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Anatomie einer Jungfrau

The Moon is Blue

Otto Preminger und die Herrschaft des Gesetzes

2014 könnte das Jahr des Rechtsstaats (in der Krise) werden. Obama hat versprochen, die Gesetze besser zu beachten, wenn er gegen den Terror kämpft, und seine Redenschreiber bedienen sich jetzt schon bei Eisenhower, auf dass auch die Idee von der rule of law zur Platitüde werde, wenn der Präsident den Begriff vom Teleprompter abliest. Ein SPD-Innenpolitiker, ein kanadischer Anbieter von pädophiler Schmuddelware, das Bundeskriminalamt und ein Staatsanwalt haben uns ein Schmierentheater der politischen Parteien und der durch die Talkshows ziehenden Empörungsexperten beschert, in dem munter Moral und Strafrecht vermischt werden und jeder der Akteure den "Rechtsstaat" bemüht, wie er ihn gerade brauchen kann. Der Erfinder des "Supergrundrechts Sicherheit" musste als Agrarminister zurücktreten, weil er als Innenminister überfordert war, präsentierte sich im Frühstücksfernsehen als Held der Zivilcourage und plädierte dafür, Gesetze zu ignorieren oder kurzerhand abzuschaffen, die ihm nicht in dem Kram passen. Puzzling Evidence, um es mit den Talking Heads zu sagen. Was sagt das Kino über den Rechtsstaat, was kann es zur Entwirrung dieser unübersichtlichen Gemengelage beitragen? Nicht viel, wenn man den deutschen Film betrachtet. Vage kann ich mich an den mit Silbernen Bären und anderen Preisen dekorierten Norbert Kückelmann erinnern, dessen Beiträge zum Thema nie auf DVD erschienen sind und im Archiv vergammeln. Andere Länder haben uns da einiges voraus, was nicht nur an den Unterschieden im Prozessrecht liegt. Den besten Gerichtsfilm, den ich kenne, hat ein in die USA emigrierter Österreicher gedreht. Deshalb heute:

Filme, die man gesehen haben muss, ehe einen die Demenz ereilt - Folge 5: Anatomy of a Murder

Niedere Formen der sexuellen Beziehung

Bevor wir zu den Anwälten kommen, wollen wir uns kurz zwei anderen Berufsgruppen zuwenden: Der erfolgreiche Architekt Don Gresham (William Holden) folgt der nicht so erfolgreichen Schauspielerin Patty O’Neill (Maggie McNamara) auf die Aussichtsplattform des Empire State Building und lädt sie zum Abendessen ein. Patty erklärt sich bereit, mit in seine Wohnung zu kommen. Während der Taxifahrt sagt sie ihm, dass sie noch Jungfrau ist und entschlossen, das auch zu bleiben. Im Verlauf des Abends stößt der alternde, im selben Haus wohnende Playboy David Slater (David Niven) dazu, der Vater von Dons Ex-Freundin Cynthia (Dawn Addams). Es entspinnen sich Gespräche über Geschlechterbeziehungen und Sexualmoral. Beide Möchtegern-Verführer sind frappiert, mit welcher Offenheit Patty über solche Dinge spricht. Der jungen Frau gelingt es, die Nacht mit intaktem Jungfernhäutchen zu überstehen. Am nächsten Morgen, wieder auf dem Empire State Building, macht ihr Don einen Heiratsantrag.

Das ist die Kurzfassung von Otto Premingers The Moon is Blue, des vielleicht größten Film-Aufregers des Jahres 1953 in Eisenhowers Amerika (zeitgleich und in denselben Sets drehte Preminger die deutsche Version mit Johanna Matz, Hardy Krüger und Johannes Heesters in den Hauptrollen: Die Jungfrau auf dem Dach). Von heute aus betrachtet ist The Moon is Blue die etwas wortlastige, ziemlich souverän inszenierte und hervorragend gespielte Verfilmung eines mittelprächtigen Bühnenstücks des gebürtigen Wieners F. Hugh Herbert, dessen Heldin erkannt hat, dass in der Konsumgesellschaft auch die sexuelle Unberührtheit eine Ware ist, die es sich zu hüten lohnt, weil sie sich gegen die Ehe mit einem gut situierten Mann eintauschen lässt, der ein Apartment mit hochmodernem Müllschlucker bewohnt. Damals ging diese ätzende Botschaft glatt unter, weil man sich über Worte wie "virgin", "seduce" und "pregnant" erregte, die man so wie hier, eingebettet in einen sexuellen Kontext, in amerikanischen Kinos nicht mehr gehört hatte, seit der erzreaktionäre Katholik Joseph I. Breen damit betraut worden war, die im Production Code niedergelegten Regeln zur Selbstzensur der Industrie durchzusetzen. Das war im Jahr 1934 gewesen.

The Moon is Blue (oben), Die Jungfrau auf dem Dach

Zum Meilenstein wurde The Moon is Blue nicht wegen seiner künstlerischen Qualitäten, sondern weil er der amerikanischen Filmindustrie einen Weg aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit wies und hin zu Stoffen für Erwachsene, die seit 1934 mit einem Tabu belegt waren und nur verklausuliert behandelt werden durften oder so, dass Breen und seine Leute von der Production Code Administration (PCA) es nicht bemerkten. In The Moon is Blue wird alles so direkt ausgesprochen, dass ein Überhören unmöglich war. Weil die Sexkomödie auf die Dialoge beschränkt bleibt, Pattys Keuschheit mit Dons Heiratsantrag belohnt wird und Playboy David dafür da ist, die Lüsternheit zu brandmarken, blieben Skandale aus, als die Bühneninszenierung erfolgreich durch die USA tourte. Das ermutigte die Paramount, das Stück bei der PCA zur Begutachtung einzureichen. Breen antwortete am 26. Juni 1951, dass ein solcher Film völlig inakzeptabel sei: "Das Unakzeptable ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass der Humor in diesem Stück fast zur Gänze auf einer unbeschwerten und heiteren Behandlung des Themas unerlaubter Sex und Verführung beruht. Auch wenn es in der Geschichte keine wirkliche Verführung gibt, scheint mir die generelle Haltung dem unerlaubten Sex gegenüber doch gegen die Klausel im Code zu verstoßen, in der es heißt: ‚Aus Filmen soll nicht abzuleiten sein, dass niedere Formen der sexuellen Beziehung akzeptiert oder normal sind.’ Außerdem schreibt der Code ausdrücklich vor, dass Verführung oder unerlaubter Sex nie der Gegenstand einer Komödie oder einer Farce sein sollen, oder dass sie den Stoff für Gelächter abgeben."

The Moon is Blue

Mehr oder weniger wortgleich fielen Breens Antworten an alle anderen aus, die nach der Paramount anfragten, ob er eine Verfilmung gestatten würde: an die Warner Bros., an den Autor des Stücks und schließlich an Otto Preminger, bis dahin Vertragsregisseur in Hollywood, der im Oktober 1951 ankündigte, dass er The Moon is Blue als unabhängige Produktion in New York realisieren werde, mit Herbert als Partner. Im April 1952 unterschrieben die beiden einen Kontrakt mit der United Artists, die den Film finanzieren und verleihen würde. Es war das erste Mal in seiner Karriere, dass Preminger einen Film in künstlerischer Freiheit drehen konnte und das Recht auf den final cut hatte, die letzte Schnittfassung. Das wollte er sich von der PCA nicht wieder nehmen lassen. Am 26. Dezember 1952 schickte er einen Drehbuchentwurf an Breen. Dieser antwortete am 2. Januar, dass der Film niemals die Freigabe erhalten werde. Angefügt waren drei Seiten mit gegen den Code verstoßenden Dialogsätzen: "Men are usually so bored with virgins" und so weiter. Am 6. Januar teilten Preminger und Herbert der PCA mit, dass sie entschlossen seien, das Stück zu verfilmen wie geplant. Das war mutig und doch ein kalkuliertes Risiko, denn Preminger war zu klug, sich auf einen Kampf einzulassen, den er nicht gewinnen konnte. Umgekehrt wirkt die Auseinandersetzung im Rückblick, als habe sich ein von gesundheitlichen Problemen geplagter Joe Breen zu einer letzten Schlacht aufgerafft.

