Ankara und Washington auf Kollisionskurs
Nach dem gescheiterten Militärputsch gegen Erdogan eskalieren die Spannungen zwischen der Türkei und den USA
Die Luftwaffenbasis Incirlik im Süden der Türkei gehört zu einem der wichtigsten Militärstützpunkte des US-Militärs in der Region. Von hier aus wurden ab dem Juli 2015 - nachdem Ankara nach langem Zögern dies eingewilligt hat - viele Einsätze gegen den Islamischen Staat geflogen, die zumeist in Koordination mit Offensiven kurdischer Milizen in Nordsyrien erfolgten. Rund 1500 US-Militärangehörige sind in Incirlik stationiert - und unter anderem damit beschäftigt, rund 50 taktische Nuklearsprengköpfe zu bewachen.
Dies könnte sich als ein gigantisches Problem erweisen, falls Ankara und Washington auf ihrem geopolitischen Crashkurs verbleiben, auf dem sich beide Mächte seit dem Putschversuch gegen den islamistischen türkischen Staatschef Erdogan befinden. Die AKP ist gerade damit beschäftigt, ihre Macht vermittels umfassender Säuberungswellen zu zementieren (Türkei: Massenverhaftungen und Entlassungen), doch zugleich werden die USA verstärkt unter Druck gesetzt, indem Incirlik immer wieder von Polizei und Demonstranten umstellt wird. Die geopolitisch und militärstrategisch wertvolle US-Basis könnte sich in eine Falle verwandeln, die die regierenden türkischen Islamisten nutzen könnten, um Washington zu Zugeständnissen oder zum Kurswechsel - etwa bei der Kooperation mit den Kurden Syriens - zu nötigen.
Incirlik wurde bereits kurz nach dem gescheiterten Putsch der Strom abgestellt und ein Flugverbot erteilt, während der türkische Befehlshaber des Militärstützpunktes als Putschist verhaftet wurde. Das Flugverbot wurde erst nach rund einer Woche wieder aufgehoben. Schon damals spekulierten US-Medien darüber, ob die lang anhaltende Kappung der Stromversorgung nicht dazu dienen solle, die Auslieferung des islamistischen Widersachers Erdogans, des im US-Exil lebenden Fetullah Gülen, zu erpressen.
Gülen wird bekanntlich von der AKP-Regierung beschuldigt, den Putschversuch gegen Erdogan geplant zu haben. Die Jerusalem Post bemerkte schon am 22. Juli, das Erdogan de facto hier 1.500 US-Soldaten und dutzende Atomsprengköpfe "eingesperrt" habe. Die Militärbasis werde belagert durch Polizeikontingente, während der Treibstoff für die Notgeneratoren langsam zu Ende gehe. Es sei eine Geisel-Situation, mit der die Auslieferung Gülens erpresst werden solle.
Selbst nach der Wiederherstellung der Stromversorgung beruhigte sich die Lage nicht. Ende Juli organisierten türkische Nationalisten und Islamisten eine massive Demonstration vor der US-Militärbasis, um deren Schließung zu fordern. Die Demonstranten warfen den USA vor, an der Organisation des gescheiterten Militärputsches beteiligt gewesen zu sein. Die nächste, aktuelle Eskalation erfolge Samstagnacht, als Tausende von türkischen Polizisten und Soldaten die Luftwaffenbasis umzingelten. Es gehe darum, eine lokale "Sicherheitsinspektion" auf der Militärbasis durchzuführen, auf der dutzende taktische Atomsprengköpfe lagern, erklärte ein türkisches Regierungsmitglied.
Zumindest das US-Newsportal Commondreams warf die Frage auf, ob es wirklich eine gute Idee sei, US-Nuklearwaffen derzeit in der Türkei zu lagern. Die abermalige Abriegelung Incirlik fällt mit einem Besuch der Luftwaffenbasis durch US-General Joe Dunford, den Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs, zusammen, der dann den türkischen Regierungschef Yildirim und den Chef des türkischen Generalstabs trifft. Schon im Vorfeld machte Dunford klar, dass man der türkischen Regierung entgegenkommen will. Offensichtlich soll das Pentagon weiter unter Druck gesetzt werden. Und nichts erregt die Gemüter im türkischen Präsidentenpalast mehr, als die erfolgreiche Kooperation der US-Luftwaffe mit den Kurden Syriens, die den Islamischen Staat in Nordsyrien weitgehend zurückdrängen konnten.
Die eskalierenden Spannungen zwischen Washington und Ankara können längst nicht mehr unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle - innerhalb der ansonsten üblichen diplomatischen Kanäle - gehalten werden. Nicht nur Demonstranten, auch türkische Regierungsmitglieder haben die USA öffentlich beschuldigt, an der Vorbereitung des Putsches gegen Erdogan beteiligt gewesen zu sein. Hochrangige US-amerikanische Militärs sahen sich Ende Juli genötigt, die Anschuldigungen aus Ankara öffentlich zurückzuweisen. Der Kommandeur des U.S. Central Command, General Joseph Votel, wies am 29. Juli alle Vorwürfe als "inakkurat" zurück, er habe irgendetwas mit dem Militärputsch zu tun gehabt.
