Bildungskrise 2025: Warum Deutschland seine Zukunft verschläft
Im Wahlkampf dominiert Migration – dabei gibt es eine dramatische Bildungskrise. Studien zeigen: Das System versagt bei der Chancengleichheit. Was passiert, wenn wir jetzt nicht handeln?
Im aktuellen Bundestagswahlkampf könnte man meinen, wir hätten nur noch ein Problem: Migration. Unbestritten stellen sich bei Migration und Integration viele Herausforderungen. Aber in dieser populistischen Verengung der Aufmerksamkeit auf die Migration geht es nicht um die Suche nach Lösungen.
Im folgenden Text können nicht alle drängenden Probleme, die im Wahlkampf ausgeblendet bleiben, in Blick genommen werden. Wir greifen uns die Bildung heraus.
Natürlich ist Bildung Ländersache und möglicherweise spielt sie deshalb im Wahlkampf eine eher untergeordnete Rolle. Allerdings gibt es viele Bereiche und Programme, in denen Bund und Länder zusammenarbeiten wollen und sollten. In den Wahlprogrammen der Parteien kann man tatsächlich viele Versprechen zur Bildung lesen.
Aber öffentlich wird darüber kaum debattiert. Kommt das Thema Bildung dennoch vor, erleben wir auch hier die Fixierung auf das Migrationsthema. Es seien die Migranten, die das Bildungssystem in die Überlastung getrieben hätten, behauptet leider nicht nur eine Partei.
Untere Schulklassen: Migrationsanteil ungefähr bei 40 Prozent der Schülerschaft
Zur Erinnerung: Man spricht damit pauschal über ca. 40 Prozent der Schülerschaft, so hoch ist der durchschnittliche Migrationsanteil bei den unteren Klassen aktuell. In den Grundschulklassen ist die Erfahrung von Heterogenität infolge von Einwanderung aus unterschiedlichen Ländern längst Realität.
Ja, viele Kinder, die gefördert werden müssen, haben einen migrantischen Hintergrund. Ja, Kinder mit Migrationshintergrund erzielen im Durchschnitt schlechtere Noten und verlassen häufiger die Schulen ohne Abschluss. Aber ist damit die Ursache schon geklärt?
Unterrichtet man nicht gerade in Brennpunktschulen, wird man im Schulalltag auf viele Kinder mit mittlerem, hohem und sehr hohem Leistungsniveau treffen, die ebenfalls Migrationshintergrund haben.
Migrationsherkunft erklärt nicht, warum viele Kinder in der Schule scheitern
Mit anderen Worten: Migrationsherkunft erklärt nicht, warum viele Kinder in der Schule scheitern. Es sind andere Zusammenhänge, die erhöhte Förderung in der Schule nötig machen.
Die mangelnden Sprachkenntnisse wird man vermutlich zuerst anführen. Sprache ist eine Schlüsselkompetenz für weiteres Lernen. Aber auch hier kann nicht eindeutig von einer Ursache gesprochen werden. In Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass bilingual aufwachsende Kinder häufig bessere Leistungen in der Sprachkompetenz und im Erlernen einer Fremdsprache zeigen.
Andere Analysen verdeutlichen eine Kausalität zwischen Schulerfolg und der sozio-ökonomischen Lage der Eltern. Was bedeutet das genau? Ökonomische Voraussetzungen sind wichtig, um außerschulische Aktivitäten wie das Lernen eines Musikinstrumentes, aber auch bei Bedarf eine Nachhilfe zu finanzieren.
Aber vermutlich noch viel entscheidender ist, dass Eltern mit Bildungshintergrund ihre Kinder ganz anders fördern und unterstützen können. Nicht nur in kognitiver Hinsicht ist das entscheidend. Wer neben einem vollen Bücherschrank aufwächst, egal in welcher Sprache die Bücher geschrieben sind, kann von klein auf so etwas wie Bildungsmotivation entwickeln.
