Afghanistan: "Vom Frieden weit entfernt"
Emran Feroz über die schwindende Medienaufmerksamkeit nach dem Abzug der Nato, Machtgruppen innerhalb der Taliban und den Fake-Aufstand im Pandschschir-Tal
Wir wollen heute über die Situation in Afghanistan sprechen, nach der Machtübernahme der Taliban und besonders der Flucht der Nato-Truppen. Viele Afghanen haben erwartet, wie Sie auch einmal geschrieben haben, dass dann endlich mal Ruhe einkehrt in dem Land, in dem 20 Jahre Krieg herrschte. Von Ruhe kann man aber wohl nicht sprechen. Es finden immer wieder Angriffe und Anschläge statt.
Emran Feroz: Ja, richtig! Ich muss immer ganz am Anfang erwähnen, dass in Afghanistan schon seit über 40 Jahren Krieg herrscht und es der längste Krieg der (US-)Amerikaner ist. Ja, dieser Abzug oder die Flucht hat stattgefunden, wir haben das alle auch mitbekommen.
Da gab es einen Medienpeak fast wie nach den Anschlägen des 11. Septembers. Die Aufmerksamkeit hielt nur wenige Wochen und hat nicht ausgereicht, um die komplexe Lage vor Ort zu erfassen, die bis heute weiter existiert, wo das Land vollständig von den Taliban kontrolliert wird.
Aber es ist so, wie es auch einige Beobachter schon in den Jahren zuvor gesagt haben, dass in Afghanistan der Konflikt oder der Krieg zwar zu einem gewissen Zeitpunkt abnehmen wird, aber dass er immer noch da sein wird und kein vollständiger Frieden herrscht. Davon sind wir jetzt tatsächlich auch weit entfernt.
Wir haben die Taliban einerseits und andererseits den "Islamischen Staat" (IS). Die letzten blutigen Anschläge, die begangen wurden, gingen auf das Konto der afghanischen IS-Zellen, sehr aktiv sind. Die Taliban verharmlosen diese Gefahr, obwohl sie hinter den Kulissen wissen, dass das noch ein sehr großes Problem für sie wird.
Weiß man denn, wie stark die der Islamische Staat eigentlich ist? Es scheint so zu sein, dass er auch Zulauf gefunden hat seit Beginn der Taliban-Herrschaft. Es könnte sein, dass manche der Taliban-Kämpfer zum IS überlaufen. Die Taliban werden zu einer Ordnungsmacht, aber die jungen Kämpfer wollen weiterhin das Abenteuer und vermissen die Möglichkeit, zum Märtyrer werden zu können.
Emran Feroz: Ja, davor wurde auch gewarnt. Der "Islamische Staat" in Afghanistan (IS-K) ist jetzt seit ungefähr sieben, acht Jahren präsent, also kurz, nachdem diese Gruppierung in Irak und Syrien aufgetreten war. Es gab schon damals die afghanische Zelle, die aber kaum in Verbindung mit Abu Bakr al-Baghdadi und Co. stand. Es gab aber natürlich ideologische Schnittpunkte.
Die Kommandeure des IS-K waren hauptsächlich Ex-Taliban. Auch Teile von Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP), den pakistanischen Taliban, die in Pakistan auch brutale Anschläge ausführten, haben sich dem IS angeschlossen. Der IS war schon vor einigen Jahren in verschiedenen Regionen des Landes zu beobachten, vor allem im Nordosten, in der Provinz Nangarhar, in Kunar und in anderen ländlichen Gebieten.
2017 warfen die (US-)Amerikaner die sogenannte Mutter aller Bomben, Moab, in der Provinz Nangarhar auf einen Tunnelkomplex ab, in dem sich der IS festgesetzt hatte. Als ich einen Monat später in dieser Region war, hieß es seitens der Taliban, dass die IS-Kämpfer schon weg gewesen waren und hauptsächlich Zivilisten getroffen wurden.
Wer wirklich getroffen wurde, weiß man nicht, nach der offiziellen Version der damaligen afghanischen Regierung, die nicht dafür bekannt ist, glaubwürdig zu sein, sollen zwischen 90 und 100 IS-Kämpfer getötet worden sein.
Die Taliban haben damals schon den IS bekämpft, für diesen waren sie von Anfang an ein Hauptfeind, weil es ähnliche Machtansprüche gab. In den Jahren darauf, so ab 2018, hat der IS auch Zulauf in den urbanen Zentren Afghanistans gewonnen.
