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Alle gegen Brockhaus

Tanz der Gehirne: Teil 2

Quantitativ kann sich Wikipedia [1] durchaus mit bekannten Nachschlagewerken messen. Doch das Vorurteil, ohne jegliche redaktionelle Kontrolle und mit teilweise völlig anonymen Beiträgen könne ein Wiki nie hochwertige Informationen liefern, liegt nahe. Verdient Wikipedia wirklich den Namen Enzyklopädie? Gibt es bereits Bereiche, in denen das offene Projekt die gedruckten oder gepressten Werke übertrumpft? Die Antworten verraten mehr über unsere Kultur, als wir vielleicht glauben.

Im Größenvergleich [2] mit bekannten Multimedia-Lexika steht Wikipedia bereits gut da: Die rund 120.000 Artikel der englischen Ausgabe stehen etwa 85.000 Artikeln in der 2002er Encyclopaedia Britannica, 60.000 Artikeln in Microsofts Encarta Deluxe 2002 und 39.200 Artikeln in der Grolier-Enzyklopädie gegenüber. Die 24-bändige Brockhaus-Enzyklopädie wuchtet dagegen rund 260.000 Stichwörter.

Viele Wikipedia-Artikel enthalten statistische Daten aus offiziellen Werken. So gibt es etwa 36.000 Einträge über US-Dörfer und Städte, die automatisch aus den US-Volkszählungsdaten generiert wurden (Beispiel: Pownal, Vermont [3]). Viele davon wurden zwar nachträglich um interessante Informationen ergänzt, doch nicht jedes Kuhdorf hat auch einen Wikipedia-Benutzer, der davon erzählen könnte. In der englischen Wikipedia findet man auch Informationen über die deutschen Landkreise (Beispiel: Oberbergischer Kreis [4]), über finnische Provinzen [5], über japanische Präfekturen [6] usw.

Auch Listen [7] sind in Wikipedia zahlreich vertreten - Listen von Städten, Restaurants, Taschenrechnern, Genkrankheiten, Dämonen, fiktiven Katzen, Gewerkschaften, Bürgerkriegen, Entführungen, Militärbasen, verbotenen Büchern, Indie-Plattenlabels, Schacheröffnungen und Episoden der Serie "Buffy: Der Vampirkiller", um nur einige zu nennen.

Die Artikel in Wikipedia sind über zahlreiche Ordnungsschemata kategorisiert. Auf der Hauptseite finden sich verschiedene Oberkategorien, die man ähnlich einem Web-Katalog wie Yahoo! durchblättern kann. Daneben gibt es einige mehr oder weniger gepflegte alternativen Kategorisierungen, wie z.B. das Schema der Library of Congress. Für die Moderne gibt es für jede Jahreszahl einen eigenen Artikel, in dem sich wiederum Verweise auf relevante Ereignisse befinden. Wweniger gut dokumentierte Zeiten wie das finstere Mittelalter sind dagegen in Jahrzehnte unterteilt. Ein alphabetisches Durchblättern [8] ist natürlich ebenfalls möglich, und auch eine Zufallsanzeige fehlt nicht.

In einem Wiki sind Verweise schnell gesetzt, deshalb befinden sich innerhalb jedes Artikels zahlreiche Links - weitaus mehr als selbst in Multimedia-Enzyklopädien wie Encarta. Existiert der Artikel noch nicht, ist der Link rot, und der Text kann durch Anklicken angelegt werden. Weil manche Artikel unter verschiedenen Namen auftreten können, gibt es sogenannte Weiterleitungen. Folgt man z.B. einem Link auf Chomsky [9], wird man automatisch weitergeleitet auf den Artikel über Noam Chomsky. Die hohe Zahl von Links führt zum Symptom des Sich-Verlierens, das viele Wikiholiker [10] beschreiben.

Bei der Suchfunktion haben CD-ROM-Enzyklopädien derzeit noch die Nase vorn: Sie verfügen meist über komplexe Abfragemasken und einen schnellen Index. Die Suchfunktion der englischen Wikipedia hat dagegen häufig mit Performance-Problemen zu kämpfen und wird zeitweise gänzlich deaktiviert. Benutzer werden dann an Google verwiesen, wo eine Suche mit einer speziellen Einschränkung auf Wikipedia-Seiten durchgeführt werden kann. Leider indexiert Google jedoch nicht alle Artikel und ist nur begrenzt aktuell. Bei den kleineren fremdsprachigen Wikipedias kann stets die interne Volltextsuche verwendet werden, die immerhin Boolesche Verknüpfungen (AND, OR, AND NOT) unterstützt und gefundene Stichwörter farbig im Kontext hervorhebt.

Fehlerteufel

Wer ein wenig in Wikipedia blättert, stößt hier und da auf störende Kleinigkeiten: ein sinnloser Satz, redundanter Text, eine unglaubhafte Behauptung ohne Quellenangabe, eine stilistisch unpassende Passage in einem langen Text oder gar amateurhaft wirkende Einschübe wie "(stimmt das wirklich?)". Um Wikipedianer zu werden, muss man keinen Kurs belegen: Der Lerneffekt soll langfristig allein durch die Partizipation entstehen. Und selbst wenn Dutzende Benutzer am gleichen Text schreiben, können solche Probleme leicht übersehen werden.

Die schiere Menge an Inhalten zu jedem erdenklichen Thema ist für die meisten Besucher überwältigend, doch von einer einheitlichen Qualität kann keine Rede sein. Das veranlasst viele Journalisten, die über Wikipedia berichten, zu einem einfachen Schnellurteil: ein interessantes Projekt, aber noch lange keine Konkurrenz zu klassischen Nachschlagewerken.

Das Sternbild des Schützen, aus dem Wikipedia-Artikel Sagittarius [11]. Erstellt wurde es für Wikipedia von Torsten Bronger mit der von ihm entwickelten Open-Source-Software PP3 [12]

Doch dieses Urteil greift zu kurz. Wikipedia befindet sich eben in einem ständigen Fluss - ein Artikel, der gerade noch völlig in Ordnung war, kann Minuten später von einem anonymen Nutzer komplett umgearbeitet worden sein. Vandalismus wird, wie in Teil 1 beschrieben, meist früh erkannt und rückgängig gemacht. Auch subtile Änderungen können mittels der Differenz-Funktion ihren Autoren zugeordnet und korrigiert werden. Werbe-Einträge werden nicht toleriert und umgehend gelöscht. Entgegen der Intuition ist reine Bosheit das geringste Problem in Wikis - Unwissenheit, Unfähigkeit, ideologisches Denken oder einfache Nachlässigkeit sind problematischer.

Wurde ein Artikel sehr häufig editiert, ist in der Tendenz festzustellen, dass die Fakten besser geprüft wurden als in anderen Texten, aber Vorsicht ist geboten: Gelegentlich kommt es zu sogenannten "Edit-Kriegen", bei denen zwei Benutzer um die Version des Textes streiten und versuchen, ihre Version durch mehrfaches Speichern durchzusetzen. Solches Verhalten ist natürlich verpönt, und wenn ein Sysop davon Kenntnis nimmt, ist er aufgerufen, zu einer Schlichtung beizutragen. Zu diesem Zweck kann er die Seite vorübergehend schützen, d.h., sie ist nicht mehr editierbar, bis die Nutzer sich geeinigt haben. Nur unbeteiligte Dritte dürfen als Schlichter fungieren, denn Sysops agieren innerhalb von Wikipedia nur als Repräsentanten der Benutzergemeinde und haben relativ wenig Entscheidungsfreiraum.