Explosionen auf dem Dach

Der Hintergrund: 1948 urteilte der Oberste Gerichtshof der USA in einem gegen die Paramount angestrengten Verfahren, dass die Praxis der "vertikalen Integration" (Produktion, Verleih und Abspielstätten in einer Hand) gegen die Antikartellgesetze verstieß. Die großen Studios waren gezwungen, sich von ihren Kinoketten zu trennen. Die fünf Majors aus der nun zu Ende gehenden Ära des Studiosystems (Fox, MGM, Paramount, RKO, Warner) hatten den Code maßgeblich mit ausgehandelt und akzeptiert, dass kein Film ohne Prüfsiegel der PCA in den von ihnen betriebenen Kinos gezeigt werden durfte. Dadurch waren auch die kleineren Konkurrenten gezwungen, sich an den Code zu halten. Nach der Paramount-Entscheidung wurden die Karten neu gemischt. Filmemacher, die sich nicht länger gängeln lassen wollten, fanden Verbündete in Kinobesitzern sowie in kleineren Studios (und in der Folge auch den Majors), die nach Programmen mit Inhalten Ausschau hielten, die das Fernsehen nicht bieten konnte, weil dort die finanzstarken Werbekunden den Ton angaben und die Moralvorstellungen von gestern oder vorgestern hochhielten.

The Moon is Blue

Wie sehr alles im Fluss war kann man daran sehen, dass die United Artists Ende Januar 1952 den Passus aus dem Vertrag mit Preminger und Herbert strich, in dem diese sich verpflichteten, einen Film mit Prüfsiegel der PCA abzuliefern. Preminger hatte da schon mit den Dreharbeiten begonnen und das Management der UA nicht zuletzt dadurch für sich eingenommen, dass er versprach, in nur 24 Produktionstagen (und 10 Tagen für die Proben) und mit einem sehr moderaten Budget von 350.000 Dollar zwei Filme herzustellen, die amerikanische und die deutsche Version. Am 18. Februar 1952 fiel die letzte Klappe, am 8. April war Vorpremiere in Pasadena, am 10. April rief Breen bei Preminger an und teilte ihm mit, dass sein Film nach Prüfung durch die PCA kein Siegel erhalten könne. Das war der Auftakt zu mitunter sehr heftig (und sehr öffentlich) ausgetragenen Streitigkeiten.

Gegen die Entscheidung legten Preminger und die United Artists Einspruch bei der Motion Picture Association of America ein, dem von den Majors gebildeten Verband der Produktionsgesellschaften, der sich als Interessenvertretung der gesamten Filmindustrie verstand (was die anderen nicht immer genauso sahen). Die Beschwerde wurde abgewiesen. Theoretisch war das kein Hinderungsgrund für eine Kinoauswertung mehr, weil die nach der Entscheidung des Supreme Court von den Studios verkauften Kinos nach dem Eigentümerwechsel von der MPAA getrennt waren. The Moon is Blue war der Testfall, an dem sich erweisen würde, wie sehr sich die Theorie mit der Praxis deckte. Das hätte durchaus schiefgehen können. Das Risiko zahlte sich aus, weil sich Preminger mit viel Verve in die Debatte warf und die United Artists, unterstützt von Preminger, eine klug ausgedachte Verleihstrategie fuhr. Preminger setzte auch durch, dass der Graphikdesigner Saul Bass in die ästhetisch anspruchsvolle Werbekampagne einbezogen wurde. Das war der Beginn einer sehr fruchtbaren Zusammenarbeit. Bass und Preminger taten in den folgenden Jahren viel für den Einzug der modernen, mit Abstraktion statt mit altbackenen Starbildern arbeitenden Kunst in die Welt der Filmplakate - siehe die von Bass gestalteten Plakate für die Preminger-Filme The Man with the Golden Arm, Saint Joan, Bonjour Tristesse etc. Aus dem Vorspann, sonst eine lästige Pflichtaufgabe, machten sie eine spannende Angelegenheit (Bass arbeitete auch mit Hitchcock und Billy Wilder zusammen).

Plakate von Saul Bass zu "Bonjour Tristesse" "The Man with the Golden Arm" und "Saint Joan"

The Moon is Blue kam zugute, dass das noch eine Zeit war, in der nicht simultan Hunderte von Kopien auf den Markt geworfen wurden und das erste Wochenende über Erfolg oder Misserfolg entschied. Vielmehr gab es nach und nach gut besuchte Vorpremieren und Premieren in großen Städten, begleitet von Kritiken, deren Autoren darüber schrieben, dass diesem an sich harmlosen Film das Siegel der PCA verweigert worden war. Das verringerte die Bedenken zunächst skeptischer Kinobetreiber. Am 30. Juni 1953 meldete das Branchenblatt Variety, dass drei große Kinoketten The Moon is Blue gebucht hatten. Stellvertretend für die amerikanischen Mainstream-Kritiker kann Bosley Crowther von der New York Times stehen. Crowther berichtete am 12. Juli, dass er eine Sprache gehört habe, die im alltäglichen Gebrauch nichts Besonderes mehr sei, in einem Film aber "wie kleinere Explosionen" klinge.

Diese verbalen Explosionen wollten auch viele seiner Landsleute hören, obwohl einflussreiche Lobbygruppen wie die katholische Legion of Decency und die (ebenfalls katholische) Parent-Teacher League den Film verdammten. Francis Spellman, Kardinal mit Sitz in New York, veröffentlichte in mehreren Zeitungen einen Brief, in dem er das Sündige des Films betonte, den er selbstredend nie gesehen hatte, und James Francis McIntyre, sein Amtskollege aus Los Angeles, ließ in allen Kirchen seines Bistums einen Hirtenbrief verlesen, in dem er eindringlich vor dem Kinobesuch warnte. In der ein eher intellektuelles Publikum ansprechenden Saturday Review (27. Juni 1953) erschien ein Artikel, in dem es hieß, dass es bei der Kontroverse um The Moon is Blue weder um große Kunst noch um Fragen des guten Geschmacks gehe: "Die Frage ist vielmehr, ob amerikanische Filme weiterhin durch Regeln gelähmt werden sollen, die das Themenspektrum der Filme, ihre Moral und ihre Sprache auf etwas beschränken, das man als geeignet für Kinder oder eine kindähnliche Mentalität ansieht." Zumindest das amerikanische Militär beantwortete die Frage mit einem Ja. Die Komödie über die Jungfrau vom Empire State Building wurde für alle Waffengattungen als ungeeignet eingestuft und durfte in militärischen Anlagen nicht gezeigt werden.

Moral Minority

Auf der von Variety erstellten Liste mit den erfolgreichsten Filmen des Jahres 1953 nahm The Moon is Blue den 15. Platz ein. Für eine unabhängige Produktion in einer nach wie vor von den Majors dominierten Kinolandschaft war das mehr als beachtlich. William Holden hatte auf einen Teil seiner üblichen Gage verzichtet und dafür eine Gewinnbeteiligung erhalten. Später erzählte er, dass er, Preminger und Herbert von Anfang an auf eine werbewirksame Konfrontation mit Joe Breen spekuliert hätten. Das kann man ihm so glauben. Natürlich war Otto Preminger auch ein geschäftstüchtiger Showman. Als Regisseur und Produzent in Personalunion brach er verkrustete Strukturen auf und öffnete Türen, durch die später andere hindurchgingen, ohne sich bewusst zu sein, dass da je welche gewesen waren. Ohne das Talent, für sich und seine Filme kräftig die Werbetrommel zu rühren, hätte er gar nicht überleben können. Dabei ging es aber auch immer um Grundsätzliches - um Werte, für die Preminger eintrat und die er verteidigte, weil sie konstituierende Bestandteile der Demokratie sind.

Für Preminger gab es einen fundamentalen Unterschied zwischen den Gesetzen eines Rechtsstaats und der Zensur, die er bekämpfte wo er konnte, weil er die Meinungs-, Informations- und Kunstfreiheit für den besten Schutz gegen Diktaturen und Totalitarismen aller Art hielt. Seiner Überzeugung nach hatten in einer freiheitlichen Gesellschaft ordentliche Gerichte in öffentlicher Verhandlung darüber zu befinden, ob ein Film (oder ein darin gesprochenes Wort) obszön, gewaltverherrlichend oder was auch immer war, nicht dubiose Einrichtungen wie die PCA, die vorab in Hinterzimmern entschieden, was ein Filmemacher zeigen und ein Kinozuschauer sehen durfte. Heimlichkeit und alle Formen von fürsorglicher Bevormundung waren ihm ein Graus, weil sie langfristig zerstören würden, was angeblich geschützt werden sollte. Darum scheute er keinen Konflikt mit den Zensoren. Das zog eine Reihe von Gerichtsverfahren nach sich, bei der Richter und Geschworene in aller Regel zugunsten von The Moon is Blue urteilten.