In Kabul war der IS plötzlich in der Lage, brutale Anschläge und Massaker gegen die schiitische Minderheit der Hazara auszuüben. Die meisten Hazara, nicht alle, sind Schiiten.
Neben den Taliban haben auch die Regierungstruppen und die (US-)Amerikaner den IS bekämpft. Es gab da auch sehr fragwürdige oder sehr interessante Schnittpunkte. Zum Beispiel fand im Sommer 2020 ein Angriff der Taliban gegen den IS in der Provinz Kundus statt, begleitet wurde diese Operation von US-Luftangriffen, also zugunsten der Taliban. Die Taliban haben das natürlich dementiert.
In Städten konnte man im Osten einen bürgerlichen Terror beobachten. Auch junge Männer aus gar nicht so ärmlichen Hintergründen, die sich beispielsweise an Universitäten radikalisierten, schlossen sich dem IS an. Sie kritisierten die Bildungsinstitutionen und gründeten ihre eigenen Zellen in den Städten.
Gleichzeitig gab es auch Kritik an der afghanischen Ex-Regierung, weil es hieß, dass sie Elemente des IS instrumentalisieren würde, um gegen die Taliban vorzugehen. Das ist ein interessanter Punkt, der jetzt in der Gegenwart wieder aufkommt, weil es Berichte gibt, dass Ex-Soldaten sich dem IS angeschlossen haben sollen.
Sie haben gesagt, die Taliban kontrollieren eigentlich das ganze Land. Präsent im Internet ist aber auch Ahmad Massoud, der in Tadschikistan sein soll, mit der "Nationalen Widerstandsfront". Es sollen Kämpfe stattfinden und die Taliban schwere Niederlagen erleiden. Ist denn da was dran?
Emran Feroz: Seine nationale Widerstandsbewegung hat jede Glaubwürdigkeit verspielt. Das beste Beispiel hierfür war die Lage in Pakistan im September, als die Taliban das Tal nach mehreren gescheiterten Verhandlungsrunden erobert haben.
Da hat sich die Widerstandsbewegung, die hauptsächlich aus Warlords besteht, die ihren Machtverlust befürchten und die sich persönlich bereichert haben, komplett vertan, weil sie so viel Fake-News verbreitet haben. Da hieß es zum Beispiel, pakistanische Drohnen würden die Taliban unterstützen bei der Eroberung des Pandschirtals.
Videos von einem Computerspiel wurden verbreitet, was von indischen Medien aufgegriffen wurde. Indische Modi-Anhänger, die bekannt dafür sind, Fake-News zu verbreiten, haben sich auch auf die Seite der nationalen Widerstandsbewegung in Afghanistan geschlagen und dementsprechend weiter das Image dieser Kämpfer beschädigt.
Man weiß nicht, ob man der Propaganda der Widerstandskämpfer oder jener der Taliban mehr vertrauen kann. Es gab im Pandschirtal und im benachbarten Baglan zwar Kämpfe, aber die Realitäten vor Ort sind sehr eindeutig.
Massoud wird nicht mehr in Afghanistan sein. Diese Akteure sind zum ersten Mal ohne (US-)amerikanische Unterstützung. Sie haben ihre Lobbyisten in Washington, die versuchen, Geld und Waffen zu sammeln. Dass das erfolgreich sein wird, glaube ich eher nicht. Dazu sind sie zu zerschlagen und haben zum Teil ihr eigenes Grab geschaufelt, weil sie sich in vielerlei Hinsicht so unglaubwürdig gemacht haben.
Von außen sieht es so aus, als wären die Taliban eine hierarchisch geordnete Organisation. Aber es gibt ja vielen Fraktionen, vorwiegend den Haqqani-Clan, der offenbar nicht unbedingt harmoniert mit den anderen Taliban. Werden hier Brüche auftreten? Und dann gibt es auch noch die anderen Warlords, die natürlich auch ihre Interessen haben. Wie gefestigt ist die Herrschaft der Taliban oder des Islamischen Emirats?
Emran Feroz: Das sogenannte Haqqani-Netzwerk ist in den letzten Jahren die effektivste Anschlagstruppe der Taliban gewesen. Es war für viele brutale Anschläge in Kabul verantwortlich. Es ist paradox, dass diese Männer jetzt in den Hotels zu sehen sind, die sie vorher angegriffen haben.