Ein Artikel mit vielen Revisionen kann also einfach ein besonders heiß umkämpfter Text über ein komplexes Thema sein. Ein Beispiel dafür ist der englische Wikipedia-Text über Richard Wagner [13], der mit über 250 Revisionen zu den am meisten editierten Artikeln überhaupt gehört. Ein Nutzer war der Meinung, dieser Text sollte keine Informationen über Wagners Antisemitismus enthalten - man dürfe einen Menschen, der so wundervolle Kunstwerke geschaffen hat, nicht durch solch unwichtige Details über "Jugendsünden" schmähen. Statt dessen sollte die Angelegenheit, wenn überhaupt, in einem separaten Artikel zusammengefasst werden. Es folgte ein langwieriger Edit-Krieg, der natürlich viele Nutzer abschreckte und dazu führte, dass die oben erwähnten Schlichtungsprozeduren eingeführt wurden. Letztlich wurde der Nutzer wegen anderer Verstöße gegen die Wiki-Etikette verbannt, der Text über Wagner behandelt die Problematik des Antisemitismus erwartungsgemäß ausführlich.

Das höchste Gebot

Wer Wikipedia nicht kennt, mag von solchen Extrembeispielen schockiert sein und erwarten, dass das Projekt voller ideologischer Texte ist, die nur eine Meinung vertreten. Doch davon kann keine Rede sein. Dafür sorgt das philosophische Vermächtnis von Larry Sanger, dem Projektmitbegründer, der im März 2002 seinen Posten als "Herausgeber" aufgab. Sanger entwickelte die Regel des "neutralen Standpunkts" bzw. "neutral point of view", unter Wikipedianern kurz als NPOV [14] bekannt. In der klassischen Wiki-Philosophie gibt es keine Regeln, die eingehalten werden müssen. "Ignore all rules", heißt es deshalb auch noch auf manchen Wikipedia-Seiten. Doch von diesem Grundsatz ist das Projekt längst abgerückt, und die NPOV-Doktrin ist unantastbar. Wer sie wiederholt verletzt, muss damit rechnen, verbannt zu werden: Er kann dann zwar noch Artikel lesen, aber nicht mehr bearbeiten.

NPOV heißt nicht, dass die Autoren selbst keine Meinung haben dürfen. Sie dürfen sie nur nicht fälschlich als die einzig vorhandene oder gar die einzig richtige Meinung repräsentieren. "Ein Artikel sollte nicht behaupten, dass Großunternehmer Verbrecher sind, auch wenn der Autor dies glaubt. Statt dessen sollte er darauf hinweisen, dass einige Menschen dies glauben, was ihre Gründe sind und was die andere Seite denkt", erklärt Wikipedia-Gründer Jimbo Wales. Das gleiche gilt für jeden anderen Standpunkt. Sofern sich aus glaubhaften Quellen belegen lässt, dass eine relevante Zahl von Menschen den Standpunkt vertritt, kann er in einem Artikel zitiert werden. Ein Wikipedia-Artikel wird deshalb selten eindeutige Schlussfolgerungen ziehen. Statt dessen werden meist verschiedene alternative Sichtweisen präsentiert. Stellt sich natürlich in der Diskussion heraus, dass eine bestimmte Argumentation unlogisch oder fehlerhaft ist, so kann dies auch vermerkt werden. Eindeutige Falschinformationen müssen nicht der Neutralität halber weiterverbreitet werden.

Auch Extremismus findet aufgrund der NPOV-Logik nicht automatisch seinen Weg in Artikel. Das scheitert meist schon an der mangelnden Intelligenz der Protagonisten: Nur wenige Rassisten sind in der Lage, ihren Standpunkt in einer NPOV-konformen Weise zu formulieren. Die NPOV-Doktrin besagt weiterhin, dass die Zahl und Reputation derjenigen, die einen Standpunkt vertreten, dafür entscheidend ist, wo dieser Standpunkt wiedergegeben wird. So wurden zum Beispiel die Argumente der Holocaust-Leugner in einen eigenen Artikel [15] ausgelagert. Trotzdem entspricht natürlich auch dieser Artikel dem NPOV und präsentiert Argumente beider Seiten.

Die NPOV-Philosophie ist nichts grundsätzlich Neues - Journalisten folgen ähnlichen Richtlinien, und auch konkurrierende Enzyklopädien bemühen sich um Neutralität. Doch so konsequent verfolgt wie bei Wikipedia wird sie fast nirgendwo. Der Versuch, Argumente aller Seiten zu präsentieren, erfordert bei komplexen Fragen neue Herangehensweisen. In der aktuellen Revision [16] des Artikels über den amerikanischen Drogenkrieg findet sich z.B. ein regelrechter Argumentbaum, der Pro- und Contra-Positionen in Bezug aufeinander wiedergibt. Wer häufig an Diskussionen über bestimmte Themen teilnimmt, findet hier wertvolle Schützenhilfe. Für eine Enzyklopädie ist diese Art der Auseinandersetzung aber außergewöhnlich, und manchen wird sie stilistisch unangemessen vorkommen.

NPOV wirft auch philosophische Fragen auf. Kann man es z.B. jugendlichen Lesern zumuten, offen mit bestimmten Argumenten konfrontiert zu werden oder muss eine Enzyklopädie moralisch Stellung beziehen? Landet Wikipedia womöglich in Deutschland auf dem geheimen Index jugendgefährdender Schriften, weil blasphemischen oder sexuell freizügigen Ansichten nicht zur Genüge Einhalt geboten wird? Während die Amerikaner ihre verfassungsmäßig geschützte Meinungsfreiheit genießen, müssen die deutschen Wikipedianer hoffen, dass nicht der ein oder andere Regierungspräsident von dem Projekt Kenntnis nimmt ..

Quellensuche

Klassische Enzyklopädien verzichten häufig auf genaue Quellenangaben. Bibliographien sind zwar bei größeren Texten meist vorhanden, doch die hohe Reputation einer Encyclopaedia Britannica erlaubt es dem Leser, sie als Sekundärquelle zu zitieren. Wikipedia kann in der jetzigen Form diese Reputation kaum erreichen und muss deshalb Quellenbelege für wesentliche Faktenaussagen liefern. Verweise auf gedruckte Quellen sind in der Praxis eher die Ausnahme, die meisten Wikipedianer nutzen das Web zu Recherchezwecken. Das muss nicht schlecht sein, denn zahlreiche hochwertige Publikationen sind im Volltext im Web zu finden. So finden sich in manchem Artikel (Beispiel: Sex Education [17] ) Links direkt auf Studien im "British Medical Journal", im "Cancer Journal" oder anderen renommierten Fachzeitschriften.

Die zunehmende Verfügbarkeit wissenschaftlicher Arbeiten im Netz (Free Online Scholarship [18]) wird diesen Trend sicher noch verstärken. Besonders geeignet für Enzyklopädie-Artikel sind dabei sogenannte Meta-Analysen, die Studien zu einer Fragestellung zusammenfassen und auch methodologisch bewerten. Der NPOV stellt sicher, dass bei kontroversen Themen wie Homöopathie nicht einseitig Studien ausgewählt werden dürfen, die eine bestimmte Sichtweise unterstützen.

Dieses Foto illustriert den Artikel Vegetarianism [19]. Produziert wurde es im Auftrag des US Agricultural Research Service, einer Regierungseinrichtung. In den USA sind im öffentlichen Auftrag erstellte Informationen aller Art Eigentum der Allgemeinheit und dürfen - auch international - für beliebige Zwecke verwendet werden. Wikipedia bedient sich aus diesem reichhaltigen Fundus.

Zweifellos enthält Wikipedia mehr ausgewählte Weblinks als jede andere Enzyklopädie. Während Encarta & Co. meist auf komplette Sites zu einem bestimmten Thema verweisen, zeigen Wikipedia-Artikel auch auf Online-Papers, News-Artikel, Weblog-Einträge, Usenet-Postings usw. Erscheint ein Link nicht glaubhaft, wird er entfernt, zeigt er auf eine ideologisch motivierte Website, wird häufig ein entsprechender Hinweis hinzugefügt (Beispiel: Global Warming [20]] - die über 20 Links sind in 6 Kategorien aufgeteilt).

