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Aleppo: Dschihadisten auf dem Vormarsch

Beschuss des Artilleriestützpunkts

Mit spektakulären militärischen Erfolgen der Dschihadisten geht die Schlacht um Aleppo in die entscheidende Phase

Der syrische Dschihadismus scheint kurz vor seinem bislang größten Triumph zu stehen. Nach mehrtägigen verbissenen Kämpfen im Süden der ehemaligen syrischen Wirtschaftsmetropole Aleppo haben die islamistischen Milizen, die mit einer Großoffensive [1] den Belagerungsring der Regimetruppen um den Ostteil der Stadt buchstäblich sprengen [2] wollen, einen entscheidenden Durchbruch erzielt.

Dschihadisten von Ex-al-Nusra mit schweren Waffen

Am Morgen des 6. August mussten auch regimenahe Quellen den Verlust der wichtigsten Verteidigungsposition im Süden der verwüsten Großstadt melden [3]. Eine Artilleriebasis der syrischen Armee [4] wurde von den Islamisten in einer erbitterten zweitägigen Schlacht erobert. Der militärische Komplex bildete den letzten nennenswerten Widerstandspunkt, der einen Durchbruch der Rebellenmilizen in den belagerten Ostteil der Stadt verhinderte. Etliche Gegenangriffe der Regimetruppen und verbündeter schiitischer Milizen waren - bis zum Vormittag des 6. August - nicht erfolgreich.

Der Angriff auf die Artilleriebasis wurde mit verheerenden Selbstmordanschlägen islamistischer Extremisten eingeleitet [5] die Breschen in die Verteidigungslinien des Regimes sprengten. Hiernach stürmten [6] die dschihadistischen Sturmtruppen das Gelände der Militärbasis. Die Kämpfe auf dem ausgedehnten Militärkomplex, bei denen Islamisten Drohnen zur Lageerkundung einsetzten [7], flauten auch in der vergangenen Nacht [8] nicht ab. Massive russische Luftangriffe, regelrechte Flächenbombardements des gesamten Areals, konnten bislang den Vormarsch der Dschihadisten nur verlangsamen [9] nicht aber stoppen.

Obwohl die Verteidigungslinien des Regimes im Süden noch mehrere hundert Meter umfassen, hat die Offensive der islamistisch geprägten Rebellenallianz bereits eines ihrer strategischen Ziele erreicht. Die Nachschubwege in den Westen der Großstadt liegen nun im Schussfeld der Aufständischen. Bereits gestern haben sie mit dem Artilleriebeschuss [10] der durch Südaleppo an der Artilleriebasis entlangführenden Verkehrsader begonnen, mit dem der Westen der Stadt versorgt wird. Eine zuverlässige Versorgung der Einwohner Westaleppos durch die jüngst freigeschossenen Wege im Norden, die vorgenannte Castello Road [11], ist nicht möglich, da diese ebenfalls im Schussfeld der Aufständischen liegt.

Somit wird nicht nur der Osten Aleppos durch das Regime belagert, nun haben die Islamisten es auch vermocht, de facto um den Westen einen Belagerungsring zu ziehen. Die gesamte Stadt befindet sich folglich in einer tödlichen militärischen Umklammerung, in einer wechselseitigen Belagerung, die das tägliche Überleben für alle Einwohner - ob nun Ost oder West - zur Tortur werden lässt.

Selbstmordanschlag auf den Artilleriestützpunkt

Täglich sterben Menschen im belagerten Osten Aleppos durch Luftangriffe des syrischen und russischen Militärs, nun beschießen auch die Aufständischen den Westen der Stadt willkürlich, was vielen Zivilisten das Leben kostete. Russische Medien melden [12] überdies, die Islamisten hätten Giftgas in Westaleppo eingesetzt.

Entscheidungsschlacht für die Islamisten, Desaster für die säkularen Oppositionskräfte

Die Großoffensive der Opposition im Süden hat somit nicht nur das Ziel, die Belagerung Ost-Aleppos zu sprengen - zugleich soll der Westen der Stadt belagert werden. Mit dem Angriff soll eine Entscheidungsschlacht gesucht werden, da sich die militärischen Kräfteverhältnisse - aufgrund der russischen Intervention - zugunsten des Assad-Regimes verschoben haben. Es ist eine letzte Chance, einen strategischen Sieg zu erringen.

Zugleich wollen die Islamisten ihren Sponsoren in Ankara und Riad beweisen, dass die Investitionen in den syrischen Dschihadismus nicht umsonst waren. Die Ausrüstung der Islamisten bei der gegenwärtigen Aleppo-Offensive ist jedenfalls sehr modern, an avancierten Panzerabwehrsystemen [13] scheint kein Mangel zu herrschen. Inzwischen kommen auch Drohnen zu Aufklärungszwecken [14] zum Einsatz, sodass die Steinzeitislamisten zur modernsten Informationskriegsführung übergehen.

Sprengung eines Tunnels in Ost-Aleppo

Die abgeschlossene Belagerung Ost-Aleppos durch syrisches Militär und verbündete schiitische Milizen aus Libanon, dem Irak und Iran bildete gerade den konkreten Auslöser, der die Vereinigung der zerstrittenen oppositionellen Milizen ermöglichte, die bislang vor allem untereinander um Einfluss und schlichtes Raubgut konkurrierten. Die Grenzen zwischen Oppositionsgruppe, ausländisch finanzierter Miliz, Dschihadistentruppe, Terrornetzwerk und krimineller Bande sind in Syrien fließend. Mitunter betrieben die "Oppositionsgruppen" einfach eine Art kriegsbedingter Plünderungsökonomie [15]. Der Krieg um Syrien schien mit der Belagerung Ost-Aleppos entschieden, sodass allen gegen das Assad-Regime operierenden Kräften klar wurde, dass ihnen die politische oder plünderungsökonomische Basis ihrer Tätigkeit abhanden zu kommen droht.

