Business as usual?

Gazprom

Die rasant voranschreitende Annäherung zwischen Ankara und Moskau ist nicht nur durch geopolitische Erwägungen, sondern auch durch wirtschaftliche Interessen motiviert

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Brüssel geht derzeit die Angst um - die Angst vor einem Erstarken der russisch-türkischen Kooperation auf dem Feld der Energiepolitik, wie Reuters in einem Hintergrundbericht Anfang August ausführte. Ein von Moskau und Ankara geplantes Pipelineprojekt, die TurkStream -Pipeline, habe das Potenzial, die Bemühungen der EU um eine Diversifizierung der Energieversorgung nachhaltig zu unterminieren, erklärten hochrangige EU-Vertreter gegenüber der Nachrichtenagentur.

Die Gaspipeline soll, von der russischen Schwarzmeerküste ausgehend, auf dem Boden des Schwarzen Meeres verlegt werden, um vom europäischen Teil der Türkei das Gas weiter Richtung Europa zu befördern. De facto handelt es sich hier um ein Ersatzprojekt für die gescheiterte russisch-italienische Pipeline South-Stream, die eigentlich in Bulgarien an die EU andocken sollte. Dieses Vorhaben wurde vor allen auf Betreiben Berlins in Brüssel torpediert und von der EU-Kommission abgelehnt, da es eine Konkurrenz zur deutsch-russischen Ostseepipeline darstellte.

Mit der Pipeline würde die Verhandlungsposition der Ukraine als Transitland für russisches Erdgas nachhaltig geschwächt, währen die Abhängigkeit der EU vom russischen Erdgas weiter anstiege. Alternative europäische Energierouten - wie das gescheiterte Nabucco-Projekt - in die kaspische Region, die wiederum Russland umgehen sollen, hätten kaum noch Chancen auf Realisierung, erklärten EU-Funktionäre gegenüber Reuters. Die neue "Freundschaft der Türkei mit Russland" könne für Europa zu einem "Problem" werden, da das angestrebte Pipelineprojekt sicherlich mit "Auflagen" verbunden sein werde. Russland versuche derzeit, "die Ukraine durch die Türkei zu ersetzen" - diese also als ein Transitland für russisches Erdgas in Richtung Europa zu etablieren.

Die kremlnahe Nachrichtenagentur Sputniknews erinnerte bei der aktuellen Reanimierung dieses Projektes daran, dass TurkStream schon Ende 2014 beschlossen wurde und aufgrund der militärischen Eskalation in Syrien, die im Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch türkische Militärjets kulminierte, auf Eis gelegt wurde. Die Vorteile dieses Deals liegen dabei für beide Seiten auf der Hand: Die Türkei kann ihre Position als internationale Drehscheibe für Energieträger ausbauen, während der Kreml darauf hofft, die europäischen Bemühungen um eine Diversifizierung der Energieversorgung weiter zu schwächen.

Neben der Gaspipeline haben Ankara und Moskau noch ein zweites, heißes Eisen im Feuer: Der russische Staatsmonopolist Rosatom soll ein Atomkraftwerk im Südosten der Türkei errichten. Das Projekt wird auf rund 20 Milliarden US-Dollar beziffert, wie die Deutsche Welle (DW) berichtete. Der stellvertretende russische Regierungschef Arkadij Dworkowitsch meldete auch hier laut DW rasche Fortschritte: "Es gibt Bewegung. Die türkische Seite muss noch einige Gesetze ausarbeiten. Wir rechnen damit, dass wir schnell vorankommen."

Es war nicht zuletzt der wirtschaftliche Fallout des Konflikts mit dem Kreml, der das Umdenken in Ankara beförderte. Nach dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs hat der Kreml massive Sanktionen gegen die Türkei verhängt. Zum einen wurden türkische Exporte, etwa von Gemüse und Früchten, gen Russland verboten, zum anderen mussten türkische Bauunternehmen ihre Tätigkeit in Russland einstellen.

Am schwersten trafen Ankara aber die ausbleibenden russischen Touristen (minus 95 Prozent!), da ohnehin die Besucherzahlen aus Westeuropa aufgrund der angespannten Sicherheitslage einbrachen. Die Anzahl der Touristen in der Türkei ist in dieser Saison um 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen. Bis zu 0,7 Prozent Wirtschaftswachstum sollen diese russischen Sanktionen die Türkei in diesem Jahr kosten, meldete Bloomberg.

Auch bei der Wiederannäherung it Israel spielte Energie eine Rolle

Energiepolitische Erwägungen haben übrigens auch eine wichtige Rolle bei der Wiederannäherung zwischen der Türkei und Israel gespielt, die Ankara kurz vor dem russisch-türkischen Tauwetter initiierte. Die Beziehungen beider Staaten waren seit der blutigen Erstürmung eines türkischen Gaza-Hilfsschiffes, das die israelische Seeblockade Gazas durchbrechen wollte, durch israelische Spezialkräfte im Mai 2010 eingefroren.

Seitdem vor der Küste Israels das riesige Leviathan-Erdgaslager entdeckt wurde, das laut Schätzungen rund 620 Milliarden Kubikmeter Erdgas umfassen soll, werden Planspiele für dessen Export angestellt. Die Normalisierung der Beziehungen zwischen Ankara und Tel Aviv ermögliche es nun beiden Seiten, einen entsprechenden Energiedeal abzuschließen, bemerkte die Nachrichtenagentur Bloomberg. Exportiert über eine geplante Zypernpipeline könnte das israelische Erdgas dazu beitragen, die Abhängigkeit der Türkei vom russischen Erdgas zu mindern. Derzeit deckt der russische Monopolist Gasprom rund 55 Prozent der türkischen Erdgasnachfrage. Die Israelis planten überdies, den Energieträger bis nach Europa zu exportieren.