An Fotos und Illustrationen mangelt es Wikipedia ebenfalls nicht. Viele Wikipedianer gehen selbst auf Motivsuche und stellen ihre Bilder unter den Bedingungen der FDL oder völlig lizenzfrei zur Verfügung. Auch Karten, Diagramme und andere Illustrationen werden schon einmal ad hoc erstellt. Daneben gibt es noch Bilder und Fotos, die nicht urheberrechtlich geschützt sind. Das sind zum einen Gemälde oder Veröffentlichungen, deren Schutz abgelaufen ist (70 Jahre nach dem Tod des Autors). Zum anderen gibt es aber auch Bildersammlungen, die frei zur Verfügung gestellt wurden - entweder, weil die Urheber es so wollten oder, was bedeutender ist, weil sie im Auftrag der amerikanischen Regierung erstellt wurden. Veröffentlichungen der Regierung müssen in den USA der Allgemeinheit zur Verfügung stehen, so dass die riesigen Archive der NASA, der Forst- und Landwirtschaftsbehörden, des Militärs usw. frei nutzbar sind. Dabei handelt es sich oftmals um hochprofessionelle Fotografien. Um die Recherche zu vereinfachen, gibt es eine Liste der entsprechenden Archive [21].

Ähnliches gilt für Deutschland nicht, und auch sonst bereitet das Urheberrecht Schwierigkeiten. Viele Museen haben zum Beispiel strikte Richtlinien gegen das Fotografieren bestimmter oder gar aller Ausstellungsstücke und bestehen auf der Nutzung eines kostenpflichtigen Reproduktions-Services, oft in Verbindung mit einem stark eingeschränkten Nutzungsabkommen. Ob das bei Kunstwerken, deren Inhalt längst nicht mehr geschützt ist, überhaupt legal ist, sei dahingestellt. Praktiziert wird es dennoch, teilweise mit der Rechtfertigung, die Digitalisierung selbst stelle einen Schöpfungsakt dar und sei deshalb schützenswert. Auf politische Reformen in diesen Bereich zu hoffen heißt, den verantwortlichen Politikern einen hohen Grad von Intelligenz, Wissen und Integrität zuzuschreiben.

Professoren und Teenager

Bei Wikipedia kann jeder mitmachen, doch eine offene Enzyklopädie zieht vorwiegend Menschen mit akademischem Hintergrund an. Informatiker sind zahlreich vertreten, was wohl damit zusammenhängt, dass Wikipedia bereits eine hohe Penetration in Internetmedien wie Weblogs und Diskussionsforen hat. Doch Biologen, Mathematiker, Historiker, Juristen, Musiker, Linguisten und Experten oder Amateure aus zahllosen anderen Disziplinen sind ebenfalls an dem Projekt beteiligt. An fachlich qualifizierten Mitarbeitern herrscht bei den über 10.000 registrierten Nutzern kein Mangel, viele davon könnten wohl ohne Weiteres einen Job bei der Encarta- oder Britannica-Redaktion bekommen.

Was motiviert diese Menschen? Menschen wie Axel Boldt, Mathematikprofessor an der Metropolitan State University in Saint Paul, Minnesota und einer der aktivsten Wikipedianer. Oder Jani Melik, CAD-Designer und abgebrochener Physik- und Astronomie-Student aus Celje in Slowenien. David Wheeler, Software-Designer und Buchautor aus Virginia, USA, und Verfasser mehrerer Studien über Open-Source-Software. Oder James Duffy, Historiker und Politologe aus dem irischen Dublin. "Es gibt verdammt viele intelligente Leute auf Wikipedia, und ich empfinde es als intellektuelle Herausforderung, dabei zu sein", meint Duffy, der in einem Monat über 400 Euro an die irische Telefongesellschaft für seinen "Wikiholismus" bezahlt hat und auch schon mal beim Buckingham-Palast anruft, um dort zu erfahren, wie die stilistisch korrekte Titulierung der Mitglieder des britischen Königshauses lautet. "Ein paar von uns haben über einen Monat daran gearbeitet, und heute gehören die Informationen über die Royals zu den akkuratesten im Internet."

Dabei ist Ruhm und Ehre zumindest für Duffy nur eine sekundäre Motivation. "Zu wissen, was Du geleistet hast, ist oft wichtiger, als dafür gelobt zu werden. Als aber zum Beispiel mein Artikel über das Irische Parlamentgebäude [22] auf der Seite der besten Artikel eingetragen wurde, war ich hocherfreut, insbesondere, da ich auch die Fotos dafür gemacht hatte." Immerhin wird in der Artikelhistorie der Beitrag jedes Autors für die Ewigkeit festgehalten.

Unter den Wikipedianern gibt es auch Jugendliche wie den 14jährigen Daniel Ehrenberg aus Rochester, New York, Linux-Benutzer und Esperanto-Fan, der über fast alle Themenbereiche schreibt und vergeblich versucht, seine Klassenkameraden von dem Projekt zu begeistern. Es gibt Couch-Potatoes, die alles über ihre Lieblings-Fernsehserien sammeln. Rentner, die ihre besten Fotos scannen und in passenden Wikipedia-Artikeln veröffentlichen. Und natürlich auch viele, die aus Eitelkeit einen Enzyklopädie-Artikel über ihr eigenes Projekt schreiben möchten, sei es eine Band, ein Online-Rollenspiel oder eine Kunstausstellung. In diesem Fall wird häufig ein sogenannter "Google-Test" durchgeführt - lassen sich die Informationen nicht aus glaubwürdigen Quellen nachvollziehen, werden sie zusammengestutzt oder gelöscht.

Auch viele religiöse Menschen arbeiten an der Enzyklopädie mit. Die Heiligen des Katholizismus werden von entsprechenden Anhängern ähnlich eifrig eingetragen wie die verschiedenen Figuren aus dem Star-Trek-Universum von dessen Fans. Dass dabei der NPOV mitunter zu kurz kommt, versteht sich, insbesondere wenn gleich ganze Artikel aus der 1908er Catholic Encyclopedia übernommen werden, die frei verfügbar ist.

Qualitätsvergleich

Trotz erwiesener guter Absichten der meisten Teilnehmer kommt man bei einer Beurteilung von Wikipedia um einen direkten Vergleich nicht herum. Will man die Qualität der Wikipedia-Artikel ernsthaft mit der anderer Enzyklopädien vergleichen, muss man verschiedene Fragen stellen:

  1. Wie ausführlich sind zufällig ausgewählte Artikel aus einer Enzyklopädie im Vergleich mit solchen aus einer anderen? In diesem Fall sollte der Vergleich in beide Richtungen durchgeführt werden, da womöglich die Enzyklopädien unterschiedliche Themen in unterschiedlicher Ausführlichkeit behandeln.
  2. Wie umfassend und akkurat sind die Artikel, die von den Wikipedianern selbst als "exzellent" (engl.: "Brilliant Prose") eingestuft werden?
  3. Wie sieht es bei hochkontroversen oder politisch brisanten Themen aus - welche Enzyklopädie liefert die besseren Inhalte?
  4. Fehlen Artikel über bestimmte Themen völlig?

Als Referenz-Enzyklopädie wird im folgenden die Microsoft Encarta Enzyklopädie Professional 2003 (deutsche Version) verwendet. Zunächst führen wir eine zufällige Auswahl von 10 Artikeln aus der englischen Wikipedia durch und vergleichen diese mit entsprechenden Pendants in der Encarta. Danach folgt eine entsprechende Selektion von fünf Encarta-Artikeln.

Zufallsauswahl: Zehnmal Wikipedia

Treffenderweise ist der erste Wikipedia-Zufallstreffer ein Artikel über die Encyclopedia Galactica [23]. Wir lernen in zwei Absätzen, dass es sich hierbei um eine fiktive Enzyklopädie galaktischer Zivilisationen handelt, eine Idee, die unter anderem in Isaac Asimovs "Foundation"-Serie verwendet wird. Der Artikel ist sprachlich korrekt und wird durch einen Link auf ein gleichnamiges Web-Projekt [24] vervollständigt, das sich offenbar an Science-Fiction-Veröffentlichungen anlehnt. Eine Beschreibung des Links wäre hilfreich. Ein Gegenstück in Microsofts Encarta existiert erwartungsgemäß nicht, auch der Encarta-Artikel über Asimov erwähnt das Konzept mit keinem Wort.