Was in den Blick genommen werden muss
Auch in der Schule kann Förderung nicht auf kognitive Kompetenzen beschränkt bleiben. Man unterstützt Kinder immer zugleich auch emotional, damit sie Erfolgszuversicht und Frustrationstoleranz entwickeln. Für eine dauerhafte Leistungsentwicklung muss so etwas wie der Habitus in den Blick genommen werden.
Pierre Bourdieu hat damit die individuellen Denk- und Handlungsmuster beschrieben, die sich unterschiedlich je nach sozialer Herkunft und Lebensbedingungen entwickeln. Nicht Desinteresse oder Unwillen steckt hinter mangelnder kindlicher Motivation.
Es fehlt zumeist ein positives Selbstkonzept, ein Vertrauen auf persönliche Fähigkeiten und eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit, um dauerhafte Anstrengungsbereitschaft zu entfalten. Wer jetzt nach der Verantwortung der Eltern ruft, muss sich fragen lassen, ob Bildungschancen allein vom Elternhaus abhängen sollen.
Bisher punktet unser Bildungssystem mit dem Versprechen für Chancen- und Leistungsgerechtigkeit. Die vergleichsweise frühe Sortierung der Schüler auf eher anspruchslose bzw. anspruchsvolle Schultypen erscheint vorgegebenen quasi-natürlichen Unterschieden zu entsprechen.
Dass viele Unterschiede erst durch das Bildungssystem geschaffen oder verstärkt werden, davon schweigt des Sängers Höflichkeit.
Wenn Bildung allen Kindern ermöglicht werden soll, müssen unsere Angebote so divers sein, wie die Kinder unterschiedlich in ihren Voraussetzungen sind. Die einen brauchen herausfordernde Forscherangebote.
Die anderen Kinder sollten so gefördert werden, dass eine schulische Kompensation kognitiver Defizite wie auch nachteiliger emotionaler Orientierung erreicht wird. Von den Pädagogen ist deshalb gefordert, sich nicht auf reine Wissensvermittlung zu reduzieren.
Der Aufbau einer empathischen und anerkennenden Beziehung ist Grundlage für zuversichtliches Lernen vor allem in den ersten Schuljahren.
Wahlprogramme und Wirklichkeit
In den aktuellen Wahlprogrammen ist bei beinahe allen Parteien die Zusage für frühe Sprachförderung in der Kita zu lesen. Zum Teil sollen Sprachtests verpflichtend eingeführt werden.
Diese Testung macht aber nur Sinn, wenn zugleich eine kontinuierliche Sprachförderung in den Kitas ermöglicht wird. Wie schon angemerkt, ist Sprache für die Kompetenzentwicklung in allen Fachrichtungen von zentraler Bedeutung. Insofern ist das Wahlversprechen der Parteien eindeutig begrüßenswert.
Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum das Bundesprogramm "Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist" im Jahr 2023 auslief. Will man es jetzt wieder einführen?
Der Abbruch der Sprach-Kitas ist besonders verwunderlich, weil im OECD-Bildungsbericht von 2023 zwar anerkannt wird, dass Deutschland den Kitabereich massiv ausgebaut hat.
Damit wurden vielen Vätern oder Müttern eine Berufstätigkeit ermöglicht. In demselben Bericht wird aber zugleich bemängelt, dass der Ausbau nur nach quantitativen Kriterien erfolgt ist. Wesentliche Qualitätskriterien wie Gruppengröße und Personalausstattung konnten mit dem Ausbau nicht Schritt halten. Eine frühkindliche Förderung von Sprachkenntnissen kann unter diesen Bedingungen nicht geleistet werden.
Den Vorwurf der zeitlichen Limitierung äußert man schon jetzt zum Startchancen-Programm, das im August 2024 begonnen hat. Der bürokratische Aufwand ist hoch, der Nutzen, auch wenn der Bedarf weiterhin andauert, soll zeitlich auf zehn Jahre eingeschränkt bleiben. Warum? Die Erfahrung von "Projektitis" ist für viele Beschäftigte demotivierend. Bewährte Projekte sollten dauerhaft finanziert werden.
