Afghanistan: Evakuieren und abschieben

Evakuierung Flughafen Kabul, 21. August 2021. Foto: US. Centcom/gemeinfrei

Nach dem IS-Anschlag in Kabul: US-Präsident Biden in der Kritik. In Deutschland werden die Abschiebungen neu in den Blick gerückt

13 US-Soldaten kamen gestern bei zwei Selbstmordanschlägen auf der Zufahrt zum Kabuler Flughafen ums Leben. Der afghanische Zweig des "Islamischen Staates" (ISIS-K) machte mit Bekenntnisschreiben und Videos groß auf seine Täterschaft des Massenmordes aufmerksam. Die Opferzahlen unter den Afghanen wurden in den letzten Stunden ständig neu nach oben korrigiert. Derzeit stehen sie bei 90 Toten.

Wer gestern Abend die Schlagzeilen über die hohe Zahl der Toten unter den US-Militärs las, konnte ahnen, das dies in Washington hohe Wellen schlagen würde. Sämtliche US-Militäroperationen waren seit vielen Jahren darauf ausgerichtet, so wenig Verluste wie möglich in Kauf zu nehmen. Getötete US-Soldaten sorgen für großen Trouble an der Heimatfront: Aus der Krise wird eine Katastrophe titelte der Spiegel heute, "eine schwarze Stunde für Amerika - für Joe Biden".

Es gibt erste Rücktrittsforderungen sowie Forderungen nach einem Impeachmentverfahren aus den Reihen der Republikaner. Biden verkündete Vergeltung an die Adresse der IS-Milizen in Afghanistan: "Wir werden euch jagen, und wir werden euch dafür bezahlen lassen."

Kriegstreiber, Taliban und IS

Widersacher Trump reagierte, anders als noch kurz zuvor, für seine Maßstäbe relativ zurückhaltend. Eine Erklärung dafür wäre, dass er am politischen Wespennest mitbaute, das die Startbasis für die Angriffe auf die Biden-Regierung abgibt: die Zusammenarbeit der USA mit den Taliban. Plötzlich wird deutlich, dass beide in Afghanistan Verbündete im Anti-Terrorkampf gegen den Islamischen Staat sind.

Dies verläuft quer zu Vorstellungen, Feindbildern und Gräben zwischen Lagern, die seit Herbst 2001 ausgebildet und zementiert wurden. Politische Kreise, Think-Tanks, das berüchtigte Washingtoner Playbook, das "Drehbuch" für Politiker, ihre Profile, das alles lebte davon, dass die radikal-islamischen Taliban auf der anderen, der bösen Seite, stehen.

Gestern gab es eine "Scoop-Nachricht" von Politico, die auch hierzulande schnell in sozialen Netzwerken aufgenommen wurde: Die USA hätten an die Taliban Listen mit Namen von afghanischen Mitarbeitern weitergegeben. Das wurde dann in sozialen Netzwerken unter "Stockholm-Syndrom" eingereiht - wie kann man nur an die mörderischen Fanatiker Listen weitergeben, die in ihren Händen zu Todeslisten werden?

Die andere Perspektive auf die Geschehnisse der letzten Tage lautet: Hätte sich die US-Führung früher auf Vereinbarungen mit den Taliban eingelassen (und auf Einladungs-Signale geachtet, die man an die Bevölkerung schickte), hätte man die Evakuierung geordnet und ruhig organisieren können, ohne die Panik, die Tumulte und das Chaos, den die IS-Attentäter ausnutzen.

Dieser Standpunkt wird von einem Analysten geäußert, der als scharfer Kritiker der US-Außenpolitik bekannt ist und mit Islamisten gar nichts am Hut hat. Der Autor hinter Moon of Alabama ist vor allem skeptisch gegenüber den Kriegstreiberfraktionen in den USA. In diesem Fall traut er den Amnestie-Versprechen der Taliban:

Die Taliban haben kein Interesse an Geiselnahmen oder an der systematischen Rache an afghanischen Mitarbeitern, die mit ausländischen Regierungen zusammengearbeitet haben. Sie haben öffentlich eine vollständige Amnestie erlassen. Außerdem brauchen sie Geld, internationale Anerkennung und Unterstützung.