Der zweite Wikipedia-Zufallsartikel ist California State University San Bernadino [25]. Auch dieser Artikel ist knapp, nennt das Gründungsjahr, die Zahl der Studenten im Jahr 2003, das Fächerangebot und einige Details über das Sportprogramm. Auch in diesem Fall gibt es einen Link, diesmal auf die offizielle Website. Kein Äquivalent in Microsofts Encarta. Immerhin gibt es zwei Absätze über eine andere "State University" in Kalifornien, die San Francisco State University. Dieser Artikel enthält weniger Detailinformationen, verrät uns aber etwas über die erwerbbaren Abschlüsse (Bakkalaureus, Magister, Magister Artium).

Die Differenz-Funktion zeigt die Unterschiede zwischen zwei Revisionen eines Artikels. Veränderte Zeichen sind rot hervorgehoben. Aus der Artikelhistorie lässt sich so ein exaktes Bild der Entwicklung rekonstruieren.

Das Wikipedia-Gegenstück hierzu, San Francisco State University [26], ist dagegen derzeit mit zwei Sätzen und einem Weblink noch recht erbärmlich. Wie kam es dazu? Ein Blick in die Artikelhistorie verrät, dass an Stelle des Artikels ursprünglich am 22. November 2002 ein Nonsens-Text angelegt wurde. Anstatt den Text zu löschen, schrieb ein anderer Mitarbeiter schnell wenigstens zwei Sätze hinein und machte den Text so zu einem sogenannten "Stub" (Stumpf), den andere um Details erweitern sollen.

Unser dritter Zufallstreffer ist ein Text über Henry Ford II. [27], den Enkel von Henry Ford. Mit 3682 Zeichen ist er unser bisher umfangreichster Text. Der Text beschreibt wie Ford die Firma seines früh verstorbenen Vaters Edsel Ford zunächst nicht übernehmen konnte, weil er im II. Weltkrieg bei der Marine war - so musste Großvater Ford noch einmal ran. Erst 1945 durfte der Enkel ans Ruder der Firma, die kurzzeitig ins Straucheln geraten war. Wir erfahren von Fords aggressivem Management und von seinen Personalentscheidungen.

Der Artikel ist sprachlich korrekt, könnte aber durch ein paar Zwischenüberschriften aufgelockert werden. Zumindest ein Suchmaschinen-Test belegt, dass es sich um Originalmaterial handelt, und der Text enthält zahlreiche Querverweise. Ein stichprobenartiger Google-Check bestätigt auch die im Artikel gemachten Faktenangeben, der Text selbst enthält keine Quellenangaben. Geschrieben wurde er von einem einzigen Wikipedianer, "Hephaestos", von dem wir nicht viel erfahren, außer, dass für ihn Wikipedia und Zigaretten zum Frühstücksritual gehören und dass er Spaß am Korrekturlesen hat - aber immerhin nennt er eine Email-Adresse, unter der man ihn kontaktieren kann.

Das Encarta-Äquivalent besteht aus zwei Sätzen. Statt Geburtsdaten gibt es nur Jahreszahlen. Der zweite Satz lautet: "Von 1945 bis 1960 war er Präsident, dann Verwaltungsratsvorsitzender der Ford Motor Company." Wir erfahren nichts darüber, was "dann" heißt, d.h. wie lange und in welchen Positionen Ford nach seiner Firmenpräsidentschaft dort tätig war. Quelleninformationen, Bilder, Links, Autoreninformationen - null.

Als nächstes geht es nach Ashfield, Massachusetts [28], einer amerikanischen Kleinstadt. Der Artikel gehört zu den erwähnten aus den US-Volkszählungsdaten generierten Texten. Neben geographischen und demographischen Daten enthält der Artikel keine weiteren Informationen und wurde auch nicht weiter editiert - kein Wunder, die Stadt hat 1800 Einwohner. Eine Encarta-Suche erübrigt sich fast - ein Gegenstück existiert nicht, was verzeihlich ist.

Der Wikipedia-Text über Chris Marker [29], einen französischen Dokumentarfilmer, ist drei Sätze kurz und explizit als "Stub" gekennzeichnet. Er enthält biographische Daten und einen Verweis auf den Film "La Jetée", über den es ebenfalls einen Artikel gibt. Hier hat Encarta die Nase vorn: Mit rund 1400 Zeichen ist der Text deutlich ausführlicher und referenziert Markers bedeutendste Werke. Er erwähnt Markers "radikale politische Ansichten", nennt diese aber nicht, und bezeichnet Markers Film "A.K." als "faszinierend" - die Meinung des Autors? Für Wikipedia wäre das "POV", das Gegenteil von NPOV, und damit inakzeptabel. Der Artikel enthält drei Literaturangaben.

Über das Heine-Borel-Theorem [30] erfahren wir in Wikipedia, dass es ein Satz der mathematischen Analyse ist, der besagt, dass eine Untermenge der realen Zahlen R kompakt ist, wenn sie abgeschlossen und beschränkt ist. Wir lernen auch, dass der Satz auf metrische Räume anwendbar ist, aber einen mathematischen Beweis finden wir nicht. Ein Blick auf die Diskussionsseite zeigt, dass der Mathematiker Axel Boldt einen vorhandenen Beweis entfernt hat, weil er teilweise fehlerhaft war. Ein Encarta-Artikel über den Satz existiert nicht.

Es folgt mit dem Text über das Buch I, Claudius [31] von Robert Graves ein weiterer Abstecher in die Welt der Fantasie. Wir erfahren nur, dass es vom Leben des römischen Kaisers Claudius handelt, dafür gibt es geschichtliche Informationen über die Verfilmung des Buches - einen ersten Versuch, der wegen eines Unfalls fehlgeschlagen ist, und schließlich eine erfolgreiche Produktion der BBC. Der Text enthält eine Titelgrafik des Buches, die jedoch von schlechter technischer Qualität ist. Einen Encarta-Artikel über das Buch gibt es nicht, auch der Encarta-Artikel über Robert Graves enthält keine Einzelheiten darüber.

Der Zufall führt uns nun zum Text über Hybridfahrzeuge [32], die mit Verbrennungsmotoren und Batterien funktionieren. Der Artikel spricht von "great advantages", was etwas überschwenglich klingt, und zählt diese angeblichen Vorteile auf. Der Text verweist schließlich darauf, dass das erste Hybridfahrzeug 1928 von Ferdinand Porsche entwickelt wurde, dass aber die ersten in Masse produzierten Modelle erst in diesem Jahrhundert von Firmen wie Toyota und Honda entwickelt wurden. Encarta hat keinen eigenen Artikel über Hybridfahrzeuge. Der Artikel "Elektroantrieb" enthält dafür zwei Absätze über Hybridmotoren, jedoch keine Informationen über ihren Einsatz. Der Text ist immerhin mehr als doppelt so lang als sein Wikipedia-Äquivalent, besser strukturiert und illustriert.

Über das Programm VariCAD [33] für die Erstellung von mechanischen Modellen im Computer erfahren wir in vier Sätzen nur recht wenig, aber ein Link auf die Programm-Homepage ist vorhanden. Artikel über Computerprogramme findet man in Encarta kaum, selbst über das Profi-Tool AutoCAD gibt es keinen Text, über VariCAD natürlich auch nicht. Wikipedia enthält dagegen über praktisch jedes Programm im Masseneinsatz und über zahlreiche Open-Source-Anwendungen eigene Artikel.

Auch der Text über Xanadu [34], die opulente Sommer-Hauptstadt des Mongolen Kublai Khan, ist nur sehr knapp. Er zitiert den Besuch Xanadus durch Marco Polo und ein Gedicht von Samuel Taylor Coleridge, das Xanadu zur beliebten Metapher für Dekadenz werden ließ. Ein Hinweis auf Citizen Kane wäre nett gewesen. Einen kleinen Tippfehler habe ich korrigiert. Immerhin gibt es einen Link auf den knappen Artikel über "Project Xanadu", Ted Nelsons 1960 gestartetes Hypertext-Projekt. Nach der Encyclopaedia Galactica endet unser Zufallsvergleich also mit einem Hinweis auf die Idee eines massiven, bidirektionalen, offen editierbaren globalen Informationsnetzes. Viele der Xanadu-Ideen wie Backlinks und Versioning finden sich in Wikis wieder.