Preminger klagte gegen die Zensurbehörden von Maryland und Kansas, die eine Aufführung des Films verhindert hatten, weil er kein PCA-Siegel hatte. Der Richter, der im Dezember 1953 die Aufführung in Kansas erlaubte, erklärte in seiner Urteilsbegründung, dass der Production Code eindeutig verfassungswidrig wäre, wenn es sich dabei um ein Gesetz handeln würde. Damit legte er den Finger auf einen wunden Punkt. Zensur, zumal wenn sie in Gestalt einer "Selbstzensur" daherkommt, spielt sich oft in einem rechtlichen Graubereich ab und hebelt Grundrechte aus, indem sie sich zum Beispiel auf das Urheberrecht beruft - und dieses dabei ad absurdum führt. Man denke an den Umgang der Murnau-Stiftung mit den "Vorbehaltsfilmen": da wird der Zugang zu mehreren Dutzend Filmen von historischem Interesse durch den Rückgriff auf das Urheberrecht nicht geregelt, sondern unmöglich gemacht (eine nachvollziehbare Begründung spart man sich, weil man der Rechteinhaber ist oder dies wenigstens behauptet). Vor ordentlichen Gerichten haben Zensurentscheidungen wie die in Kansas selten Bestand. Nur: Solche Verfahren kosten Geld. Wo kein Kläger, da kein Richter. Es gibt zu wenige Otto Premingers, was vielleicht auf einen Mangel an Zivilcourage zurückzuführen ist, in jedem Fall aber auch darauf, dass sich viele Anbieter teure Prozesse schlicht nicht leisten können. Wie lange sich die famose "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" in ihrer jetzigen Form wohl halten würde, wenn es einen Fonds für finanzschwache Marktteilnehmer gäbe, die Nischenprodukte anbieten und nicht das Geld haben, Entscheidungen dieser Behörde durch ein Gericht überprüfen zu lassen?

Der Production Code wurde 1956 vorsichtig reformiert und 1968 von einer Einstufung nach Altersgruppen abgelöst, weil er schlicht nicht mehr durchzusetzen war. Preminger leistete dazu einen entscheidenden Beitrag, weil er sich nicht einschüchtern ließ und mit The Moon is Blue sowie 1955 mit The Man with the Golden Arm (Frank Sinatra spielt einen Drogenabhängigen, was vom Code auch nicht erlaubt war) den Beweis antrat, dass man Filme ohne PCA-Siegel drehen und trotzdem finanziell erfolgreich sein konnte. Breen und die anderen Herren von der Production Code Administration hatten sich eine Stellvertreterfunktion angemaßt und behauptet, den "guten Geschmack", die "schweigende Mehrheit", das "gesunde Volksempfinden" und dergleichen zu repräsentieren. Das Publikum hatte sich nie selbst ein Urteil bilden können, weil Filme mit der PCA nicht genehmen Themen schon im Vorfeld verhindert wurden oder, falls doch gedreht, ohne Freigabe keine Chance auf eine reguläre Kinoauswertung hatten.

The Moon is Blue brachte ans Licht, dass die PCA die Werte einer Minderheit vertrat. Die überwiegende Mehrheit der Amerikaner, die den Film nun sehen durften, obwohl Breen dagegen war, konnte die Entscheidung, das Prüfsiegel zu verweigern, überhaupt nicht nachvollziehen. Dadurch geriet die PCA in eine Legitimationskrise. Für diese Pharisäereinrichtung war das der Anfang vom Ende. Das Siegel für The Moon is Blue wurde 1961 nachgereicht, verbunden mit dem in solchen Fällen äußerst seltenen Eingeständnis des neuen PCA-Chefs Geoffrey Shurlock, dass man sich da wohl geirrt habe. Bevorzugt hinter den Kulissen operierende Zensoren geben so etwas ungern zu, weil ihnen das zwar ein Lob für die Fähigkeit zur Selbstkritik einbringen könnte, es jedoch unweigerlich zu der Frage führt, nach welchen Kriterien sie entscheiden und mit welchem Recht sie bestimmen, was andere Leute sehen dürfen und was nicht.

Shurlocks Eingeständnis war eine nachträgliche Kapitulationserklärung. Seinen größten Triumph im Kampf gegen die vorauseilende Selbstzensur hatte Preminger allerdings bereits 1959 errungen. Damals war Anatomy of a Murder in die Kinos gekommen - mit dem Segen der PCA, obwohl es da um eine Vergewaltigung geht und Dinge aus dem menschlichen Intimbereich zur Sprache kommen, deren Erwähnung vom Production Code verboten war. Wer jetzt aber denkt, dass damit, wie Preminger oft vorgeworfen, Obszönität und das Appellieren an die niederen Instinkte eines genusssüchtigen Publikums über bis dahin hochgehaltene Werte des bürgerlichen Humanismus obsiegten, der irrt. Der Humanismus war bei Preminger in besseren Händen als bei Scheinheiligen vom Schlage eines Joe Breen. An Anatomy of a Murder kann man sehr schön sehen, was Preminger damit meinte, wenn er adult films einforderte: keine Pornos (die gemeinhin in den USA als adult films bezeichnet werden, was auch schon Bände spricht und viel mit dem unheiligen Wirken der PCA zu tun hat), sondern Filme für Erwachsene. Man kann daran auch studieren, wie die Verfilmung eines Bestsellers aussieht, wenn sie gelungen ist.

Sex mit Höhepunkt

Die Upper Peninsula (Obere Halbinsel) macht etwa ein Drittel der Landmasse des Bundesstaates Michigan aus, aber nur drei Prozent der Bevölkerung wohnen in der Gegend. Es gibt dort ausgedehnte Wälder und Seen, für Angler und Naturfreunde ist die UP ein Paradies. Die größte Stadt, ein am Lake Superior gelegener Ort mit weniger als 20.000 Einwohnern, heißt Marquette (benannt nach einem französischen Jesuiten und Entdecker, von dem man nicht genau weiß, ob er je da war) und ist der Verwaltungssitz von Marquette County. Einer von den Einheimischen, der unter dem Pseudonym "Robert Traver" schreibende John Donaldson Voelker (Traver war der Mädchenname seiner Mutter), ist der Verfasser von zwei Büchern, von denen man sagt, dass jeder Angler sie lieben wird, ein Nicht-Angler vielleicht eher nicht: Trout Madness (1960) und Anatomy of a Fisherman (1964).

Das Angeln war die eine von Voelkers großen Leidenschaften. Die andere waren Gesetz und Juristerei. Er hatte sieben Amtszeiten als Staatsanwalt von Marquette County absolviert, als er 1950 nicht wiedergewählt wurde und eine private Anwaltspraxis aufbauen musste. 1952 verteidigte er Lieutenant Coleman A. Peterson, der angeklagt war, Mike Chenoweth ermordet zu haben, den Besitzer der Lumberjack Tavern im Touristenort Big Bay und den mutmaßlichen Vergewaltiger von Petersons Frau. Die Geschworenen sprachen den Lieutenant wegen vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit frei. 1957 wurde Voelker Mitglied des Obersten Gerichtshofs von Michigan. Im Jahr darauf erschien sein auf dem Peterson-Fall basierender Roman Anatomy of a Murder (mit dem Verteidiger Paul Biegler als Ich-Erzähler), der sich 66 Wochen lang auf der Bestsellerliste der New York Times hielt. Ein besonders faszinierter Leser war Otto Preminger, dessen Vater im Habsburgerreich als Staatsanwalt tätig gewesen war und nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst als Anwalt gearbeitet hatte. Auch Otto hatte - eher informell, aber mit Abschluss - Jura studiert, den Beruf allerdings nie ausgeübt, weil ihn schon als Schüler in Wien das von Max Reinhardt betriebene Theater in der Josefstadt gelockt und er sich für die Bühne anstelle des Gerichtssaals entschieden hatte. Anatomy of a Murder führt vor, warum da womöglich kein allzu großer Unterschied besteht.

Saul Bass-Plakat zu "Anatomy of a Murder"

Preminger kaufte im April 1958 die Filmrechte und gewann Voelker als juristischen Berater. Auf Empfehlung von Billy Wilder (nebenbei: Some Like It Hot kam im Mai 1959 ohne PCA-Freigabe in den Verleih, weil Männer in Frauenkleidern, verbunden mit fragil gewordener Heterosexualität, nicht Code-kompatibel waren) engagierte er Wendell Mayes, mit dem zusammen er die Drehbücher für drei Filme schrieb, in denen er gesellschaftliche Institutionen seziert: die Justiz in Anatomy of a Murder, das politische System in Advise & Consent (1962), das Militär nach Pearl Harbor in In Harm’s Way (1965). Ende des Jahres war ein sich eng an den Handlungsverlauf des Romans haltendes Skript fertig, das zu Zeiten Joe Breens völlig inakzeptabel gewesen wäre, weil es da ein striktes Verbot von Vergewaltigungen und versuchten Vergewaltigungen gegeben hatte. Das bedeutet nicht, dass von 1934 bis in die 1950er nie eine Frau in einem amerikanischen Film vergewaltigt wurde. Regisseure waren jedoch gezwungen, auf interpretationsbedürftige Bilder auszuweichen. Das ist problematisch, weil es latent beschönigend wirkt. Eine geknickte Blume oder eine traurig auf dem Bett liegende Frau mit aus der Fasson geratener Frisur ist nicht dasselbe wie ein Opfer, dem der Täter die Kleider vom Leib reißt, um in einen anderen Körper einzudringen. Man kann viele Beispiele dafür finden, wie im Auge des Betrachters - vom Filmkritiker bis zum Filmhistoriker mit wissenschaftlichem Anspruch - aus einer Vergewaltigten eine Frau mit Depressionen wird und aus einer Vergewaltigung eine liebevolle Umarmung. Man fragt sich, wer da mehr geschützt wird: die Opfer, die Täter oder die in patriarchalisch dominierten Bilderwelten steckende Misogynie?