Bereits jetzt stellen die Erfolge der Islamisten ein Desaster für die verbliebenen säkularen Kräfte in Syrien dar. Die Speerspitze der Offensive bildet die jüngst umbenannte dschihadistische Nursa Front, also der syrische Ableger des Terrornetzwerkes Al Quaida. Die Terrorgruppe hat sich vor kurzem in Jabhat Fatah al-Sham umbenannt [16] und offiziell alle Beziehungen zu Al-Qaida gekappt. Mit diesem oberflächlichen "Rebranding" soll die Verankerung der Islamisten innerhalb der Opposition gestärkt und eine koordinierte amerikanisch-russische Bombenkampagne verhindert werden, di derzeit im Gespräch ist.

Drohnenaufnahme vom Angriff auf den Stützpunkt

Die bisherigen Erfolge der Nusra-Front haben bereits zu einem gigantischen Prestigegewinn der Islamisten geführt. Die Gotteskrieger erscheinen der unter der Belagerung leidenden Bevölkerung Aleppos als die einzigen Retter in der Not, sodass die Stadt sich zu einem Zentrum des militanten Islamismus zu entwickeln droht. Die ehemalige syrische Al-Qaida-Dependance hat sehr wohl begriffen, dass sie die Aleppo-Offensive dazu nutzen kann, um den Dschihadismus tief in der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit Syriens zu verankern. Die ohnehin gegebene Dominanz islamistischer und dschihadistischer Kräfte innerhalb der syrischen Opposition dürfte sich infolge der Schlacht um Aleppo zu einer Hegemonie wandeln.

Verzweifelte Zukunftsperspektive

Das Regime kann sich eine Niederlage in Aleppo aber ebenfalls nicht leisten, da dadurch ein baldiger Sieg im Bürgerkrieg vollends illusorisch würde. Die internationalen Rufe nach einer Absetzung von Assad würden lauter werden. Für beide Seiten handelt es sich somit um eine Entscheidungsschlacht, bei der alles auf eine Karte gesetzt werden muss.

Jüngsten Berichten [17] zufolge zieht die syrische Armee rasch Verstärkungen aus anderen Landesteilen in Aleppo zusammen, um die Aufständischen zurückzuwerfen. Dabei wird dieses Vorhaben aber durch die langen Nachschubwege ins nordsyrische Aleppo kompliziert, die Hunderte von Kilometern durch feindliches, von Islamisten kontrolliertes Gebiet führen - das ebenfalls vor Gegenangriffen mit Truppen mühsam gesichert werden muss. Die Versorgungslinien des Regimes sind somit prekär, eine Kappung auch südlich von Aleppo - etwa durch den Islamischen Staat - ist jederzeit möglich.

Auch geopolitisch könnte die Schlacht von Aleppo erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen. Erfolge der Islamisten könnten etwa das islamische Regime in Ankara dazu veranlassen, die eingeleitete Normalisierung der Beziehungen mit Damaskus und Moskau [18] aufzugeben und erneut auf Konfrontationskurs in Syrien zu gehen.

Und auch für die Bevölkerungsmehrheit in Syrien schafft die Offensive keine Erleichterung, im Gegenteil: Um die Versorgung Ost-Aleppos tatsächlich sicherzustellen, müssten die Islamisten nicht nur die Verteidigungslinie der syrischen Armee durchbrechen, sondern den Korridor auch absichern, was selbst mittelfristig unwahrscheinlich scheint. Bis auf weiteres scheint nun die gesamte Stadt in einem wechselseitigen Belagerungszustand gefangen. Zudem scheint sich nun eine verzweifelte Zukunftsperspektive in dem geschundenen Land zu zementieren: Jenseits vom kurdisch geprägten Nordsyrien besteht die Wahl zwischen einem korrupten und mörderischen Regime und einer "Opposition", die von barbarischen Kräften dominiert ist, die Assad als geradezu gemäßigt erscheinen lassen.


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[2] http://www.youtube.com/watch?v=eAw2I3yHBkU
[3] http://twitter.com/leithfadel/status/761824521913507841
[4] http://twitter.com/ArtWendeley/status/761832241752342528
[5] http://www.youtube.com/watch?v=1u-98gagYaE
[6] http://www.youtube.com/watch?v=XDVuMGiuwRE&feature=youtu.be
[7] http://twitter.com/dkimball12/status/761786837564137472
[8] http://twitter.com/dkimball12/status/761787660557885440
[9] http://www.military.com/daily-news/2016/08/02/russian-strikes-slow-rebel-assault-syria-aleppo.html
[10] http://www.youtube.com/watch?v=Whym89vMxkg
[11] http://twitter.com/SY_newsagency/status/758622212760936448
[12] http://de.sputniknews.com/politik/20160803/311942521/rebellen-giftattacke-auf-aleppo.html
[13] http://www.youtube.com/watch?v=sONpFQ_N43Q
[14] http://www.youtube.com/watch?v=HG-hzDH9hdk
[15] https://www.heise.de/tp/features/Mad-Max-im-Zweistromland-3399034.html
[16] http://www.middleeasteye.net/columns/sham-rebrand-al-qaedas-nusra-front-143919034
[17] http://www.france24.com/en/20160806-syrian-islamist-rebels-storm-key-aleppo-artillery-base-siege
[18] https://www.heise.de/tp/features/Business-as-usual-3289926.html