Zufallsauswahl: Fünfmal Microsoft

Microsofts Encarta hat keine Zufallsfunktion, also musste ich die wissenschaftliche Methode des "10 Sekunden mit geschlossenen Augen wie verrückt am Scrollbalken drehen" einsetzen. Der erste so gefundene Text ist der Artikel über Robert Mugabe, Premierminister und Staatspräsident von Zimbabwe. Sowohl der Encarta-Artikel als auch der Wikipedia-Text sind ausführlich: etwa 10500 Zeichen bei Wikipedia, etwa 7500 bei Encarta. Doch angesichts Mugabes Politik der Enteignungen stellt sich die Frage nach der Wahrung der Neutralität: Welcher Artikel ist einseitiger? Angesichts der Länge des Textes können wir hier außerdem erstmals gut prüfen, ob kollaborativ verfasste Wikipedia-Texte auch lesbar sind.

Der Wikipedia-Text behandelt ausführlich die politische Verfolgung von Mugabes früheren Koalitionspartnern durch die als "berüchtigt" bezeichnete Fünfte Brigade; der Encarta-Text ignoriert diesen Abschnitt weitgehend und spricht nur davon, dass eine "Einparteienherrschaft" errichtet wurde. Wikipedia schreibt von Gesundheitsreformen und Bildungsprogrammen für die schwarze Bevölkerung, Encarta berichtet kaum über Mugabes eigentliche Politik und mehr über seine langfristige Machtkonsolidierung und Änderungen des politischen Systems. Der Wikipedia-Text behandelt Mugabes Verfolgung von Homosexuellen und seine Intervention im kongolesischen Bürgerkrieg, der Encarta-Text berichtet nicht darüber. Beide Texte beschreiben die Kontroverse um die letzte Präsidentschaftswahl im März 2002 und sind damit hinreichend aktuell.

Der Wikipedia-Abschnitt über Mugabes "Landreformen" diskutiert die Argumente der Befürworter und Gegner ausführlich und erklärt, dass unter anderem die Zersplitterung vorheriger Großfarmen und sinnlose Zerstörungen von Maschinen, die vorher Weißen gehörten, zu Produktivitätsverlusten führten. Der Encarta-Text enthält dafür mehr Zahlen über die Enteignungen. Wikipedia fasst kurz zusammen, dass Zimbabwe vorher eine Kolonialmacht namens "Rhodesien" war, benannt nach dem Finanzmagnaten Cecil Rhodes, dessen Firma das Land im 19. Jahrhundert übernommen hatte. Der Encarta-Artikel erwähnt dies nicht, man findet entsprechende Informationen allerdings vergraben im Artikel über Zimbabwe.

Insgesamt wirkt der Encarta-Artikel strukturlos und trocken, eine reine Auflistung von Zahlen und Fakten, die langen Absätze sind noch nicht einmal aufgelockert durch Überschriften. Ein einziges sprödes Schwarzweiß-Bild illustriert den Text. Weblinks gibt es nicht, dafür aber einen Verweis auf eine Encarta-Eigenheit, das "Historama", in dem man sich die Geschichte Zimbabwes als Zeitlinie anschauen kann. Der Wikipedia-Artikel enthält mehrere Überschriften; ein paar kleinere stilistische Fehler und ein mörderlanger Absatz fallen störend auf. Fünf Weblinks auf Artikel über Mugabes Politik ergänzen den Text.

Ein Blick auf die Diskussionsseite und in die Edit-Geschichte zeigt, dass es bereits lange Kontroversen um die NPOV-Darstellung von Mugabes Politik gab, die derzeitige Version stellt einen seit etwa einem Monat stabilen Kompromiss dar. Angesichts der positiven Entwicklung des Artikels zeichnet sich hier langfristig ein deutlich besserer Text als im Microsoft-Kompendium ab.

Das Eingangsgebäude des Irischen Parlaments, fotografiert vom Wikipedianer James Duffy, der wie viele Autoren gelegentlich auf Fotojagd für das Projekt geht. Dieses Bild steht ausnahmsweise nicht unter der GNU FDL, sondern in der Public Domain -- wäre es nicht so, müsste in der Konsequenz dieser gesamte Artikel unter der FDL lizenziert werden und wäre so frei kopier- und veränderbar ("Copyleft").

Als nächstes folgt ein Eintrag über die Stadt Heidelberg. Hier ziehen wir zum Vergleich sowohl den Text in der englischen als auch den in der deutschen Wikipedia heran. Alle drei Enzyklopädien widmen der Universitätsstadt nicht viele Worte. Bei Encarta sind es 2700 Zeichen, bei der englischen Wikipedia 1600, bei der deutschen 1300.

Der Encarta-Text erzählt kurz von Industriezweigen, Gebäuden (insbesondere dem Heidelberger Schloss) und Geschichte und erwähnt das Heidelberger Weinfass sowie den papstkritischen Autor Hieronymus von Prag. Er enthält einen Verweis auf den Encarta-Atlas, zwei Bilder und zwei Quellentexte über Heidelberg; einen Bericht von Victor Hugo und ein Gedicht von Friedrich Hölderlin. Insgesamt also ein runder, wenn auch etwas knapper Artikel.

Der englische Text [35] ist noch kürzer und erwähnt kurz die geographische Lage der Stadt und beschreibt ihr Ambiente ("eine Mischung aus Tradition und Moderne" - etwas banal). Die Geschichte wird in Bullet-Points abgehandelt. Dafür gibt es mehr Querverweise auf bedeutende Akademiker, die sich in Heidelberg aufhielten: Georg Hegel, Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel. Der deutsche Text [36] ist stichwortartig, verweist auf die verschiedenen Stadtteile und enthält lieblos zusammengeworfene Weblinks. Dafür findet sich darin ein Foto, das in der englischen Version (noch) nicht enthalten ist.

Der Scrollbalken führt uns nun zum deutschen Regisseur Rudolf Thome, über den Encarta in drei Absätzen zu berichten weiß. Seine Arbeiten werden - wieder kein NPOV bei Encarta - als "Meisterwerke des Neuen deutschen Films" bezeichnet. Weder die deutsche noch die englische Wikipedia erwähnen ihn.

Der nächste Text ist ein Absatz über Medienerziehung, die Encarta als "den Versuch, Kindern und Heranwachsenden Kompetenz .." - man kann sich den Rest denken - definiert. Zielführende Internetnutzung, Unterscheidung von Information und Werbung, Medien und Gewalt werden kurz erwähnt. Der Text ist banal und enthält keine Details, die man sich nicht bereits aus dem Titel denken kann. Ein Äquivalent unter dem gleichen Titel existiert weder in der englischen noch der deutschen Wikipedia, der erschreckend unterentwickelte Text Mass media [37] erwähnt das Problem der Mediengewalt nicht. Der deutsche Text Fernsehen [38] geht kurz auf Medienwirkung, Mediengewalt und Medienpädagogik ein und verweist auf einen noch nicht existenten Artikel gleichen Namens. Im englischen Television [39] findet sich darauf kein Hinweis, und auch die Zensurdebatte in den USA wird dort nicht erwähnt - lediglich ein unscheinbarer Hinweis auf den V-Chip [40] verrät mehr. Hier müssen beide Enzyklopädien noch Inhalte und Struktur schaffen.

Wie sieht es bei politischen Figuren aus, die im Westen weitgehend unbekannt sind? Encarta liefert per Zufall eine verhältnismäßig ausführliche Kurzbiographie des kambodschanischen Prinzen Samdech Norodom Ranariddh. Wikipedia ist der Mann weitgehend unbekannt, lediglich der aus dem CIA World Factbook importierte Artikel Politics of Cambodia [41] verweist auf einen wiederum nichtexistenten Text. Tatsächlich gibt es auf Wikipedia offenbar keinen Kambodscha-Experten - die meisten relevanten Texte sind knapp und wenig editiert.