Am 8. Dezember traf sich Preminger mit Breens Nachfolger Geoffrey Shurlock, um das Drehbuch zu besprechen. Shurlock hatte grundsätzlich nichts gegen die im Manuskript verhandelten Themen einzuwenden, bestimmte Formulierungen lehnte er jedoch ab. "Die Bezugnahmen auf ‚Sperma’, ‚sexueller Höhepunkt’, ‚Penetration’ etc.", schrieb er in einem Brief an Preminger, in dem er die Ergebnisse des Gesprächs zusammenfasste, "erscheinen uns als kaum geeignet in einem Film, der ohne Einschränkung vor einem gemischten Publikum gezeigt werden soll. Uns scheint auch eine zu große Betonung auf den Worten ‚Vergewaltigung’ und ‚Höschen’ zu liegen, und zwar bis zu einem Punkt, an dem dieses Element möglicherweise anstößig wird." In der Gewundenheit von Shurlocks Sprache spiegelt sich noch die Uneigentlichkeit, zu der die PCA den amerikanischen Film ein Vierteljahrhundert lang verpflichtet hatte.

Preminger hatte etwas dagegen, sich vorschreiben zu lassen, welche Worte er verwenden durfte und welche nicht. Er war jedoch ein Mann mit einer Mission, kein Prinzipienreiter. Nachdem er den Production Code mit The Moon is Blue und The Man with the Golden Arm von außen angegriffen hatte, kam es ihm inzwischen offenbar darauf an, das System der "freiwilligen Selbstzensur" von innen auszuhöhlen. Also machte er ein paar Zugeständnisse. Er und Mayes änderten die von Shurlock inkriminierten Dialogpassagen (aus dem "Sperma" wurde ein "Befund"), meistens aber nicht (die "Vergewaltigung" blieb eine Vergewaltigung). Dafür gab es am Ende das Prüfsiegel der PCA. Seismische Erschütterungen im moralischen Gefüge der USA wurden nicht registriert, obwohl auch die "Schlampe" (bitch) eine Schlampe geblieben war, was die Zensoren von der PCA genauso schlimm fanden wie die Vergewaltigung - nicht den Akt an sich, sondern das uneuphemistische, nicht beschönigende Wort dafür.

Psycho

Was Joseph Ignatius Breen von der neuen Nachgiebigkeit seiner Nachfolger Preminger gegenüber hielt ist nicht überliefert. Er ging 1954 in den Ruhestand und übersiedelte mit Gattin und Ehrenoscar (verliehen für seine "gewissenhafte, weltoffene und würdevolle Handhabung des Motion Picture Production Code") nach Phoenix, Arizona. Hitchcock (auch das nebenbei bemerkt), der Regisseur mit dem Faible für boshafte Insiderwitze, attackierte die Moralapostel von Hollywood, indem er sich über ihre Phobien lustig machte. Ein Klassiker ist die Kloschüssel in Psycho, mit der er sich für das Verbot revanchierte, in Mr. and Mrs. Smith im Bild oder in Gesprächsform anzuerkennen, dass es Toiletten gibt (weshalb jetzt in einer Szene die Wasserspülung die Dialoge übertönt). Psycho beginnt in Phoenix, weil es geographisch passt und es eine Geschichte über Vögel (und das Vögeln) ist. Das schließt nicht aus, dass Hitch sich ironisch vor dem Oberzensor verbeugte, als er ausgerechnet an dessen neuem Wohnort den Voyeursblick auf Marion Crane freigab, die gerade mit ihrem Geliebten aus dem Haushaltswarenladen geschlafen hat - am helllichten Tag und nicht zur Fortpflanzung! - und nun ihren Büstenhalter wieder anzieht. Der BH war ebenfalls eines dieser Kleidungsstücke, von deren Existenz der Kinozuschauer nie etwas erfahren hätte, wenn es nach Joe Breen gegangen wäre.

Psycho

Forellen-Jazz

Anatomy of a Murder beginnt mit einer ganz anderen Provokation als Psycho, mit einer Provokation, die nichts mit Sex zu tun hat - es sei denn, man denkt an die glitschigen Fischkörper, die in Filmen manchmal den männlichen Samen symbolisierten, was kein Zensor verbieten konnte. Ein Auto fährt durch ein verschlafenes Nest, das aussieht, als würde man jeden Abend um sechs die Bürgersteige hochklappen (es ist jetzt kurz nach acht und auch schon dunkel) und in dessen Zentrum eine abschreckende Trutzburg mit der Aufschrift "Peninsular Bank" steht. Dazu hören wir einen energiegeladenen Jazz Score mit einem den Film vorwärts treibenden Blues-Thema. Der Score stammt von Duke Ellington, einem der größten amerikanischen Komponisten aller Zeiten, der in Premingers Auftrag eine wunderbare Musik geschrieben hat, mit Leitmotiven für die wichtigsten Charaktere (die Autos inbegriffen) und die Dramatik intensivierenden Soli für die Virtuosen in seinem Orchester.

Anatomy of a Murder

Die Saxophonisten Paul Gonsalves (Tenor) und Harry Carney (Bariton) begleiten Paul Biegler, wenn er von A nach B geht und man ihm dabei zusieht, wie er seine Gedanken verfertigt. Shorty Bakers Trompete akzentuiert und hinterfragt Laura Manions Einsamkeit, von der man nicht genau weiß, ob sie echt ist oder eine Pose, um die Männer in ihren Wohnwagen zu locken. Und wenn Lee Remick ihre leicht präpotente, fast aus den (engen) Nähten platzende Sexualität zelebriert setzt der Altsaxophonist Johnny Hodges zum ultimativen, dieses Kunstmittel auf die Spitze treibenden und zugleich dekonstruierenden Glissando an, um sie mit einem Liebesruf in Iron City willkommen zu heißen. Gary Giddins, der Kritiker der Village Voice, hat nicht so unrecht wenn er meint, dass sich jeder Filmkomponist schämen müsste, der das Glissando nach Hodges’ Virtuosenstück noch einmal als Femme-fatale-Klischee einsetzt. Ellingtons Musik ist sinnlicher als Dutzende von verschwitzten Erotikstreifen. So gesehen fängt Anatomy of a Murder natürlich doch mit einer sexuellen Provokation an. Zu den Anfangstiteln hört man den Weckruf einer Trompete, der uns daran erinnert, dass Duke Ellington der Meister des "Jungle Style" war (kommen jetzt gleich die Elefanten?), gefolgt von einem sehr dynamischen, durch den Film hallenden Backbeat ("Echoes of the Jungle" heißt eine berühmte Ellington-Nummer aus der Zeit im Cotton Club, wo sie zu erotischen Tanzdarbietungen gespielt wurde).

Als sein eigener Produzent tat Preminger zwei Dinge, die im klassischen Studiosystem von Hollywood sehr unüblich waren: anstelle von Leuten mit Festanstellung und in das System integrierter Arbeitsweise holte er gern Außenseiter als Komponisten, und er legte Wert darauf, dass sie bei den Dreharbeiten anwesend waren, weil die Musik ein integraler Bestandteil des Films sein sollte, kein nachträglich angefügtes Element (Ellington war zunächst nicht abkömmlich und ließ sich in den ersten Wochen von der Jazzlegende Billy Strayhorn vertreten, einem engen Mitarbeiter). Preminger hatte es auch nicht nötig, den Film in eine Musiksoße zu tauchen und so Emotionen aus dem Zuschauer herauszuleiern, die allein die Bilder auf der Leinwand nicht hergeben würden. Er konnte es sich leisten, mit Ellingtons Kompositionen sparsam umzugehen und beherrschte die Kunst, die Musik an den richtigen Stellen auch mal wegzulassen.