Auf die zunehmenden öffentlichen Anschuldigungen, die auch vom türkischen Präsidenten erhoben werden, reagiert Washington inzwischen nicht minder eindeutig. Am 18. Juli hat der amerikanische Außenminister sogar die Mitgliedschaft der Türkei in der NATO öffentlich infrage gestellt. Die NATO werde "sehr genau beobachten", was in der Türkei passiere, warnte Kerry unter Verweis auf die umfassenden Säuberungswellen innerhalb des türkischen Staatsapparates. In der türkischen Presse wurden ebenfalls Berichte lanciert, in denen vor einer nachhaltigen Beschädigung der "westlichen Beziehungen" der Türkei gewarnt wurde.
Annäherung an Russland und Syrien
Die massive Verschlechterung der Beziehungen der Türkei zu den USA - wie auch zur EU - geht einher mit einer rasant voranschreitenden Annäherung an Russland und Syrien. Es scheint, als ob der Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges durch die Türkei im Kreml schon vergessen ist. Die jahrelange Unterstützung islamistischer Terrormilizen in Syrien durch Ankara scheint einer Annäherung zu Damaskus ebenfalls nicht mehr im Wege zu stehen.
Dabei war es gerade der gescheiterte Militärputsch, der die ohnehin sich anbahnende Annäherung zwischen Russland und der Türkei zusätzlich beschleunigte. Die schnelle Verurteilung des Putsches durch Moskau stünde im krassen Kontrast zu der Zurückhaltung der "traditionellen westlichen Verbündeten" der Türkei, bemerkte Middle East Eye. Die Russlandvisite Erdogans im August soll ein neues Kapitel in den Beziehungen beider Staaten einleiten. Unklar ist bislang, ob sich nun eine fundamentale geopolitische Neuausrichtung der Türkei andeutet, oder ob hier nur Washington und der Westen unter Druck gesetzt werden sollen, um Zugeständnisse zu erpressen. Die Weigerung der NATO, einer Invasion Syriens durch die Türkei zu zuzustimmen, die Erdogan jahrelang favorisierte, könnte bei diesen Manövern Ankaras eine Rolle spielen.
Die Annäherung zwischen Erdogan und Putin wird von einer zuvor kaum für möglich gehaltenen Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien flankiert (Türkei will Beziehungen zu Syrien normalisieren). Dabei sind es vor allem die Erfolge der kurdischen Linken in Nordsyrien, die Erdogan zu der geopolitischen Neuausrichtung nötigen. Die "kurdische Bedrohung" habe Ankara dazu verleitet, die Beziehungen mit Damaskus zu normalisieren. Beide Regimes reagieren somit geradezu panisch auf die "Bedrohung" durch eine basisdemokratische und selbstverwaltete Region, die sie - im sicherem Machtinstinkt - zurecht als eine Herausforderung ihrer Machtvertikalen ausmachen. Der syrische Präsident Bashar Al Assad habe ihm versichert, er sehe die kurdische Partei PYD als eine "Verräterorganisation" an, erklärte ein an Sondierungsgesprächen mit Damaskus beteiligter türkischer Politiker.
Inzwischen hat die angekündigte Normalisierung der Beziehungen auch zu einer starken "Verunsicherung" innerhalb der islamistischen "Opposition" beigetragen, wie der britische The Guardian Mitte Juli berichtete. Der "Politikwandel" der Türkei könne das "Ende der Rebellion" gegen Assad in Syrien bedeuten. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim erkläre Mitte Juli offen, dass Ankara nach der Normalisierung der Beziehungen mit Russland und Israel nun dies auch mit Damaskus anstrebe. "Wir haben das nicht kommen gesehen", erzählte ein in der Türkei weilender syrischer Oppositioneller gegenüber The Guardian. "Es ist nicht konsistent mit dem, was sie privat uns gegenüber sagten."
Syrische Oppositionsquellen melden überdies, dass wichtige türkische Grenzübergänge für den Waffennachschub der Islamisten seit dem Putschversuch gesperrt seien. Die islamistischen Kräfte dürften somit bald ihre legendäre Kampfkraft verlieren, die sie - ganz profan - durch massive Waffenlieferungen und Finanzzuwendungen aus den Golfdespotien und der Türkei erhielten.
Hier könnte die wichtigste Motivation für die aktuelle massive Offensive der islamistischen und dschihadistischen Gruppen und Terrornetzwerke im Süden Aleppos liegen, mit der die Belagerung des Ostteils der Stadt durch Regimetruppen gebrochen werden soll (Aleppo: Der syrische Dschihad und der Etikettenschwindel). Mit einer verzweifelten Entscheidungsschlacht, mit einer letzten Mobilisierung aller Kräfte setzen die Gotteskrieger alles auf eine Karte - bevor der Nachschubmangel die militärischen Kräfteverhältnisse vollends zu ihren Ungunsten wenden wird. Nahezu alle, zuvor jahrelang zerstrittene und in Verteilungskämpfe verwickelte Fraktionen der Opposition, von den Überbleibseln der FSA bis zum jüngst umbenannten Al-Qaida Ableger Al Nursa-Front, beteiligen sich an der Offensive.
Der Vormarsch, der mit den für Dschihadisten üblichen Selbstmordangriffen eingeleitet wurde, konnte erste spektakuläre Erfolge erzielen, da die Assad-Truppen offensichtlich von der Wucht des Angriffs überrascht wurden. Bei der Fertigstellung dieses Artikels standen die Angriffsspitzen der Dschihadisten nur wenige hundert Meter vor dem Durchbruch zu dem eingekesselten Ostteil der Stadt - wobei aber massive Gegenangriffe der Regierungstruppen bereits zu ersten Geländeverlusten der Islamisten führten. Russische Luftangriffe sollen wesentlich zur Verlangsamung der dschihadistischen Offensive beigetragen haben.