Jagd nach Diamanten

Unter dem Namen "Brilliant Prose" fasst die englische Wikipedia die angeblich qualitativ hochwertigsten Texte zusammen - einen Abstimmungsprozess gibt es nicht, das Wiki-Prinzip soll sicherstellen, dass schlechte Texte entfernt werden. Werfen wir also einen Blick auf die entsprechenden Artikel.

Da wäre zum Beispiel der Text über das Milgram-Experiment [42], das die Autoritätshörigkeit von Versuchssubjekten feststellen sollte, indem sie dazu aufgefordert wurden, anderen Versuchsteilnehmern Elektroschocks zu verpassen. Mit 5800 Zeichen ist er in der Tat ausführlich. Er beschreibt die Methodik und Ergebnisse von Milgrams Studien und auch die dadurch aufgeworfenen ethischen Fragen und zitiert jüngere Forschungen. Es folgen Querverweise und Quellenangaben sowie ein Link auf Milgrams Text "The Perils of Obedience", der im Volltext [43] verfügbar ist. Weder das Experiment noch Stanley Milgram werden in Encarta mit einem Wort erwähnt - ein echtes Defizit der teuren Multimedia-Enzyklopädie.

Der Artikel über Stephen King [44] ist mit 10100 Zeichen fast doppelt so lang wie sein Encarta-Pendant. Das liegt vor allem an der ausführlichen Bibliographie, der Text diskutiert eher Kings Methoden als seine Werke, während Encarta stärker auf die Inhalte eingeht. Kein Wunder: Bei Wikipedia finden sich über zahlreiche von Kings Büchern eigene Artikel, die vom einfachen "Stumpf" bis zur ausführlichen Inhaltsangabe reichen, entsprechende Zusammenfassungen wären im Haupttext redundant.

Der Beitrag über den von Computersystemen verwendeten ASCII-Standard [45] zeigt die Detailverliebtheit der Wikipedianer. Er geht auf Geschichte und verschiedene Varianten des Standards an und enthält die relevanten Tabellen, die u.a. die Kontrollzeichen des ASCII-Standards auflisten und benennen. Die Zeichen sind in Binärform, Dezimal- und Hexadezimaldarstellung aufgelistet. Der Encarta-Text ist mit 2200 Zeichen weniger als halb so lang und enthält keine Tabellen.

Mathematische Formeln können im unter Wissenschaftlern beliebten TeX-Format [46] eingegeben werden und werden nach dem Speichern akkurat dargestellt. Der Mathematik-Bereich in Wikipedia übertrifft die meisten Lexika bei weitem.

Neben der Informatik ist auch die Philosophie eine von Wikipedias starken Seiten. Ockhams Rasiermesser [47] ist ein bedeutender wissenschaftsphilosophischer Grundsatz, der besagt, dass komplexe Erklärungen einfachen nicht ohne Notwendigkeit vorzuziehen sind. Der Wikipedia-Artikel ist zwar nicht unbedingt brillant, geht aber im Detail auf die Geschichte und moderne Anwendung ein und liefert ein humorvolles Anwendungsbeispiel: Wenn ein Baum im Sturm umfällt, liege es näher, dies mit dem Sturm zu erklären als mit 200 Meter großen marodierenden Außerirdischen. Er erklärt die Anwendung des Prinzips in der Statistik und Religionskritik und enthält zahlreiche hilfreiche Querverweise.

Encarta hat keinen Artikel über Ockhams Rasiermesser, es wird lediglich im Text über Ockham selbst in zwei Sätzen erwähnt. Im zweiten Satz heißt es: "Allerdings geht [die] bekannte Formel [des Prinzips] 'entia non sunt multiplicanda sine necessitate' ... nicht auf Ockham zurück", was man leicht fehlinterpretieren kann: Ockhams Rasiermesser sei nicht seine Erfindung gewesen. Dabei drückte sich Ockham lediglich etwas anders aus ("Pluralitas non est ponenda sine neccesitate" - "Ohne Notwendigkeit soll keine Vielfältigkeit hinzugefügt werden").

Auch Sprachen sind eine von Wikipedias Spezialitäten. Der Artikel über Hebräisch [48] ist auf fünf Seiten verteilt (Geschichte, Phonologie, Morphologie, Grammatik und Alphabet) und stellt mit insgesamt etwa 30000 Zeichen eine detaillierte Einführung dar. Trotz guter Struktur kann der Encarta-Text mit 6000 Zeichen hier nicht mithalten.

Mit rund 16500 Zeichen ist auch der Text über das Brettspiel Go [49] deutlich länger als sein Encarta-Pendant (4500 Zeichen). Er geht im Detail auf die Regeln ein und vergleicht Go mit anderen Spielen, Spielzubehör wird ebenso diskutiert wie die von professionellen Go-Spielern verwendeten Ranking-Verfahren. Da wirkt die Abhandlung der Geschichte in vier Absätzen fast schon knapp. Doch der Go-Artikel ist damit noch nicht zu Ende. Er enthält Verweise auf Detail-Artikel über Regeln, Strategien, Sprichwörter und bekannte Spieler, die zusammen noch einmal rund 25000 Zeichen ausmachen - fast könnte man meinen, in einem Go-Wiki gelandet zu sein.

Der Encarta-Artikel über Go enthält eine Zusammenfassung der Regeln und eine kurze Geschichte, doch auch die Regelerklärung ist in Wikipedia in Form einer kompakten Liste im Haupttext und einem Verweis auf den Detailartikel deutlich besser gelöst. Der Encarta-Text enthält mysteriöserweise keinen einzigen Weblink, während es bei Wikipedia gleich elf allein im Hauptartikel sind (wobei natürlich auch die Möglichkeit des Online-Spiels erwähnt wird), auch eine Go-Newsgroup wird referenziert, dafür gibt es nur eine Literaturangabe. Das Poker-Universum [50] in Wikipedia ist noch einmal eine Nummer größer - allein der Artikel über die Spielvariante des Draw Poker [51] ist mit rund 20000 Zeichen fast dreimal so lang wie der gesamte Encarta-Text über Poker (7000 Zeichen).

Die deutsche Wikipedia hat eine ähnliche Liste der exzellenten Artikel [52], doch sie ist noch relativ leer. Dort aufgeführt ist zum Beispiel der Artikel Kondom [53], der zwar noch einige stilistische Unfeinheiten aufweist, aber mit etwa 6300 Zeichen bereits recht ausführlich ist. In Encarta gibt es keinen eigenen Artikel über Kondome, der lange Text über Empfängnisverhütung geht in rund 1200 Zeichen darauf ein. In Wikipedia finden sich hier auch Gebrauchshinweise und Links, die in der Encarta fehlen.

Der deutsche Wikipedia-Text über Patente [54] ist deutlich ausführlicher und kritischer als der Encarta-Artikel über das Patentrecht, und auch der deutsche Artikel über die Maul- und Klauenseuche [55] ist ausführlicher als das Encarta-Äquivalent, geht aber kaum auf die internationale Verbreitungsentwicklung ein.

Die CIA, Gedankenkontrolle und die Illuminaten

Wie sieht es nun bei kontroversen Themen aus, bei denen man vermuten könnte, dass eine klassische Enzyklopädie sie aus politischen Gründen nicht behandelt? Traut sich die Encarta, über Menschenversuche der CIA zu berichten? Präsentiert sie sachliche und aktuelle Informationen über geheimnistuerische Organisationen wie die Bilderberger und die Trilaterale Kommission?

Der Encarta-Artikel über Verschwörungstheorien definiert sie als "Versuche, politische Geschehnisse auf ein rational nicht erklärbares, meist für böse gehaltenes Interessen- oder Machtgeflecht zurückzuführen", und hält sie für den "Ausdruck totalitärer Systeme". Es folgt ein wenig Sozialpsychologie: "Verschwörungstheorien tragen zu einer (trügerischen) Selbstvergewisserung bei, indem sie komplexe Zusammenhänge simplifizieren und durch die Zuweisung von Schuld uneingestandene Ängste in Wut und Hass auf eine identifizierbare Gruppe umlenken." Zu guter Letzt ein Hinweis auf antisemitische Verschwörungstheorien, das Ganze erstreckt sich über drei Absätze.