Bei den Zeitgenossen trug ihm das einiges an Unmut ein. Manch ein Kritiker hatte ironischerweise zu bemängeln, dass Ellingtons Musik, die den Bildern neue Räume öffnet, statt sie abzudichten, vom Film losgelöst sei, dass sie keinen Bezug zu ihm habe und darum eher störend wirke. In der sich an Konventionen orientierenden Filmkritik hat das eine lange Tradition: Normabweichungen werden mit Unvermögen oder handwerklichen Fehlern verwechselt. Dahinter steckte eine ganz andere Irritation. Nicht zu wenig Jazz war das Problem, oder der falsche Jazz zum Bild, sondern der Jazz an sich. Jazz als Filmmusik (nicht als Musik im Film, die einer auflegt, der nicht in die bürgerliche Gesellschaft integriert ist oder mit der sich einer in Ekstase spielt wie Elisha Cook in Phantom Lady), Jazz als durchgängige Filmmusik vielmehr kannte man seit Elmer Bernsteins Scores für The Man with the Golden Arm und Sweet Smell of Success (1957), doch da ist sie strikt mit dem Dschungel der Großstadt assoziiert, mit finsteren Kaschemmen und zwielichtigen Charakteren. Das ist auch in der flott zur Sache kommenden TV-Serie M Squad so (Verbrecher begehen Morde und müssen dafür büßen), in der Lee Marvin zur Musik von Stanley Wilson und Count Basie die Unterwelt von Chicago dezimiert (1957-1960), und John Cassavetes ermittelte als "Jazz-Detektiv" Johnny Staccato (1959/60) in den Nachtclubs von New York. In Michigan, bei den Forellenanglern der Oberen Halbinsel, hatte der Jazz nach damaligem Verständnis nichts zu suchen, zumindest nicht in einem Film und nicht mit Jimmy Stewart, der als Anwalt Paul "Polly" Biegler zu großer Form aufläuft.

M Squad

In den Nachkriegswestern von Anthony Mann (Winchester '73, The Naked Spur) und für Hitchcock (Rope, Vertigo) hatte James Stewart zerrissene Charaktere gespielt, die wenig mit seinem Image der Vorkriegszeit zu tun hatten. Dessen ungeachtet blieb er für viele Amerikaner zeitlebens der Jimmy Stewart, der durch Rollen wie die des Provinzlers in Frank Capras Mr. Smith Goes to Washington ein ländlich geprägtes, im Stand der Unschuld befindliches und nicht durch die schädlichen Einflüsse der Großstadt verdorbenes Amerika verkörperte. Es ist deshalb als politisches Statement zu werten, als eine Absage an die Illusion von der agrarisch geprägten, auf ewig vorindustriellen Provinz, die den USA die immerwährende Regeneration verspricht, wenn Stewart als Paul Biegler plötzlich neben Pie-Eye (alias Duke Ellington) sitzt und vierhändig mit ihm Klavier spielt, was in einigen, auf Rassentrennung bestehenden Regionen der Südstaaten 1959 noch zu Boykottaufrufen führen konnte (eigentlich spielt Ellington mit sich selbst, weil er bei der Musikeinspielung auch Stewarts Part übernahm). Premingers Assistentin Rita Moriarty hat Foster Hirsch (Otto Preminger: The Man Who Would Be King) erzählt, dass Preminger sie aufforderte, bei den Dreharbeiten in Michigan ein wachsames Auge auf Ellington zu haben, weil er der einzige Schwarze weit und breit war. Glücklicherweise habe es keine rassistischen Vorfälle gegeben. Vieles, was wir heute beiläufig registrieren, ohne groß darüber nachzudenken, war 1959 alles andere als selbstverständlich.

Mr. Smith Goes to Washington

Überall und nirgends

Wenigstens das mit dem Jazz als Begleitmusik für zwielichtige Charaktere stimmt, aber auch das ist wieder eine Provokation, weil zu ihnen die Hauptfigur gehört und das Zwielichtige eben traditionell in der Großstadt angesiedelt ist, damit der Rest von Amerika, Leute in ländlichen Gegenden wie der Upper Peninsula, ruhig schlafen kann. Der Held des Films also, Polly Biegler (er sitzt in dem Auto, einem Pontiac Chieftain), fährt an der Bank und dann an einer Bar vorbei, wo ein etwas derangiert aussehender Säufer sich einen vermeintlich letzten Drink genehmigen kann, weil man dort für ihn anschreibt. Preminger etabliert so, mit äußerster Ökonomie der Mittel, einen Konflikt zwischen denen, die Geld haben (die Bank) und denen, die keines haben (der Säufer in der Bar), zwischen dem Establishment und den Figuren am Rande der Gesellschaft. Dieser Konflikt ist in Anatomy of a Murder immer da, obwohl er nie ausführlich thematisiert wird.

Während der Säufer seinen Whisky kippt fährt Polly zu dem Haus, in dem er lebt und seine Anwaltspraxis eingerichtet hat. Das ist die Fortsetzung des soeben etablierten Konflikts. Kein Banker würde in seinem Wohnhaus am Rande der Stadt ein Geldinstitut betreiben, und ein gut situierter Anwalt hätte Büroräume in der Hauptstraße, bei den Läden und der Peninsula Bank. Dieser Anwalt mit seiner Angelausrüstung sieht auch nicht wie einer aus. Beim Aufsperren der Haustür könnte man noch glauben, dass der Mann von einem Wochenendausflug zurückkehrt, wenn beim Eingang, an einem zur Garderobe umfunktionierten Geweih, nicht ein Zettel hängen würde. Gleich werden wir erfahren, dass das eine Nachricht von Bieglers Sekretärin ist, die den Anruf von Mrs. Manion entgegengenommen hat, einer möglichen Mandantin - in der Bürozeit, als der Chef beim Angeln war. Kleine Details wie diese tragen zur dichten Textur bei, die sicher mit ein Grund dafür ist, dass sich kaum jemand, der Anatomy of a Murder kennt, über Langeweile beklagen wird. Preminger hat so viele dieser sich stimmig in die übergeordneten Themen einfügenden Details eingestreut, dass man bei jedem Sehen des 161 Minuten langen Films (bei 4%-iger PAL-Beschleunigung auf Region-2-DVDs entsprechend weniger) neue Facetten entdeckt, wodurch er immer spannend bleibt.

Anatomy of a Murder

Wer Biegler in aller Ruhe dabei zusieht, wie er nach Hause kommt, wie er das Licht anmacht, seine Sachen auspackt, Tasche und Anglerweste aufhängt und in die Küche geht, beginnt vielleicht zu ahnen, dass sich der ganze Film, durch die Montage genauso wie durch die Bewegung und Interaktion der Figuren im Raum, an Jazz-Rhythmen orientieren wird und deshalb auch in den Passagen sehr musikalisch ist, wo keine Musik zu hören ist. Bei seinen Verrichtungen in der Küche begleitet Ellington den Helden mit dissonanten Klaviertönen, als wäre das der Schauplatz des Verbrechens. Tatsächlich tritt Polly nicht ans Spülbecken, um Leichenteile zu zerkleinern oder sich die blutigen Mörderhände zu waschen, sondern um seinen Fang zu säubern und, in Folie verpackt, im Kühlschrank aufzuschichten. Das scheint er regelmäßig so zu machen. Wenn der Kühlschrank noch mehr Forellen aufnehmen muss, wird Sekretärin Maida am nächsten Morgen sagen, kann er zum Laichen flussaufwärts schwimmen.

Anatomy of a Murder

Also doch: Fisch als Samen. Preminger treibt hier sein Spiel mit den Herren von der Filmzensur. Zuerst führt er vor, wie man die im Production Code formulierten Verbote umgeht. Dann ignoriert er sie und lässt seine Darsteller bis dahin tabuisierte Worte sprechen. Trotz der Kürze der Aussage von Dr. Dompierre im Mordprozess bringen es der Arzt, der Verteidiger und der Staatsanwalt mit vereinten Kräften auf fünfmal "Vergewaltigung" (rape) und zweimal "Sperma" (semen), nebst anderen sehr konkreten Einlassungen zum einvernehmlichen oder erzwungenen Geschlechtsverkehr. Shurlock von der PCA müssen die Ohren geklingelt haben, als er das hörte.

Anatomy of a Murder

Nach dem Verpacken der Fische in Alufolie geht Biegler in sein Büro, um die von Maida hinterlassene Nummer anzurufen. Er bittet um Rückruf, weil Mrs. Manion gerade nicht zu erreichen ist. Das beobachtet der Säufer aus der Bar von draußen durch ein Fenster. Auf der Tonspur hören wir einen vorbeifahrenden Zug, als der Mann da ankommt. Obwohl alles sehr gemächlich wirkt ist Anatomy of a Murder ein Film über die Bewegung als Lebensgefühl. Die Nummer, die Laura Manion angegeben hat, ist die von einem Road House in Thunder Bay, einem an die Hauptstraße gebauten Diner mit Vergnügungsangebot. Von dort aus ruft sie Biegler zurück, dort sehen wir sie das erste Mal. Laura ist die Tochter eines umherziehenden Bauarbeiters und wird von sich sagen, dass sie aus keinem bestimmten Ort stammt und immer auf Achse war, als sie aufwuchs. Jetzt, als Frau von Lieutenant Manion, reist sie in einem Wohnwagen durchs Land, von Armeestützpunkt zu Armeestützpunkt. "Manny ist gern unterwegs", sagt sie. "Wir sind immer unterwegs; immer, wenn wir die Chance dazu kriegen. Wir waren schon überall." Darum hat sie Manion geheiratet und für ihn ihren ersten Mann verlassen, der sich nicht versetzen lassen wollte.

