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Afghanistan: US-Truppen "davongeschlichen"

Thomas Pany

Archivfoto: US-Flugzeug beim Training in der NĂ€he der Airbase Bagram/US-Verteidigungsministerium/gemeinfrei

Die große MilitĂ€rbasis Bagram wurde verlassen. US-PrĂ€senz in Kabul bleibt

Die US-Truppen haben ihre grĂ¶ĂŸte MilitĂ€rbasis - und ihre grĂ¶ĂŸte Folterkammer [1] - in Afghanistan verlassen. Wie der neue afghanische Kommandeur der Basis, General Asadullah Kohistani, Medien mitteilte, verließen die US-Truppen die Bagram Air Base am vergangenen Freitag um 3 Uhr morgens Ortszeit, ohne ihm vorher Bescheid zu geben [2].

Nach fast 20 Jahren Anwesenheit soll das US-MilitÀr den Strom abgeschaltet und sich in der Nacht "davongeschlichen" haben [3], ohne den neuen afghanischen Kommandeur der Basis zu benachrichtigen. Der entdeckte die Abreise der Amerikaner dann mehr als zwei Stunden spÀter, erzÀhlten afghanische MilitÀrs dem Sender al-Jazeera.

Was PlĂŒnderer auf der Flugbasis noch genau an Beute vorfanden, geht aus dem Tolo-Video [4] zum verlassenen GelĂ€nde nicht hervor, auch der BBC-Bericht, der neben Zehntausenden von Wasserflaschen, Energydrinks und Essensrationen Tausende von zivilen Fahrzeugen erwĂ€hnt, die ohne SchlĂŒssel hinterlassen wurden, lĂ€sst Fragen offen, unter anderem die Frage nach dem weiteren Verbleib von bis zu 5.000 Taliban [5], die auf der Bagram Air Base gefangen gehalten wurden, wie der BBC-Bericht nahelegt dann bei der Übernahme zeigte.

Die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, war gestern wortkarg, als sie danach gefragt wurde, wie denn die Info-Politik der US-MilitĂ€rs genau aussah [6]. Sie verwies, ohne Namen zu nennen, auf das Pentagon, "denn sie sind die Verantwortlichen vor Ort, die an die afghanischen FĂŒhrer vor Ort ĂŒbergeben haben". Man habe "angemessen informiert, aber nicht ĂŒber die genaue Uhrzeit [7]", hatte zuvor Pentagon-Sprecher John Kirby bekanntgegeben.

Kontinuierliche PrÀsenz in Kabul fortsetzen

Das ist keine große Sache, aber vielsagend. Der Abzug der US-Soldaten aus ihrer wichtigsten Basis verlĂ€uft aus SicherheitsgrĂŒnden heimlich - anderseits wissen alle wichtigen Player im "afghanischen Spiel" lĂ€ngst Bescheid -, der Abzug geschieht ohne Triumpf und Feierlichkeiten, weil er Konsequenz und EingestĂ€ndnis einer militĂ€rischen und politischen Niederlage ist. Die Zeit arbeitet weiter gegen das, was die USA einmal als Ziel in Afghanistan ausgegeben hatten: mehr Sicherheit.

Laut Psaki werden die USA, ihre "kontinuierliche PrÀsenz in Kabul fortzusetzen, die auch dann weitergeht, wenn wir unsere Soldaten, die dort dienen, bis Ende August nach Hause bringen". Man werde weiterhin Partner der afghanischen Regierung sein. Dazu gehöre eine "over-the-horizon capacity" und die PrÀsenz vor Ort auf dem Boden der US-Botschaft in Kabul [8].

Das sind Andeutungen, die ebenfalls noch viele Fragen offenlassen. Wie wird die "over-the-horizon capacity" genau ausschauen, gemeint ist damit die FĂ€higkeit, aus der Luft, mit Drohnen, Raketen und Flugzeugen zuzuschlagen (vgl. Krieg aus der Ferne [9]), falls die Sicherheitslage dies erfordert. Was werden die Kriterien dafĂŒr sein? Kann man ernsthaft davon ausgehen, dass die US-MilitĂ€rs, die auf dem GelĂ€nde der Kabuler Botschaft, die einzige Truppe sein wird, die in Afghanistan bleibt? Bei Strategiebesprechungen [10] im FrĂŒhling dieses Jahres wurde erörtert, dass Spezialtruppen im Einsatz bleiben.

Die Taliban

Wie werden die Taliban auf US-Truppen reagieren, wenn diese ihren PlÀnen im Weg stehen? Wie verlÀsslich ist der Schutz, den die USA der afghanischen Regierung versprechen, nachdem all die Verhandlungen zwischen den US-Vertretern und den Taliban-Vertretern der afghanischen Regierung wie auch der afghanischen Zivilgesellschaft [11] keinerlei Garantien und Sicherheit hinterlassen haben? Die USA schauten vor allem auf ihre Interessen.

Die Ziele der Taliban sind klar, ihre FĂŒhrer haben nichts mit Demokratie am Turban, ihre Gefolgsleute ebenso wenig, der Druck der Bevölkerung, sich ihrem Herrschaftsmodell anzupassen, wird wachsen. Er wĂ€chst mit den militĂ€rischen Eroberungen [12], die die Taliban-Milizen in jĂŒngster Zeit machen und der "Kollaps der afghanischen StreitkrĂ€fte [13], der schneller geschah als angenommen".