Ein solcher Artikel, der mehr oder weniger der Meinung eines Autors entspricht, wäre in Wikipedia kaum möglich. Die Analyse ist subjektiv und verletzt damit die heilige NPOV-Regel. Die Beispiele scheinen bewusst wegen ihrer negativen Konnotationen gewählt zu sein. Der Artikel erinnert so an ähnliche Veröffentlichungen in Mainstream-Medien wie der New York Times oder dem SPIEGEL, die meist einem Standard-Schema folgen: "Im Internet kann jeder alles publizieren. Deshalb gibt es dort viele verrückte Ideen, wie z.B. die Reptilianer und die jüdische Weltverschwörung. Verschwörungstheorien vermitteln ihren Anhängern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit und sind meist unwiderlegbar." Es folgt in solchen Artikeln dann meist ein Beispiel einer plausibel klingenden Verschwörungstheorie, die widerlegt wurde ("Bilder von jubelnden Palästinensern nach dem 11. September waren falsch") - und die Welt ist in Ordnung.

Der Wiki-Artikel Conspiracy theory [56] hat derzeit einen Umfang von etwa 23500 Zeichen (Encarta: 2000 Zeichen). Die Einleitung ist umfangreicher als der gesamte Encarta-Text. Sie ist neutraler geschrieben und enthält bereits zwei interessante Verweise: Auf die Men in Black [57] aus der UFO-Szene und auf die Anti-Psychiatrie-Bewegung [58], die vermutet, dass unliebsame Zeitgenossen schlicht für geistesgestört erklärt und weggesperrt werden. Wer möchte, kann sich in den beiden umfassenden Artikeln über diese Phänomene weiter informieren.

Der Artikel verweist im nächsten Teil kurz darauf, dass Verschwörungen erwiesenermaßen existieren und differenziert die Verschwörungstheorie vom Begriff der Verschwörung selbst:

"Yet if conspiracy is taken to include every back-room alliance, every unpublishable 'understanding' between political or business persons, every cartel, and so forth - every secret plan between two or more parties at the expense of a third - then conspiracy is so widespread as to be unremarkable. It is in this sense that conspiracy theory collector Colin Wilson has remarked that conspiracy is 'the normal continuation of normal politics by normal means.'"

Er stellt weiter fest, dass die Bezeichnung "Conspiracy Theory" sich hervorragend eignet, um soziale und politische Kritik zu verspotten und macht einen Unterschied zwischen Verschwörungstheorien und Anschuldigungen von Verschwörungen. Es folgt eine Zusammenfassung verschiedener Elemente von Verschwörungstheorien:

  1. Ermordungen (JFK & Co.)
  2. Geheimgesellschaften
  3. Unterdrückte Erfindungen
  4. Geheimdienste
  5. Überwachungstechnologien
  6. HIV/AIDS
  7. Antisemitismus
  8. Area 51 / Außerirdische

Der Artikel enthält auch eine kurze Abhandlung über Verschwörungs-Folklore und Verschwörungs-Fiktionen wie die "Illuminatus!"-Trilogie, Umberto Ecos "Foucaultsches Pendel" und Pynchons "Versteigerung von No. 49". Dann ein typischer Wikipedia-Schnitzer, der sicher bald verschwindet: "Etwas über Oliver Stone und JFK (Film) hier - habe ich nicht gesehen".

Nun folgt der Abschnitt "Real life imitates conspiracy theory", der drei reale Beispiele für problematische Regierungsaktivitäten auflistet, deren Existenz unumstritten ist: das "Information Awareness Office", das detaillierte Informationen über US-Bürger sammeln soll; das Gedankenkontroll-Programm MKULTRA und das Abhörnetz Echelon. Über jedes dieser Themen gibt es einen eigenen Wikipedia-Artikel.

Nach diesem Text stößt der Leser auf eine horizontale Linie und den Hinweis "needs encyclopediafying", der sich auf den darunter befindlichen Textteil bezieht. Eine solche Mischung aus Text mit noch nicht vollständig überarbeiteten Bestandteilen tritt vor allem auf, wenn Artikel mit anderen verknüpft werden, derjenige, der die Operation vorgenommen hat, aber zu faul war, für Konsistenz zu sorgen. Unter dem Artikel über Verschwörungstheorien findet sich eine lange Liste von spezifischen Theorien in verschiedenen Kategorien, über die es meist jeweils eigene Artikel gibt. Die Form ist damit insgesamt noch eher unbefriedigend, der Inhalt ist aber der Encarta um Größenordnungen überlegen.

Gilt das auch für die einzelnen behandelten Themen? Für einen großen Teil schon. Der Text über das CIA-Programm MKULTRA [59] ist mit rund 15000 Zeichen z.B. sehr umfangreich, er beruht ursprünglich auf einer Public-Domain-Veröffentlichung, wurde aber massiv überarbeitet. Er geht detailliert auf die unter der Abkürzung laufenden Programme zur Gehirnkontrolle ein, bei denen mit Drogen und Elektroschocks Versuchspersonen gefügig gemacht werden sollten, und beschreibt auch die Geschichte des Projekts, erste Enthüllungen durch die New York Times und die Gerichtsprozesse, die folgten.

Encarta erwähnt MKULTRA mit keinem Wort.

Nicht ganz so krass ist es beim Counter Intelligence Program (COINTELPRO) des FBI, das sich gegen linke politische Gruppierungen richtete. Encarta erklärt das Programm in einem langen Absatz im Artikel über das FBI: ".. richteten sich u.a. gegen Interessengruppen der Schwarzen, Bürgerrechtsorganisationen, sozialistische Organisationen, aber auch gegen rassistische Gruppierungen und die so genannte Neue Linke, die gegen den Vietnamkrieg war. Im Verlauf dieser und anderer Programme verübte das FBI illegale Einbrüche in Wohnungen oder Firmen, hörte ungenehmigt Telefongespräche ab, sammelte delikate Informationen, um diese für politische Zwecke zu nutzen. Das FBI ließ diese Informationen auch an die Medien durchsickern .."

Die Überwachung Martin Luther Kings, der mit Informationen über eine außereheliche Affäre diskreditiert werden sollte, wird genannt. Der entsprechende Wikipedia-Artikel [60] ist trotzdem ausführlicher und beschreibt die Methoden des Programms und seine Geschichte im Detail, natürlich mit Links auf kritische Websites.

Weder die Trilaterale Kommission noch die Bilderberger werden in Encarta erwähnt. Sie zählen zu den Lieblingsobjekten der Verschwörungstheoretiker, da sie nachweislich existieren, trotzdem aber ihre High-Society-Treffen weitgehend geheimhalten. Wikipedia hat über beide Gruppen immerhin kleine Stubs (Bilderberger Group [61] und Trilateral Commission [62]), die sicher im Laufe der Zeit zu ansehnlichen Artikeln anwachsen werden. Der Text über Echelon [63] ist eher apologetisch, aber weitaus umfassender als die kurze, faktenarme Zusammenfassung im Encarta-Artikel über die NSA. Wikipedia enthält erwartungsgemäß Hinweise auf aktuelle Entwicklungen in Bezug auf Terrorismus, die bei Encarta fehlen.

Die Abhandlung der Drogenproblematik ist in Wikipedia erheblich ausführlicher. Neben dem erwähnten Text über den "War on Drugs" gibt es auch eine rund 19500 Zeichen lange Analyse des Einsatzes von Marihuana als Schmerzmittel [64], was in den USA ein extrem brisantes Thema ist. Darin findet sich eine Darstellung der momentanen Situation in den verschiedenen Bundesstaaten, die oft in Reibereien mit der Regierung geraten, weil die einen massiven Anti-Legalisierungs-Kurs vertritt. Man erwartet zwar in der deutschen Encarta nicht unbedingt solche Details, doch zumindest eine Kurzzusammenfassung wäre wünschenswert.

Ein ähnlich schwaches Bild gibt die Encarta beim Thema des Anti-Amerikanismus ab, das in der von Amerikanern dominierten englischen Wikipedia verhältnismäßig neutral behandelt [65] wird und die Argumente der Amerika-Kritiker nicht verschweigt. Encarta erwähnt den Anti-Amerikanismus zumindest namentlich nur im Artikel über Osama bin Laden.