Anatomy of a Murder

In der amerikanischen Geistesgeschichte ist die Bewegung, traditionell symbolisiert durch den Marsch nach Westen, die Garantie für eine ständige Erneuerung. In Anatomy of a Murder ist das anders. Überall ist nirgends. Lauras Reiselust ist der Ausdruck von Orientierungslosigkeit und Entwurzelung. Die am positivsten besetzten Charaktere sind mehr in einer Idee zuhause als an einem bestimmten Ort, weil das Amerika des Films solche Orte kaum mehr zur Verfügung stellt. Die Manions leben in einem Wohnwagen und sind nur auf der Durchreise. Der Tote hat in seinem Hotel gewohnt. Die Orte der Handlung sind mehr Durchgangsstation als Stabilität verheißendes Heim. Man trifft sich in Büros, Kneipen, einem zur Straße hin offenen Schnellrestaurant oder im Gerichtssaal. Einer der beiden Staatsanwälte kommt genauso von außerhalb wie der Richter. In der einzigen privaten Behausung, die wir je von innen sehen, der von Paul Biegler, weiß man nicht, wo die Anwaltskanzlei aufhört und wo der private Bereich beginnt.

Postkarte mit kleinen Schönheitsfehlern

Das Haus, in dem Polly Biegler wohnt, steht in einem Ort namens Ishpeming und ist das Haus von John D. Voelker, dem Autor der Romanvorlage und Verteidiger im Peterson-Fall - nicht ein originalgetreuer Nachbau im Studio, sondern das echte Haus (es steht da heute noch). Preminger drehte gern an Originalschauplätzen, weil er überzeugt war, dass die Darsteller dort anders agierten als in künstlichen Kulissen und weil er die Herausforderung mochte, mit der Kamera in Räumen unterwegs zu sein, deren Wände man nicht entfernen konnte. Auch das gab einem Film das gewisse Etwas, weil es kreative Lösungen für Probleme erforderte, die man bei der Arbeit im Atelier nicht kannte. Anatomy of a Murder entstand zur Gänze in Marquette County [1] (im Film: Iron Cliffs County - neben der Forstindustrie war die Eisenerzförderung lange Zeit der wichtigste Wirtschaftsfaktor im nördlichsten Teil von Michigan). Im März 1959 setzten sich zwei Reisegruppen dorthin in Bewegung, eine aus New York und eine aus Hollywood kommend. Preminger sorgte dafür, dass die Wochenschau dabei war, als er seine Stars begrüßte. Mit am Bahnhof von Ishpeming stand die halbe Bevölkerung des Ortes. Viele der Einheimischen wirkten dann als Statisten mit. Preminger fand das Auftreten der Hollywood-Komparsen zu routiniert, was er in seinem Film nicht haben wollte. Im Gerichtssaal sitzen Leute, die beim echten Prozess gegen Peterson dabei gewesen sein könnten. Billiger war es natürlich auch, vor Ort Kleindarsteller und Statisten zu rekrutieren.

Wochenschau

In der Werbekampagne für Anatomy of a Murder wurden die Dreharbeiten in der ländlichen Abgeschiedenheit der Upper Peninsula ausführlich gewürdigt. Das weckte Erwartungen, die unbefriedigt blieben. Einige Kritiker waren irritiert darüber, dass der Film unter touristischen Gesichtspunkten so wenig hergibt. Die meisten Regisseure hätten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Polly beim Angeln zu zeigen. Preminger beginnt damit, dass der Held mit seinem Fang nach Hause kommt. Den Lake Superior, den größten der Great Lakes Nordamerikas und das zweitgrößte Binnengewässer der Welt, zeigt er nachts als schwarze Fläche, auf der sich die Lichter der angrenzenden Häuser spiegeln und tagsüber nur deshalb, weil der Campingplatz mit dem Wohnwagen der Manions am Ufer liegt. In Erinnerung bleiben die überquellenden Mülltonnen, nicht der See. Malerische Wälder und andere Postkartenbilder: alles Fehlanzeige.

Der Grad der Freiheit der Figuren in Anatomy of a Murder bemisst sich an ihren Möglichkeiten, sich ungehindert im Raum zu bewegen und Distanzen zurückzulegen, seien sie nun kurz oder lang. Darum werden wir in den folgenden zweieinhalb Stunden Autos beim Fahren zusehen und nicht Landschaftspanoramen betrachten, durch die ein Auto fährt wie bei John Ford die Postkutsche durch Monument Valley. Postkartenidyllen von den Naturschönheiten der Upper Peninsula gibt es nicht, weil das nicht das Thema ist. Die ungewöhnliche Lauflänge des Films hat nichts mit Langatmigkeit zu tun. Preminger beschränkt sich strikt auf das, was wichtig ist. Ich wüsste nicht, welche von den 161 Minuten man entfernen könnte, ohne den Erzählrhythmus zu beschädigen oder mit bestimmten Informationen auch einen der vielen Subtexte zu amputieren.

Anatomy of a Murder

Laura, die Frau mit dem Bewegungsdrang, wird beständig mit stationären Fahrzeugen assoziiert. Bei ihrem zweiten Auftritt wartet sie vor dem Justizgebäude auf Biegler. Die beiden steigen in das Cabrio des Anwalts, im Hintergrund sind Verkehrsgeräusche zu hören, Passanten gehen vorbei, aber Polly fährt nicht los. Das Gespräch findet in einem stehenden Auto statt, weil Laura - zumindest temporär - kaum weniger an einen bestimmten Ort gebunden ist als der Mann, den sie geheiratet hat, weil er immer unterwegs ist und der den geparkten Pontiac jetzt vom vergitterten Fenster seiner Zelle aus beobachtet. Laura gibt zu, dass Manny krankhaft eifersüchtig ist. Er mag es, wenn sie sich aufreizend kleidet und er mit ihr angeben kann, wird dann aber wütend, wenn sich andere Männer nach ihr umdrehen. Und Laura gelingt es nicht, sich von ihrem gewalttätigen Ehemann zu trennen. Auch Beziehungen und die eigene Psyche, heißt das, können ein Gefängnis sein. Darum nützt es letztlich nichts, einfach loszufahren wie früher die Pioniere, um im Westen ein neues Leben anzufangen. Das alte nimmt man immer mit.

Dekadenz

Doch zurück zum ersten Abend. Der Säufer aus der Bar hat inzwischen das Haus betreten und entdeckt eine von Biegler abgestellte Flasche in einer braunen Papiertüte, mit der er sich der Küche nähert, in der Polly die Forellen wäscht. Das ist ein gutes Beispiel für die visuelle Ironie in Anatomy of a Murder. Der Mann mit der Whiskyflasche ist einer von der Sorte, für die Wasser etwas für Fische ist und nicht für Menschen (was sich bald ändern wird). Am Türrahmen zur Küche ist die Farbe abgeblättert, und man sieht einen schwarzen Fleck. Dieser Fleck erzählt eine Geschichte, für die andere Filme zwei Dialogseiten brauchen. Genau an dieser Stelle drückt der Mann jetzt seine Zigarette aus. Das macht er offenbar immer so (daher der schwarze Fleck), und Biegler hat offensichtlich nichts dagegen. Preminger braucht nicht einen gesprochenen Satz, um seinen Helden und dessen besten Freund zu charakterisieren. Wir begegnen da zwei reichlich abgefackten Herren vom Rande einer sich nicht zuletzt über die schöne Fassade definierenden Gesellschaft.