Der Aufwand wird gesehen, aber nicht der Ertrag
Viele fixieren sich auf den finanziellen Aufwand und übersehen den Ertrag eines dauerhaft besser ausgestatteten Schulwesens. Tom Krebs, Wirtschaftsprofessor aus Mannheim, hat überschlagen, dass Investitionen in Kindergärten und Ganztagesschulen eine zwölfprozentige Bildungsrendite ermöglichen.
Philippa Sigl-Glöckner nennt das in ihrem Buch Gutes Geld. Wege zu einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft "hedgefonds-verdächtig".
Jeder Euro, in Bildung investiert wird, ermöglicht eine zwölf prozentige Steigerung von Staatseinnahmen, sobald das Kind erwachsen und erwerbstätig ist. Warum aber wird dann nicht mehr investiert?
Ökonomisch gewollte 20 Prozent für schlecht bezahlte Jobs?
Ist die Orientierung der Regierenden auf die kurzen Regierungszyklen ein Hindernis für nachhaltige Planung im Bildungssystem? Oder ist es vielleicht ökonomisch gewollt, dass 20 Prozent der Schüler mit geringem oder keinem Bildungsabschluss nur die schlecht bezahlten Arbeiten aufnehmen können?
Für die Gastronomie, für Paketboten, für Reinigungskräfte u. ä. braucht man keine höhere Schulbildung. Die Gesellschaft ist eben nicht flächendeckend eine "Wissensgesellschaft".
Ist das Ungleichgewicht in der Altersstruktur ein Grund, warum es zu wenig Protest oder Fürsprecher für die nachwachsende Generation gibt?
Der Anteil von Kindern und Eltern im Vergleich zu den Babyboomern im Pensionsalter hat sich enorm verringert (siehe A. El-Mafaalani: Kinder, Minderheit ohne Schutz).
In den Wahlprogrammen kann man weiteren Vorschlägen erneut zustimmen. Bei nahezu allen Parteien findet man z.B. Versprechen für mehr Ausbildungskapazitäten für Lehrkräfte und Erzieher, um die bedrohlichen personellen Engpässe zu beheben.
Misstrauisch wird man aber spätestens dann, wenn in denselben Wahlprogrammen enorme Steuernachlässe versprochen werden, bei gleichzeitiger Einhaltung der Schuldenbremse. Es geht dabei um bis zu nahezu 150 Milliarden, die laut Experten vor allem den oberen ein oder zehn Prozent zugutekommen – entgegen den verlautbarten Versprechen, für die unteren und mittleren Einkommen Entlastung zu schaffen.
Die genauen Zahlen kann man auf der Webseite des Instituts der deutschen Wirtschaft finden.
Oder im Podcast "Geld für die Welt. Wählen nach Geldbeutel" von Maurice Höfgen.
Kürzungen an den Hochschulen und Steuernachlässe
In Berlin protestieren die Hochschulen aktuell gegen Kürzungen von 250 Millionen. Man muss sich die Zahlenverhältnisse bewusst vor Augen führen. Gehen wir von 100 Milliarden Steuernachlässen aus, kämpfen gerade die Hochschulen gegen Kürzungen, die einen 400stel Bruchteil davon ausmachen.
An den Hochschulen führt das vermutlich zu weiteren Stellenstreichungen, einer Verringerung der Studienplätze und einer schlechteren Betreuungsqualität. Davon wird auch die Ausbildung von Lehrkräften betroffen sein.
Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat erst im November 2024 veröffentlicht, dass vier von zehn Lehramtsstudierenden ihr Studium bundesweit abbrechen oder wechseln. Besonders dramatisch ist es in Berlin: 64 Prozent hören auf.
Trotz dieser horrenden Zahlen wird dennoch genau dort weiter gekürzt.