Moon of Alabama

US-General McKenzie machte vor Ort offenbar Erfahrungen, die das Vertrauen in die Taliban in dieser Hinsicht bestätigen, was sich unter anderem an seiner Reaktion auf die Anschläge gestern zeigte. Er schob die Schuld nicht auf die Taliban, die die IS-Selbstmordattentäter durchgelassen hätten. Die Sache werde noch überprüft, die Bomben wurden wahrscheinlich bei der Überprüfung durch US-Sicherungsposten ausgelöst.

Diese Haltung ist nicht selbstverständlich. Es gibt vor allem unter den Republikanern, bei den hartgesottenen Interventionisten, eine Fraktion, in deren politischer Agenda das Axiom eingeschrieben ist, dass die Taliban mit ISIS-K und der al-Qaida in einem Boot sitzen. Zwar kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass die jahrelangen, engen Verbindungen zwischen den Taliban und al-Qaida weiterbestehen - inwieweit hier die Kontrollen funktionieren, ist eine andere Frage, aber Abmachungen, dass von al-Qaida keine Gefahr für andere Länder ausgehen soll, haben die Taliban-Vertreter nicht nur den USA gegenüber abgegeben, sondern auch China und Russland.

Was das Verhältnis der Taliban zu den afghanischen IS-Milizen angeht, so kann man ganz klar von einer Feindschaft ausgehen. Es ist bemerkenswert, wie viele Dutzende Links bei Faran Jeffery zu finden sind, die über die letzten Jahre dokumentieren, wie hart, blutig und brutal Kämpfe zwischen den Taliban und den IS-Milizen verliefen. Jeffery, pakistanischer Herkunft, mit derzeitigem Sitz im UK, ist Vizechef des Think Tanks Islamic Theology of Counter Terrorism (ITCT), dem es um die Aufdeckung der Narrative von islamischen Terrorismus und Radikalisierung geht.

In den letzten Wochen beschäftigte sich "Natsecjeff" ausgiebig und detailliert mit den Vorgängen in Afghanistan, er ist eine gute Konter-Quelle gegenüber den Schnellschüssen, die nicht zuletzt auch in Medien mit großen Reichweiten in Deutschland abgefeuert werden. Auf seiner Twitterseite finden auch Meldungen, die darauf verweisen, dass die US-Luftwaffe in Afghanistan schon früher aufseiten der Taliban gegen ISIS-K im Einsatz war. "Die Taliban und die USA sprechen nicht gerne darüber, aber es ist passiert."

Deutschland: "Politisch-mediale Blase in Berlin"

Manches wird nicht gerne an die Öffentlichkeit getragen. Lange wurde in Deutschland vom Innenministerium die Lage in Afghanistan als derart sicher eingeschätzt, dass man Afghanen, die keine gültige Aufenthaltsberechtigung hatten, wieder ins Land abschob. Jetzt läuft der Wahlkampf auf höheren Touren und so rückt ein Aspekt der Afghanistan-Krise und der Evakuierungen wieder in den Mittelpunkt: die Sorge vor einer größeren Fluchtbewegung und dazu die Diskussion über Abschiebungen.

Zuletzt kamen Berichte, zu lesen etwa in der Welt, in die Aufmerksamkeit, die davon sprachen, dass zumindest ein großer Teil der abgeschobenen Afghanen Straftäter seien, was den Abschiebungen in der Öffentlichkeit Legitimation verschafft. In der TV-Sendung Markus Lanz argumentierte Telepolis-Autor Emran Feroz gegen diese eingeschränkte und verzerrende Wahrnehmung.

Er spricht von einer "politisch-mediale Blase in Berlin", die sich eine eigene Wirklichkeit schafft. Dokumente aus Sachsen deuten pars pro toto darauf hin, dass die Saga, wonach hauptsächlich Straftäter nach Afghanistan abgeschoben werden, einem neuen Wirklichkeitstest ausgesetzt werden muss.