Karten zu den Eroberungen [14] und eine ganze Menge von Meldungen [15] zeigen, dass die afghanischen StreitkrĂ€fte in der Defensive sind. Dass es nun keine LuftunterstĂŒtzung des US-MilitĂ€rs von Bagram mehr gibt, ist eine SchwĂ€chung. Dort starteten nicht nur Kampfflugzeuge, sondern auch Versorgungsflugzeuge und AufklĂ€rer [16].

Es geht nicht um die Frage, ob der Abzug der US-Truppen die bessere Lösung war. Der Misserfolg der afghanischen Mission der USA und der Nato fĂŒhrt einmal mehr vor Augen, auf welche Schwierigkeiten AuslandseinsĂ€tze westlicher Nationen treffen, wie falsch Kriegstreiber liegen, zumal wenn die Kenntnis ĂŒber lokale VerhĂ€ltnisse und Kulturen erbĂ€rmlich sind und sich vor allem Überheblichkeit zeigt. Es geht um die Frage, ob der Abzug politisch nicht besser hĂ€tte verhandelt und abgesichert werden können.

Es zeigen sich unglaubliche menschliche Desaster, angefangen vom Schutz und der Behandlung derjenigen, die fĂŒr die US-Nato-StreitkrĂ€fte gearbeitet haben und nun Rache fĂŒrchten mĂŒssen, bis hin zur Abschiebung von afghanischen Asyl-Bewerbern. Und nicht zuletzt an den riesigen Opferzahlen unter Zivilisten [17], die der fast 20-jĂ€hrige Krieg mit westlicher Beteiligung gefordert hat und der nun weitergeht.

Die Hoffnung, dass den Taliban Einhalt geboten wird, liegt nun bei den NachbarlÀndern (siehe: Afghanistan: Kriege ohne Ende, ohne Sieger [18] und der Hoffnung, dass mit Geld Politik zu machen ist.

Sie (die Taliban, Erg. d. A.) glauben, dass sie weiter international Anerkennung gewinnen, und dass sie die nĂ€chste Regierung in Kabul bilden können. Aber solange sie ihre Politik nicht in eine zugunsten der Menschen in Afghanistan Ă€ndern und zugunsten des sozialen Fortschritts, hat die internationale Gemeinschaft, Amerikaner, Briten, EuropĂ€er und auch einige Nachbarn wie Russland und Iran, ihnen klar zu verstehen gegeben, dass sie weder internationale Anerkennung noch Hilfe bekommen werden. Die Amerikaner haben zugesagt, dass sie eine neue Armee unterstĂŒtzen werden und fĂŒr den Haushalt einer kĂŒnftigen Regierung bis zu fĂŒnf Milliarden Dollar pro Jahr zahlen werden. Nichts davon werden die Taliban bekommen, wenn sie nicht zu ZugestĂ€ndnissen bereit sind.

Ahmed Rashid [19]

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https://www.heise.de/-6131202

Links in diesem Artikel:
[1] https://twitter.com/Emran_Feroz/status/1412131887653531659
[2] https://www.bbc.com/news/world-asia-57682290
[3] https://www.aljazeera.com/news/2021/7/5/us-left-bagram-airfield-without-notice-afghan-officials-say
[4] https://twitter.com/TOLOnews/status/1412452483885113358
[5] https://www.bbc.com/news/world-asia-57682290
[6] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/07/06/press-briefing-by-press-secretary-jen-psaki-july-6-2021/
[7] https://www.spiegel.de/ausland/afghanistan-us-armee-verteidigt-heimlichen-abzug-aus-bagram-militaerbasis-a-b0ade4e6-0200-4489-8b6e-6fbd75d90835
[8] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/07/06/press-briefing-by-press-secretary-jen-psaki-july-6-2021/
[9] https://www.heise.de/tp/features/Afghanistan-nach-dem-Abzug-Kampf-aus-der-Ferne-6017447.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Afghanistan-nach-dem-Abzug-Kampf-aus-der-Ferne-6017447.html
[11] https://www.afghanistan-analysts.org/en/special-reports/new-special-report-between-hope-and-fear-rural-afghan-women-talk-about-peace-and-war/
[12] https://twitter.com/KhalilNoori/status/1412363520977551360
[13] https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/a-quarter-of-afghanistans-districts-fall-to-the-taleban-amid-calls-for-a-second-resistance/
[14] https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/a-quarter-of-afghanistans-districts-fall-to-the-taleban-amid-calls-for-a-second-resistance/
[15] https://twitter.com/KhalilNoori/status/1412673613283610625
[16] https://asiatimes.com/2021/07/us-bagram-retreat-consigns-afghanistan-to-the-dustbin/
[17] https://twitter.com/airwars/status/1412416310026321924
[18] https://www.heise.de/tp/features/Afghanistan-Kriege-ohne-Ende-ohne-Sieger-6062955.html
[19] https://www.deutschlandfunk.de/journalist-ahmed-rashid-im-augenblick-sind-die-taliban-sehr.694.de.html?dram:article_id=496100