Lehrkräftemangel: Tunnelblick auf kurzfristige Kosten
Der Lehrkräftemangel droht sich dadurch noch mehr zu verstärken. Seit Jahren gibt es zu wenige Absolventen. Zusätzlich verschlechtert sich durch solche Einsparungen auch die Qualität der Ausbildung.
Lehrerstudiengänge werden dabei kurzsichtig im Hinblick auf ihre unmittelbaren Kosten wahrgenommen. Dass gute Schulbildung und insbesondere die Integration der Kinder, mit oder ohne migrantische Herkunft, gut ausgebildete Lehrkräfte (und andere Professionen) erfordern, bleibt unberücksichtigt.
Das kurzsichtige Einsparen von Ausgaben kann sich langfristig rächen. Die von Tom Krebs errechnete Bildungsrendite gilt auch in umgekehrter Richtung. Denn mangelnde Investitionen in Schulbildung und Integration lassen in späteren Zeiten höhere Kosten entstehen.
Bildungsausgaben: Was man sehen muss
Unsere Bildungsausgaben liegen im Vergleich zu den OECD-Staaten unter dem Durchschnitt. Selbst die USA investieren mit 6,2 Prozent des BIP relativ zur Wirtschaftsleistung mehr als Deutschland (4,6 Prozent des BIP, aus OECD-Bildungsbericht 2023).
Bei den Zahlen zum Pro-Kopf-Ausgaben steht Deutschland dann allerdings besser da. Pro Bildungsteilnehmer werden 15.550 Euro investiert. Das ist mehr als der OECD-Durchschnitt von 12.870 Euro.
Aber wie das mit Zahlen häufig ist, muss man sie sich genauer anschauen. In die Pro-Kopf-Ausgaben geht ein, dass in Deutschland keine Studiengebühren erhoben werden, die Universitäten stattdessen mehr Kosten übernehmen.
Zugleich muss man feststellen, dass die Ausgaben für die frühkindliche Bildung und Primarstufen weit unter, während die Ausgaben für die Sekundarstufe II weit über dem OECD-Durchschnitts liegen.
Mit anderen Worten: Dort, wo Kinder am Startpunkt ihrer Bildungsentwicklung stehen und die Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen in späteren Jahren kaum mehr einholbar ist, dort baut man keine ausreichende Unterstützung auf und überlässt die Bildungskarrieren dem Schicksal der Familienherkunft.
Erwartungsgemäß attestieren die OECD-Ergebnisse regelmäßig, dass in Deutschland Bildungserfolg weiterhin in hohem Maße von der sozio-ökonomischen Ausgangssituation der Kinder abhängt.
Um diese nahezu ständische Ungerechtigkeit zu überwinden, müssen einerseits die Bildungsausgaben bedeutsam erhöht werden und zugleich die Verteilung in Richtung frühkindlicher Bildung und Primarstufe umgeschichtet werden. Nur mit früher Förderung kann eine kompensierende Wirkung erreicht werden.
Die Altersstruktur unserer Gesellschaft macht ein Umsteuern umso notwendiger. Auch wenn es aktuell mehr Geburten gäbe, kann man das nicht mehr einholen. Nebenbei bemerkt: Die Bereitschaft für mehr Kinder in der Zukunft erreicht man ganz sicher nur mit einem qualitativ guten Kita- und Schulsystem. Für die Jetztzeit muss es uns um jedes einzelne Kind gehen!
Schon aus ökonomischen Motiven sollten wir möglichst früh eine angemessene Förderung und Forderung ermöglichen. Gute Bildungsgrundlagen und die Bedingungen gelingender Integration, soweit sie durch Frühförderung und Schule erreicht werden können, sind natürlich auch aus anderen Gründen anstrebenswert. Schulbildung ist mehr als ein anderer Zustand von Geld.
Die Autorin Gabriele Heller ist Grundschullehrerin und Fachseminarleiterin für Mathematik in der Lehrkräfteausbildung.