Anatomy of a Murder

Von der Küche gehen die beiden zu Bieglers Wohnzimmer. Es entspinnt sich nun einer der wunderbaren Dialoge, die es in dieser Qualität nur im Film gibt und nicht im Roman, obwohl sich Voelker alias Traver durchaus bemüht hat. Der Säufer fängt an, mit Blick auf die angebrochene Flasche: "You fought this soldier by yourself. You’ve been drinkin’ alone, Polly. I don’t like that." - "Drop the stone, counselor. You live in a glass house." - "My windows have been busted a long time ago, so I can say as I please." Wenn schon Dialoge, scheint Preminger zu sagen, dann bitte solche, die witzig und vieldeutig sind und auch ein bisschen gewagt, die neue Informationen transportieren, das bisher Gesehene rekapitulieren und bereits auf das verweisen, was noch kommen wird. Beide Anwälte wohnen, metaphorisch verstanden, in desolaten Häusern, als Bild für ihre Existenz, wobei das Haus des Säufers sogar kaputte Scheiben hat, weil sein Alkoholproblem noch größer ist als das von Biegler, der den "Soldaten" (die Bourbonflasche) auch gern "bekämpft" (aus der Flasche trinkt), wenn er allein beim Angeln ist. Außerdem wird er bald einen Berufssoldaten als Mandanten haben, von dem er nicht genau weiß, ob er ihn verteidigen oder bekämpfen soll, denn Lieutenant Manion ist nicht sonderlich sympathisch und vielleicht ein gewissenloser Mörder. Damit werden auch, quasi durch die Hintertür, Krieg und Militär eingeführt, was den gesamten Film über mitschwingen und die Perspektive auf Zusammenhänge öffnen wird, die weit über einen Mordprozess im amerikanischen Hinterland hinausreichen.

Anatomy of a Murder

Es hat etwas von der Klage eines betrogenen Liebhabers, wenn der Säufer sich beschwert, dass Polly ohne ihn getrunken hat. Damit soll nicht angedeutet werden, dass die beiden Anwälte eine homosexuelle Beziehung unterhalten. Aber es etabliert eine sexuell aufgeladene Atmosphäre, die selbst in Szenen zu finden ist, wo man gar nicht damit rechnen würde. Wie zur Bestätigung bietet Polly dem Freund eine seiner "italienischen Zigarren" an (nach Meinung von mir konsultierter Raucherforen fehlt es dem Zigarillo gegenüber der dickeren Zigarre an "maskuliner Ausdrucksstärke"). "Nein danke", antwortet dieser. "Dieses Stinkkraut ist auch wieder so ein Zeichen deiner Dekadenz." Polly steckt sich darauf selbst einen Zigarillo in den Mund und reckt ihn wie einen erigierten Penis in die Kamera, damit der alte Freund das Sinnbild der Dekadenz für ihn entzünden kann. Das ist so herrlich unverschämt, dass Joe Breen bestimmt einen Tobsuchtsanfall gekriegt hätte, wenn er noch der Oberzensor gewesen wäre - dies allein schon aus dem Grund, dass er nichts dagegen hätte tun können. Vor dem Zeitalter von Gesundheitsfanatismus und Rauchverboten konnte kein Zensor verhindern, dass ein Mann dem anderen Feuer gibt.

Preminger braucht nun noch ein paar Dialogsätze mehr, um uns darüber aufzuklären, dass Paul Biegler die letzte Wahl zum Staatsanwalt gegen einen gewissen Mitch Lodwick verloren hat und dadurch aus der Bahn geraten ist. Den Schmerz über die Niederlage (eine Art Liebesentzug durch die Bewohner des Bezirks, sagt der Freund) verbirgt Polly hinter Zynismus. Inzwischen vergeudet er sein Talent als Anwalt mit langweiligen Schriftsätzen und unbefriedigenden Allerweltsfällen wie einer, der sich selbst bestrafen will oder nehmen muss, was man ihm anbietet, weil er aus Scham am liebsten nicht mehr auf die Straße gehen würde. Die meiste Zeit verbringt er mit Angeln und Whiskytrinken. Abends diskutiert er mit seinem alkoholisierten Freund juristische Fachliteratur. Die große Leidenschaft der beiden Herren ist das Recht (Preminger wird den Beweis antreten, dass auch die Jurisprudenz sehr sexy sein kann). Damals hatte das eine explizit politische, sogar eine weltpolitische Dimension. Hier lohnt es sich, in das Jahr 1954 zurückzugehen, als Preminger Carmen Jones mit einer rein schwarzen Besetzung drehte (mit Dorothy Dandridge und Harry Belafonte in den Hauptrollen), was ihm Boykottaufrufe und mehrere Aufführungsverbote in den amerikanischen Südstaaten eintrug.

Rule of Law

1954 war auch das Jahr, in dem der U.S. Supreme Court urteilte, dass die in manchen Bundesstaaten praktizierte Rassentrennung an Schulen verfassungswidrig war (Brown vs. Board of Education). Nicht jeder Rassist war bereit, das Apartheidsystem so einfach aufzugeben. 1957 verhinderte die Nationalgarde in Little Rock, Arkansas auf Anweisung des Gouverneurs, dass neun Afroamerikaner die bis dahin nur für Weiße zugängliche High School betraten. Präsident Dwight D. Eisenhower schickte nach anfänglichem Zögern - und unter dem Eindruck der sehr unvorteilhaften Bilder von rassistischen Ausschreitungen, die nun weltweit über die Mattscheiben flimmerten - eigene Truppen los, um in Little Rock die Verfassung durchzusetzen. Am 24. September 1957 begründete er seine Entscheidung in einer Rundfunk- und Fernsehansprache [2]. Darin erklärte er, dass Recht und Gesetz auch dann zu respektieren seien, wenn man persönlich mit bestimmten Regelungen und Entscheidungen der Gerichte nicht einverstanden sei. Andernfalls regiere der Mob, was in der Anarchie enden werde. Eine Schlüsselstelle der Ansprache ist diese hier:

"Ein Fundament unseres American Way of Life ist der Respekt unserer Nation dem Recht gegenüber. Im Süden, wie anderswo, sind sich die Bürger sehr bewusst, was für ein schlechter Dienst den Menschen in Arkansas in den Augen des ganzen Landes erwiesen wurde, und was für ein schlechter Dienst dem Land in den Augen der Welt erwiesen wurde. Zu einer Zeit, in der wir wegen des Hasses, den der Kommunismus gegen ein auf den Menschenrechten basierendes Regierungssystem hegt, im Ausland mit besorgniserregenden Situationen konfrontiert sind, zu so einer Zeit wäre es schwierig, den Schaden zu übertreiben, der dem Ansehen und dem Einfluss, und in der Tat auch der Sicherheit unserer Nation und der Welt zugefügt wird."

Anders formuliert: Die USA können nicht glaubwürdig als Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten auftreten, wenn sie sich selbst nicht an Recht und Gesetz halten - oder, wenn man an den jetzigen Amtsinhaber denkt: ein datensammelndes, die Bürgerrechte unterminierendes Monstrum namens NSA auf den Rest der Welt loslassen und einen Drohnenkrieg führen, in dem der Polizist auch der Richter und der Henker ist. Eisenhower hätte Obama sagen können, dass man einen solchen Krieg langfristig nicht gewinnen kann, was nicht heißt, dass er selbst regelmäßig befolgt hätte, was er in Sonntagsreden predigte. Immerhin ließ er zumindest theoretisch keinen Zweifel daran, dass niemand, auch nicht der Präsident, über der Verfassung steht. Bei Obama gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass mit dem Konstrukt von der "nationalen Sicherheit" ein rechtsfreier Raum geschaffen wurde, in dem der Präsident über der Verfassung steht und kraft seiner Hybris darüber zu bestimmen hat, was erlaubt ist und was nicht. Für einen Präsidenten, der in einem früheren Leben ein auf Bürgerrechte spezialisierter Anwalt war, ist das ein deprimierender Befund.

Der Krieg gegen den Kommunismus war in Eisenhowers Amtsperiode, was heute der Krieg gegen den Terror ist. Rückblickend lässt sich sagen, dass seine Ansprache zu den rassistischen Umtrieben in Little Rock ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des Konzepts von der Rule of Law war, das der Präsident nun verstärkt propagierte, publizistisch unterstützt vom Medienmagnaten Henry Luce (Life, Time, The March of Time). Die "Herrschaft des Gesetzes" war der demokratische Gegenentwurf zur "Herrschaft des Proletariats" hinter dem Eisernen Vorhang, und eine nicht unwesentliche Legitimationsgrundlage für das westliche Verteidigungsbündnis. Die NATO sollte nicht die Sicherheit sichern, sondern eine demokratische Gesellschaftsordnung schützen, der die bürgerlichen Freiheitsrechte heilig sind und die sich an die Normen des internationalen Rechts gebunden fühlt. Ende 1958 rief Eisenhower [3] den 1. Mai 1959 zum Law Day aus. Die USA, steht in der Proklamation, wollen dazu beitragen, dass die Rule of Law auch bei der Lösung internationaler Konflikte gilt. Die Vorherrschaft des Gesetzes sei von existentieller Bedeutung für die amerikanische Nation, und das solle man gebührend feiern.