Die Haqqanis sind benannt nach Jalaluddin Haqqani, ein bekannter Mudschaheddin-Führer in den 1980er-Jahren. Den Titel Haqqani bekommt man, wenn man das Seminar der Haqqania in Pakistan absolviert. Der Titel ist nach einer Universität benannt. Eigentlich sind es Paschtunen des Zadran-Stammes, der vor allem im Südosten Afghanistans ansässig ist und jetzt sehr präsent ist.
Die Kämpfer, die rekrutiert wurden, waren Zadran-Paschtunen. Sie wollen nun ihren Anteil des Kuchens, was sie auch durchgesetzt haben, weil sie sagten, sie seien die letzten 20 Jahre die Hauptschlagkraft der Taliban waren und hätten auch viele Opfer gebracht. Mehrere Söhne von Jalaluddin Haqqani, der zum Zeitpunkt der US-Besatzung schon ziemlich alt war, wurden bei Angriffen getötet.
Sein Sohn Sirajuddin Haqqani wurde zum Militärchef ernannt und hat de facto in den letzten Jahren den Kampf der Taliban in Afghanistan dominiert. Auf ihn haben die USA ein Kopfgeld von zehn Millionen US-Dollar ausgesetzt. Er hat zahlreiche Drohnenangriffe überlebt. Jetzt ist er der Innenminister des neuen Taliban-Emirats. Man weiß noch immer nicht, wie er aussieht. Er verdeckt sein Gesicht.
Dann gibt es noch seinen Onkel Khalil Ur Rehman Haqqani, der Minister für Flüchtlinge ist. Auf ihn ist ein Kopfgeld von fünf Millionen US-Dollar ausgesetzt. Er spaziert noch immer mit seiner Kalaschnikow in der Stadt herum, vielleicht fühlt er sich bedroht.
Diese Männer sind für die Kabuler Stadtbevölkerung komplett fremdartig, weil sie in einem anderen Umfeld aufgewachsen sind. Sie haben in den letzten Jahren vor allem damit für Aufsehen gesorgt, dass sie die Stadtbewohner angegriffen und unschuldige Kabulis als US-Soldaten oder afghanische Geheimdienstler abgestempelt haben.
Dieser Haqqani-Zweig ist jetzt schon sehr dominant. Während der Abzugsgespräche mit den (US-)Amerikanern, die in den letzten Jahren geführt wurden, waren eher andere Taliban präsent, zum Beispiel Abdul Ghani Baradar, der als rechte Hand von Mullah Omar galt. Mohammad Hassan Akhund, auch ein Vertrauter von Mullah Omar, ist jetzt das offizielle Staatsoberhaupt. Er hatte Mullah Omar den Umhang des Propheten Muhammad in Kandahar während seiner "Krönung" Ende der 1990er umgehängt.
Da sind Paschtunen aus Kandahar, aus dem Süden des Landes. Auf der anderen Seite stehen die Zadran-Paschtunen aus dem Osten Afghanistans. Zwischen diesen gibt es Rivalitäten und ideologische Unterschiede. Allerdings wurde auch darüber in den letzten Wochen und Monaten viel Quatsch verbreitet, dass davon wieder die Taliban punkten und behaupten konnten, sie seien eine Einheit.
Es hieß etwa, die Haqqanis hätten Mullah Baradar erschossen. Das hat sich als falsch herausgestellt. Dort, wo die Rivalitäten deutlich werden, wird sehr stark übertrieben. In Afghanistan ist Cricket ein sehr beliebter Sport. Und da hieß es gerade, dass die Haqqanis und die Kandaharis jeweils ihren Mann als Chef des Cricket Boards durchsetzen wollten, wobei es zu Gewaltausbrüchen gekommen sei. Was nicht stimmt.
Es gibt sehr viele ideologische Unterschiede. Es gibt Taliban unter den Haqqanis, die zum Beispiel eher dafür sind, dass Mädchen in die Schule gehen dürfen, während Taliban der Kandaharis im Süden dagegen sind. Das war auch in den 1990er-Jahren schon so. Aber tatsächlich war es so, dass in den letzten 20 Jahren die Taliban im Vergleich zu vielen anderen afghanischen Akteuren einheitlich oder einheitlicher als diese aufgetreten sind.
