, die gegen die Taliban kämpfen, in einem drohenden Bürgerkrieg zu vereinen - ähnlich wie in den 1990er Jahren.
Bloomberg
Der Doha-Prozess wäre damit am Ende, Ghani setze auf Bürgerkrieg, so auch der Journalist Pepe Escobar in Asia Times. Auch er sieht, dass der "Blitzkrieg" der Taliban die Situation stark verändert und Möglichkeiten eingeschränkt hat.
Pepe Escobar: "Der letzte Akt wird die Schlacht um Kabul sein"
Heute beginnen neue Friedensgespräche mit Taliban-Vertretern in Katar, diesmal nicht nur mit Vertretern der USA, auch Russsland und China sind beteiligt, dazu die EU, die UN und auch Pakistan. Hoffnungen sind beschränkt, so Escobar.
Die Taliban werden auf keinen Fall über diesen Sieg "verhandeln" - weder in Doha noch anderswo.
Pepe Escobar
Noch Mitte Juli verwies Escobar auf die Einflussmacht der beiden Schwergewichte China und Russland innerhalb der Shanghai Cooperation Organization (SCO), die die Situation in Afghanistan verbessern könnten. Dazu berichtete er von einem Fahrplan, den der chinesische Außenminister Wang Yi dem afghanischen Amtskollegen Mohammad Haneef unterbreitet hatte.
Nun sieht er angesichts des vertrackten Einflussgerangels um Afghanistan, wo auch die Interessen Indiens und Pakistans vital mitspielen, dazu die Nachbarn, Iran und die ehemaligen Sowjetrepubliken, dem geopolitischen Konflikt zwischen den USA und China über Einflusssphären, eine Bewährungsprobe auf die SCO zukommen:
Die Zeit ist also reif für den ultimativen Test der SCO: Wie kann man eine fast unmögliche Vereinbarung über die Teilung der Macht in Kabul zustande bringen und einen verheerenden Bürgerkrieg mit imperialen B-52-Bombardements verhindern?
Pepe Escobar
Der Journalist, der seine Berichte anders und unbefangener aufzieht als Nachrichtenjournalisten von Agenturen oder Reporter von großen Medien wie New York Times oder Le Monde, angereichert durch Erfahrungen vieler Reisen und informellen Gesprächen und Kontakten, mit einem Gout für erzählerische Dramaturgie, sieht die Situation in Afghanistan auf einen Showdown in Kabul zulaufen:
Der letzte Akt wird die Schlacht um Kabul sein. Dies könnte bereits im September geschehen, in einer verzerrten "Feier" zum 20. Jahrestag von 9/11 und der amerikanischen Bombardierung von Talibanistan 1996-2001.
Pepe Escobar