Eroberungskrieg der Taliban: Sorge vor einem Massenexodus

Kunduz. Bild (2010): Dirk Haas; CC BY 2.0

Afghanistan: Beobachter befürchten ein neuen Bürgerkrieg; CDU-Außenpolitiker Röttgen plädiert für eine militärische Intervention mit Beteiligung der Bundeswehr

Schritt für Schritt erobern die Taliban die Kontrolle über Afghanistan. Und sie sind laut jüngsten Meldungen dabei, ihre Offensive nach Norden auszudehnen. Einen Waffenstillstand lehnen sie ab. Das haben viele so ähnlich vorausgesehen; überraschend ist das Tempo, mit dem die islamistischen Milizen sich in den vergangenen Tagen wichtige Provinzstädte untertan gemacht haben.

Da auch Kundus (oft: Kunduz) dazu zählt, wo vormals Bundeswehreinheiten stationiert waren, trifft der Eroberungskrieg in Afghanistan auf Aufmerksamkeit in Deutschland, wo ansonsten andere Themen dominieren. Es ist ja Wahlkampf zu Zeiten von erneut ansteigenden Infektionen und Lagerdebatten.

Was Afghanistan angeht, so hat der FAZ-Nahostexperte Rainer Hermann das angesprochen, was auch hierzulande Aufmerksamkeit für die Vorgänge in dem weitentfernten Land erzielt: Die Nachbarstaaten und Europa müssten sich auf einen Massenexodus aus Afghanistan vorbereiten.

Das Scheitern einer beinahe zwei Jahrzehnte dauernden internationalen Militärmission in Afghanistan zeigt sich in der neuen Wirklichkeit im Land. Die Lage in Afghanistan wird uns weiter beschäftigen, meint Herrmann. Er nennt dazu drei Gründe: Einmal die Verantwortung Deutschlands für die afghanischen Helfer der Bundeswehr, den sogenannten "Ortskräften", die sich samt Familie vor den Taliban fürchten müssen.

Die anderen beiden Gründe haben mit der Migrationspolitik zu tun: der Stopp von Abschiebungen, weil auch der Bundesregierung nicht mehr an der Einsicht vorbeikommen werde, "dass es in Afghanistan keine sicheren Regionen mehr gibt". Als dritten Punkt erwähnt er den angesprochenen Massenexodus, infolge eines Bürgerkriegs, in den das Land gerade versinke.

Hört man sich an, was der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla zum Thema Asyl und Afghanistan sagt - "Kann da jeder kommen?" -, so bekommt man eine Vorahnung dessen, welche Erregungswellen in den kommenden Diskussionen auf uns zurollen und welche Brecher da hart aufklatschen.

In der Diskussion: Erneute militärische Intervention

Immer wieder wird eine erneute militärische Intervention ins Spiel gebracht. In den USA gab es seitdem die ernsthaften Afghanistan-Abzugspläne in der Regierung Trump bekannt wurden, Stimmen aus der Militärführung, gestützt von Think Tanks, die in Washington Einfluss haben, drängten darauf, dass US-Truppen im Land bleiben. Ob noch US-Spezialtruppen noch in Afghanistan - außerhalb der US-Botschaft in Kabul - sind, wissen nur Insider. So oder so richten diese Einheiten wenig gegen die Eroberungsoffensive der Taliban aus.

Auch ein US-Luftkrieg hat beim Eroberungszug der Taliban von der Peripherie ins Herz Afghanistans nur beschränkte Möglichkeiten, wie das Blog Moon of Alabama analysiert: "Aber die USA können nicht überall bombardieren, und so fiel (am vergangenen Freitag, Anm. d. A. ) die erste Provinzhauptstadt, Zaranji der Provinz Nimruz an der iranischen Grenze, ohne großen Widerstand. Im Jahr 2015 hatte die Stadt etwa 160.000 Einwohner. Sie ist zwar nicht groß, aber durchaus bedeutsam."

Am Sonntag bestätigten hochrangige US-Regierungsvertreter laut New York Times, dass die jüngsten militärischen Erfolge der Taliban Präsident Biden nicht dazu bewogen hätten, seine Entscheidung zu überdenken, den US-Kampfeinsatz bis Ende des Monats zu beenden. Die Zeitung erwähnt dazu noch eine Positionserklärung Bidens vom Juli:

In einer Rede zur Verteidigung des US-Abzugs im vergangenen Monat sagte Biden, die Vereinigten Staaten hätten mehr als genug getan, um die afghanische Polizei und das Militär zu befähigen, die Zukunft ihres Volkes zu sichern. US-Vertreter haben eingeräumt, dass diese Kräfte es schwer haben werden, argumentieren aber, dass sie nun für sich selbst sorgen müssen.

New York Times

Die New York Times hat, wie es am Deutlichsten vor Beginn des Einmarsches der US-Truppen im Irak im Jahr 2003 zu sehen war, aber auch in den Fällen Syrien und Libyen, eine, sachte formuliert, ambivalente Position gegenüber Militärinterventionen: Sie unterstützt sie sehr häufig, um dann später auf die Kosten hinzuweisen, was sie aber bei der nächsten Debatte über eine militärische Lösung nicht davon abhält, wiederum Autoren und Beiträge zu veröffentlichen, die Hilfe für eine bedrohte Bevölkerung in Form von militärischen Interventionen zu fordern.

Das ist eine schwierige Debatte, die auch in Deutschland angestoßen wird. So plädiert der aus dem CDU-Rennen um eine Kanzlerkandidatur frühzeitig ausgeschiedene Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, dafür, dass sich die Bundeswehr an einer militärischen Intervention beteiligt, um die Taliban zu stoppen:

Ich finde, das folgt aus unserer eigenen Betroffenheit. Wenn in Afghanistan in Verbindung mit den Taliban auch das islamistische Terror-Netzwerk Al-Qaida wieder Fuß fasst, dann ist unsere Sicherheit in Europa womöglich noch stärker bedroht als die der Vereinigten Staaten.

Unsere Verantwortung resultiert auch daraus, dass wir nicht zulassen sollten, dass die Ergebnisse unserer Aufbau-Bemühungen in Afghanistan nach zwanzig Jahren zunichte gemacht werden. Wenn es also militärische Fähigkeiten der Europäer, auch der Deutschen, gibt, die jetzt benötigt würden, dann sollten wir sie zur Verfügung stellen.

Gegenwärtig geht es offenbar vor allem darum, den Vormarsch der Taliban durch Luftschläge zu stoppen, womit die Amerikaner ja schon begonnen haben.

Norbert Röttgen

Es dürfe nicht zugelassen werden, dass die Taliban militärisch einseitig Fakten schaffen, so Röttgen. Zwanzig Jahre lang hat die internationale Gemeinschaft unter Führung der USA und der Nato in Afghanistan versucht, das zu verhindern. Umsonst, wie man sieht.

Vielleicht sind jetzt besser andere dran? Es gibt Nachbarländer und Länder in der Region, die ein vitales Interesse daran haben, dass die Lage in Afghanistan nicht eskaliert.