Der Kreml hat umgehend nach Bekanntgabe der türkisch-israelischen Wiederannäherung seinen Willen bekräftigt, diesen Deal zu verhindern. Hierdurch würde die führende Stellung Russlands als Erdgaslieferant sowohl für Europa als auch für die Türkei zwar nicht gebrochen, aber doch geschwächt.

Geopolitischer Kurswechsel von Erdogan

Letztendlich sind die Annäherungsbestrebungen Ankaras als ein Eingeständnis des totalen Scheiterns der aggressiven geopolitischen Strategie des türkischen Staatschefs Erdogan zu bewerten. Der Islamist strebte bei dieser neoosmanischen Expansionsstrategie danach, in der gesamten Region dem islamischen Ottomanischen Reich gleich zu expandieren und die Türkei als eine regionale Hegemonialmacht zu etablieren. Im Rahmen dieser Dominanzbestrebungen hat es Ankara vermocht, die Beziehung mit so ziemlich allen Staaten der Region zu ruinieren, während Saudi-Arabien als einziger nennenswerter Verbündeter Ankaras übrig blieb: von Israel über Syrien, und den Iran bis Ägypten. Der nun rasch forcierte Kurswechsel soll vor allem dazu beitragen, die durch den Neo-Osmanismus Erdogans verursachte geopolitische Isolation der Türkei aufzubrechen.

Zudem hofft Ankara auf schnelle wirtschaftliche Impulse durch den Kurswechsel. Ohne die Aufgabe der Expansionsbemühungen Erdogans hätte es keine Annäherung zwischen der Türkei und Israel gegeben, kommentierte etwa die Jerusalem Post. Die wichtigste Folgen der Normalisierung der Beziehungen würden sich demnach in der Wirtschaftssphäre niederschlagen, so die Jerusalem Post, die einen raschen Anstieg des Handelsvolumens, die Wiederaufnahme des Tourismus und die Realisierung der angestrebten energiepolitischen Kooperation zwischen beiden Ländern prognostizierte.

Es wäre aber sicherlich verfehlt, von einer totalen Aufgabe der ehrgeizigen geopolitischen Ziele Erdogans auszugehen. Sie sollen nur in einer anderen geopolitischen Konfiguration - und mit anderen Mitteln - weiterverfolgt werden. Die nach dem versuchten Putsch sich beschleunigende Abkehr der Türkei vom Westen wird nicht nur durch Gerüchte über die Beteiligung "des Westens" an dem Umsturzversuch befördert, sie ist auch Ausdruck einer strategischen Einsicht Erdogans. Der Westen war nicht bereit, die neo-osmanischen Expansionspläne Erdogans zu unterstützen (Türkei-Syrien: Neue Eskalationsstufe?). Die NATO verweigerte insbesondere der Invasion Nordsyriens, mit der Erdogan eine kurdische Autonomieregion verhindern wollte, die notwendige militärische Rückendeckung. Ankara will unbedingt eine geschlossene kurdisch beeinflusste Autonomieregion an ihrer Südgrenze verhindern, da dies allen künftigen Expansionsplänen Richtung Süden jegliche Grundlage nehmen würde.

Hinzu kam die Kooperation der USA mit den syrischen Kurden, die sich als die effektivsten Kräfte im Kampf gegen den Islamischen Staat erwiesen, der ja - dies ist innerhalb der NATO ein offenes Geheimnis - umfassend von der Türkei unterstützt. Unfähig, den kurdischen Autonomiebemühungen in Kooperation mit dem Westen Einhalt zu gebieten, geht Ankara nun dazu über, antikurdische Allianzen mit den einstigen geopolitischen Todfeind - mit dem syrischen Regime - zu schmieden.

Angst vor dem basisdemokratischen Experiment der Kurden

Nach dem Scheitern seiner größenwahnsinnigen neo-osmanischen Expansionspläne geht es Erdogan gewissermaßen um eine geopolitische Schadensbegrenzung, bei der sich wirtschaftliche Kooperation und geopolitische Interessen der Regionalmächte überlappen. Zumindest eine kurdische Autonomie, die auch auf die Türkei ausstrahlen würde, soll um jeden Preis verhindert werden - und sei es eine Allianz mit dem syrischen Regime (Ankara und Washington auf Kollisionskurs).

Details der Verhandlungen im Vorfeld der Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und der Türkei machen deutlich, wie sehr Ankara sich vor der kurdischen Befreiungsbewegung fürchtet. Russia Insider berichtete dass Ankara modernste israelische Waffensysteme für den Kampf gegen die Kurden forderte, gegen die das türkische Militär mit schweigender Zustimmung der NATO eine ethnische Säuberungskampagne im Südosten des Landes führt:

Die türkische Regierung braucht Hightech-Waffen bei ihrem Kampf gegen die PKK in den südlichen Regionen der Türkei, und um die Grenze gegen Raketenangriffe durch ISIS zu schützen. Russland hingegen ist vehement gegen diese Vorschläge und hat als Vergeltungsmaßnahme den Verkauf moderner Waffen an Syrien und den Iran angedroht.

Russia Insider

Der wichtigste Faktor, der die Geopolitik Ankaras antreibt, ist somit die Angst vor den Kurden. Oder, präziser, die Angst vor dem basisdemokratischen Experiment, das in Nordsyrien initiiert wurde - und das auch auf nichtkurdische Regionen ausstrahlen könnte. Die Verhinderung einer autonomen, basisdemokratischen kurdischen Region in Nordsyrien ist somit das Ziel, dass alle autoritären Regime in der Region teilen: von Ankara über Damaskus und Teheran bis hin zu Riad und Kairo.