Wiki-News und Wiki-Sex

Auch in anderen Bereichen ist Wikipedia klassischen Werken um einiges voraus. Encarta kann bestenfalls über das Internet nachträglich aktualisiert werden, gedruckte Werke haben noch größere Aktualitätsprobleme. Wikipedia ist dagegen oft minutenaktuell, Wikipedianer werden oft durch Meldungen auf News-Websites und Weblogs zu Artikeln inspiriert. Es gibt in Form der Current Events [66] sogar eine Art Wiki-Tageszeitung, die täglich relevante News zusammenfasst und auf Hintergrundartikel verweist. Die Selektion ist teilweise recht willkürlich, was an der noch relativ geringen Zahl der hier beteiligten Redakteure liegt.

Drei kleine Schweinchen. Auch dies ist ein Beispiel für die hohe Qualität der Fotos des Agricultural Research Service und illustriert natürlich den Artikel Pig [67].

Nach Monatsende werden die jeweiligen News archiviert und bleiben so im Gegensatz zu den meisten Online-News-Angeboten für historische Zwecke erhalten. Die meist als Quellen genannten URLs werden jedoch nach gewisser Zeit ablaufen, was langfristig zu Belegzwecken eine zusätzliche Quellenrecherche erforderlich macht.

Auch an Artikeln über Sex-Praktiken fehlt es bei Wikipedia nicht. Sex-Stellungen [68] und sexuelle Fetische [69] werden im Detail behandelt. Über Themen wie Sado-Masochismus [70] findet man um Größenordnungen mehr Material als in jeder klassischen Enzyklopädie. Bizarre Neigungen wie Zoophilie [71] werden ebenso diskutiert wie größere gesellschaftliche Probleme - Schwangerschaften, sexueller Missbrauch und die beides umgebende Hysterie. Selbst über "Nackte Promis im Internet" gibt es einen eigenen sachlichen Artikel [72], der vor allem durch entsprechende Suchmaschinen-Anfragen inspiriert wurde und täglich einige Sucher zu Wikipedia leitet, die wahrscheinlich nicht zu dauerhaften Wikipedia-Autoren werden.

Was fehlt

In der englischen Wikipedia sind die meisten Themenbereiche zumindest mit Basisinformationen gefüllt. In der deutschen klaffen dagegen noch riesige Lücken, wie man schnell feststellt, wenn man Kategorien wie z.B. Bildende Kunst [73] durchblättert. Eine Spezialfunktion der Software zeigt an, welche Artikel von vielen anderen verlinkt werden, aber noch nicht existieren. Auf der deutschen Wikipedia sind dies derzeit so elementare Dinge wie Magen, Kreislauf, Emanzipation, Mystik, Realismus, Supermarkt, Befruchtung, Kalk, Sinai, Hermes, Zeremonie, Rationalismus.. Von einer vollständigen Enzyklopädie kann hier also noch nicht annähernd die Rede sein - bisher sind es ja auch nur rund 15000 Artikel.

Ganz anders auf der englischen Wikipedia - die "most wanted" sind hier meist Detailartikel wie "Grammy Awards des Jahres 1988", die von vielen Seiten referenziert werden (in diesem Fall als Teil einer Navigationshierarchie). Andere fehlende Artikel wie "James A. Michener" oder "University of Leipzig" sind zwar leicht irritierend, aber ähnlich verzeihlich wie manche Encarta-Lücken.

Der Artikelstatistik nach befindet sich die deutsche Wikipedia im Mai 2003 dort, wo die englische schon im Oktober 2001 war. Realistische Prognosen sind angesichts der technischen Situation von Wikipedia schwer möglich - die Software und der Server werden mit dem Benutzeransturm kaum noch fertig, und es ist unklar, wie lange diese Probleme noch andauern.

Wikipedia funktioniert - Schlussfolgerungen

Der Zufallstest zeigt, dass Wikipedia selbst im Durchschnitt in einigen Bereichen bereits deutlich besser abschneidet als das kommerzielle Gegenstück Encarta, das durchaus repräsentativ für eine Vielzahl von Enzyklopädien stehen kann. Beide haben Lücken - Encarta behandelt bestimmte Themen wie Sex und Software nur sehr beschränkt, während Wikipedia nach dem Open-Source-Prinzip funktioniert: Wo sich niemand verantwortlich fühlt, fehlen wichtige Texte noch. Manche Nation oder politische Figur wird deshalb sträflich vernachlässigt, was sich aber sicher mit weiterem Wachstum ändern wird. Und wenn es um kontroverse Themen geht, hat Wikipedia fast immer die Nase vorn: Der neutrale Standpunkt (NPOV) wird in der Regel gewahrt, und bestimmte Themen aus sensitiven Bereichen werden von anderen Werken größtenteils oder vollständig ignoriert.

Wikipedia funktioniert. Wie gut sie funktioniert, lässt sich schwer quantifizieren, da z.B. der durchschnittliche Fehleranteil pro Artikel unbekannt ist. Es hängt auch davon ab, ob man Formfehler für schwerwiegend hält, denn davon gibt es zahlreiche. Inhaltlich kann sich Wikipedia mit millionenschweren Projekten wie Encarta messen, was nach gerade etwas mehr als 2 Jahren eine schwer zu fassende Leistung ist.

Mit unglaublicher Geschwindigkeit arbeitet, rotiert, tanzt das Wikipedia-Netz der Gehirne, ein Phänomen, das bisher nicht annähernd genug wissenschaftliche und journalistische Aufmerksamkeit erfahren hat. Nicht Professoren und nicht Firmen haben die Wikipedia-Infrastruktur gebaut - es war eine kleine Handvoll motivierter Freiwilliger. Wie GNU und Linux, wie das World Wide Web, wie Weblogs entstanden Wikis und schließlich Wikipedia nicht, weil sie von oben geplant wurden. Sie wurden von unten gebaut, und wenn Universitäten involviert waren, dann meist in der Form, dass sie ihren Studenten genügend Zeit für sinnvolle Tätigkeiten neben dem Studium ließen.

Wikipedia ist sexy, deshalb berichtet jedes Magazin gerne mal darüber auf seiner Internet-Seite. Doch was dieses Projekt bereits geleistet hat, entzieht sich dem Vorstellungsvermögen der meisten Begutachter. Neben dem täglich wachsenden Nutzen der freien Enzyklopädie verrät sie uns viel über das Menschsein an sich. Von den vielen tausend Änderungen die jeden Tag an Wikis gemacht werden, ist nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz "bösartig", und selbst von diesen kann man viele als einmalige Experimente abtun. Wo ist die Profitgier, die Geltungssucht, die Starrköpfigkeit, die wir uns gegenseitig so gern zuschreiben? Sicher: All diese Eigenschaften findet man auch bei Wikipedianern - doch es waren technische, nicht soziale Probleme, die das Projekt bisher in seinem Wachstum beschränkt haben.

Während das Internet von vielen noch gemieden wird, weil sie es nicht verstehen oder fürchten, entstehen dort Dinge, die vor 10 Jahren als ferne Science Fiction abgetan worden wären. Das Netz hält uns den Spiegel vor und zeigt uns unsere Zukunft und unser Potenzial. Jetzt, hier und heute werden die Regeln definiert, die Fundamente gelegt für Entwicklungen, die unsere Kultur für immer verändern werden. Wer dies nicht begreift, läuft Gefahr, die falschen Weichen zu stellen.

Welche Möglichkeiten hätte Wikipedia, wenn das Urheberrecht nicht jedes moderne Werk de facto für die Ewigkeit schützen würde? Welche Gefahr droht dem Projekt dagegen, wenn Zensoren und Bürokraten den internationalen Datenverkehr kontrollieren? Es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen, diese Chancen und Risiken zu erkennen - und das Richtige zu tun.

Erik Möller ist einer der Autoren der englischen Wikipedia und Mitentwickler der Wikipedia-Software "Phase III".


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