Das beste Beispiel hierfür ist das Szenario, das sich 2014 und vor eineinhalb Jahren nach den Präsidentschaftswahlen abgespielt hat, als Ashraf Ghani und sein Kontrahent Abdullah Abdullah sich gestritten haben, wer denn nun Präsident ist.
Am Ende mussten immer die (US-)Amerikaner intervenieren und den Präsidenten bestimmen. So hat man oft gesehen, dass die politische Elite in Kabul überhaupt nicht einheitlich ist, während sie gleichzeitig versucht hat, die Taliban als uneinheitlich zu porträtieren. Das ist oft danebengegangen.
Jetzt sind die Taliban ja vor allem lauter kampferprobte junge Männer in archaischer afghanischer Kleidung, die islamistisch orientiert sind. Ist es denn überhaupt vorstellbar, dass sie jetzt nach 20 Jahren Krieg plötzlich einen funktionierenden Staat aufbauen können und ganz normale politische und behördliche Tätigkeiten aufnehmen?
Emran Feroz: Man muss bedenken, dass die Taliban in den letzten zwanzig Jahren von der Korruption des ehemaligen Regimes einer Sache profitieren konnten. Das heißt, der Taliban sah gut aus, weil der Regierungsvertreter korrupt war und seine Arbeit nicht richtig gemacht hat.
Aber das Regime ist nicht mehr da und jetzt müssen die Taliban, die in den letzten 20 Jahren als extremistische Guerillabewegung aktiv war, den Staat führen. Ich denke, es ist sehr schwierig, dass sie dabei erfolgreich sein können. Es gibt unter den Taliban auch pragmatische Akteure, die eher geeignet wären, aber die stehen jetzt eher im Hintergrund.
Die Übergangsregierung, die von den Taliban ernannt wurde und in der die Haqqanis und die alten Garden von Mullah Omar das Sagen haben, ist sehr rückwärtsgewandt. Jüngere Gesichter oder wortgewandte Männer, die die Welt gesehen haben, die es auch bei den Taliban gibt, findet man hier nicht.
Ein Beispiel hierfür ist Sher Mohammad Abbas Stanikzai, der das Taliban-Büro in Katar geleitet hat und auch bei den Verhandlungen mit den (US-)Amerikanern federführend war, galt als realistischer und pragmatischer als jene, die nun das Sagen haben.
Abbas hat, und das ist sehr interessant, den gleichen Posten erhalten wie vor über 20 Jahren und wurde wieder zu einem stellvertretenden Außenminister. Er wurde also nicht einmal befördert für das, was er auf der internationalen Bühne geleistet hat. Ähnlich verhält es sich mit anderen.
Das ist schlecht, sodass die Taliban auf jeden Fall Probleme haben werden, vor allem in den Städten, wo ihre jungen Kämpfer zum ersten Mal präsent sind. Das sind Kämpfer, die nur den Krieg kennen und die mit Krieg in ihren Dorfgemeinschaften aufgewachsen sind.
Schon jetzt gibt es viele Probleme in der Stadt und mit den Stadtmenschen. Viele Afghanen sind nicht zufrieden, wenn die Taliban in die Stadt einmarschieren und den Menschen den echten Islam erklären wollen.
Viele Afghanen nehmen ihren Glauben sehr ernst und sagen: "Was fällt euch ein, wir waren zuvor auch schon Muslime." Vor allem in so traditionsreichen Städten wie in Kabul oder in Herat im Westen des Landes an der Grenze zum Iran, die eine sehr tiefgehende theologische Geschichte haben, lassen sich das die Menschen nicht gefallen. Die Taliban treten mit ihrem Verhalten auch in den konservativen Strukturen Afghanistans vielen Menschen auf die Füße.
Und international ist der afghanische Staat ohne ausländische Hilfsmittel nicht überlebensfähig. Dabei ist es völlig egal, wer regiert. Dieser Staat kann nicht ohne ausländische Hilfsgelder überleben. Es gab eine kurzsichtige Wirtschaftspolitik, die nur dem Krieg der (US-)Amerikaner gedient hat, aber es wurde kein langfristiges Wirtschaftsmodell aufgebaut.
Das werden die Taliban wahrscheinlich auch nicht lösen. Deshalb denke ich, dass die Menschen in diesem Land noch mit sehr, sehr vielen Problemen konfrontiert werden.
Das Interview erschien zuerst bei unserem Partnerportal krass und konkret.