Das klingt gut. Im Vergleich zum rhetorischen Geschwurbel, mit dem uns Obama seit Jahren einlullt, war Eisenhower auch ein Vorbild an Präzision und Klarheit. Leider war er außerdem der Präsident, der den Kalten Krieger John Foster Dulles zum Außenminister und dessen Bruder Allen zum CIA-Direktor machte. Ausspähung, Drohnenkrieg, der Konflikt mit dem Iran und so weiter: Wer wissen möchte, wie das einmal angefangen hat, in welcher Tradition Bushs und Obamas Krieg gegen den Terror steht - das unheimliche Wirken der Gebrüder Dulles ist kein schlechter Ausgangspunkt. Es war auch kein Zufall, dass Eisenhower sich den 1. Mai aussuchte. Mit dem "Tag des Gesetzes" wollte er den - vermeintlich kommunistisch unterwanderten und "unamerikanischen" - Tag der Arbeit austrocknen. Das alles fand seinen Niederschlag in Anatomy of a Murder. Da das aber ein Film von Otto Preminger ist, und somit für nicht unter Vormundschaft gestellte Erwachsene, darf man keine Charaktere erwarten, die in langen Monologen Leitartikel aufsagen wie etwa bei Stanley Kramer, damit man weiß, was man zu denken hat. Einschlägige Standardwerke zur Filmgeschichte präsentieren uns Kramer (Judgment at Nuremberg, Inherit the Wind) bis heute ungeniert als das Paradebeispiel eines politisch engagierten Regisseurs, Preminger dagegen als den geschäftstüchtigen Impressario, der die Kontroverse sucht, weil öffentlich ausgetragene Schaukämpfe mehr Umsatz generieren. Über unsere Kultur der freiwilligen Selbstentmündigung verrät das eine ganze Menge.

Oscar zieht in den Kalten Krieg

Einer der schlimmsten Schandflecke in der Geschichte Hollywoods ist die schwarze Liste. Echte oder als solche denunzierte Kommunisten, Antifaschisten, Anhänger von Roosevelts New-Deal-Politik, andere "Linke", auch Opfer einer Verwechslung wurden im Kalten Krieg ausgespäht, demütigenden Reinigungsritualen unterworfen, selbst zur Denunziation gezwungen oder mit einem inoffiziellen Berufsverbot belegt, weil die Filmmogule und ihre Geldgeber in den Finanzzentren der Ostküste von der allgemeinen Kommunismushysterie erfasst wurden, zu feige waren, sich den Hexenjägern in Washington zu widersetzen oder schlicht eine günstige Gelegenheit nutzten, missliebige Personen loszuwerden, die sich gewerkschaftlich organisiert hatten, um ihren Forderungen nach gerechterer Entlohnung und größerer künstlerischer Freiheit mehr Nachdruck zu verleihen.

Natürlich, möchte man sagen, war der ebenso kampferprobte wie unbeugsame Otto Preminger wieder in vorderster Linie zu finden, als es darum ging, die schwarze Liste endlich auszuhebeln, indem man offen gegen sie rebellierte, statt hinter den Kulissen nach Wegen zu suchen, sie zu unterlaufen. Die Drehbuchautoren Hollywoods, weil besser organisiert, artikulierter und konfliktfreudiger als manch andere Gruppe, galten als besonders "links" und waren überdurchschnittlich von den Berufsverboten betroffen. Einige schrieben nie wieder ein Drehbuch, andere konnten weiter arbeiten, dies aber unter entwürdigenden Umständen. Es war ein offenes Geheimnis, dass Produzenten auf der schwarzen Liste stehende Autoren beschäftigten, die sich nun hinter Strohmännern oder falschen Namen verstecken mussten. Mitunter war das der honorige Versuch der Auftraggeber, in Not geratenen Kollegen zu helfen, aber es zeugt doch auch von der Scheinheiligkeit Hollywoods sowie jener Politiker und rechten Lobbyisten, die von dieser Praxis wussten und nichts dagegen einzuwenden hatten, solange die Filmindustrie brav ihre Lippenbekenntnisse zur Abwehr einer kommunistischen Unterwanderung abgab, die wohl doch nicht ganz so gefährlich war wie von den Hexenjägern behauptet.

The Friendly Persuasion

Immer wieder interessant ist die Verleihung der Oscars. Alljährlich werden uns lustige Anekdoten aus der glorreichen Vergangenheit dieses Filmpreises erzählt. Über das, was nicht so lustig ist, schweigt man geflissentlich, denn schließlich dient die Veranstaltung der Selbstbeweihräucherung der Unterhaltungsindustrie. Nehmen wir die vermeintlich besten Leistungen des Jahres 1956. Nominiert war der Drehbuchautor, der The Friendly Persuasion, eine Sammlung mit Geschichten von Jessamyn West über friedliebende Quäker zur Zeit des Bürgerkriegs, für die Leinwand adaptiert hatte. Das Problem dabei: Im Vorspann der damals verliehenen Filmkopien gab es gar keinen Drehbuchautor. Inzwischen hat man es geändert. Einerseits ist das nur recht und billig. Andererseits schreibt man mit solchen Wiedergutmachungsaktionen die Geschichte um, weil der Zuschauer in der Regel nicht informiert wird. Der damals offiziell nicht existierende Autor hieß Michael Wilson und war 1951 auf der schwarzen Liste gelandet, weil er sich geweigert hatte, das Spiel des Ausschusses für unamerikanische Aktivitäten mitzumachen, also seine Mitgliedschaft in der KP zu beichten (Wilson war 1938 eingetreten, Mitte der 1950er trat er wieder aus), seinen früheren oder jetzigen Überzeugungen abzuschwören und zum Beweis tätiger Reue Kollegen zu denunzieren.

Jeder Mensch, stand in dem vorbereiteten Statement, das Wilson vor dem Ausschuss nicht verlesen durfte, habe das Recht, "seinem eigenen Gewissen zu folgen sowie ohne Polizeiüberwachung zu denken und zu sprechen und zu kommunizieren". Weil es sich um eine grundsätzliche Frage handele, werde vor dem Ausschuss über alle Amerikaner verhandelt, nicht nur über ein paar politisch Andersdenkende. Wenige Tage nach seiner Einstufung als "unfreundlicher Zeuge" wurde Wilson gefeuert. Die nächsten 14 Jahre stand er auf der schwarzen Liste, und Alec Guinness (The Bridge on the River Kwai, 1957) oder Peter O’Toole (Lawrence of Arabia, 1962) sprachen seine Dialoge, ohne dass das Kinopublikum davon erfahren hätte. In den 1970ern erzählte Wilson im Rahmen eines Oral-History-Projekts, was für ein einfaches System sich Hollywood ausdachte, um Leute wie ihn weiter beschäftigen - und ihre Lage ausbeuten - zu können. Ein Autor steckte die fertigen Drehbuchseiten in eine braune Papiertüte und übergab sie einem Mittelsmann, im Austausch gegen Bargeld (zu deutlich verringerten Bezügen).

The Friendly Persuasion

Die Interessen der Drehbuchautoren wurden von der Screen Writers Guild vertreten. Die SWG entschied in letzter Instanz darüber, wer als Drehbuchautor genannt werden musste bzw. durfte und wer nicht. 1953 änderte sie ihr Regelwerk. Eine Klausel im Standardvertrag sprach den Produzenten nun das Recht zu, einem Autor von der schwarzen Liste die Nennung zu verweigern. William Wyler, Produzent und Regisseur von Friendly Persuasion, schlug vor, nur seinen Bruder Robert und Jessamyn West als Autoren zu nennen, die Wilsons Drehbuch überarbeitet (und verwässert) hatten. Wilson wandte sich an die Schiedsstelle der SWG (seit 1954: Writers Guild of America). Nach einer heftigen Kontroverse wurde entschieden, dass ihm die alleinige Nennung als Autor des Drehbuchs zustand. Diese wiederum konnten Wyler und die Friendly Persuasion finanzierende und verleihende Allied Artists verweigern, wegen der neuen Regel von 1953. Darum lief ein autorenloser Film im Kino.

Die Nominierung des anonymen Autors für den Oscar brachte die Academy of Motion Picture Arts and Sciences in eine peinliche Lage. Diese ehrwürdige Institution musste nun zugeben, dass sie kürzlich - in heimlicher Sitzung - ebenfalls ihr Regelwerk geändert hatte, wovon bisher nur wenige Eingeweihte etwas wussten: Niemand, der sich geweigert hatte, mit dem Kongressausschuss zu kooperieren, konnte für einen Oscar nominiert werden. Friendly Persuasion wurde durch einen anderen Film ersetzt, weil sonst nur vier statt der üblichen fünf Kandidaten auf der Liste mit den Nominierten gestanden hätten (eine Viererliste wäre wenigstens ehrlich gewesen). Im Januar 1959 nahmen die Verantwortlichen der den Oscar vergebenden Academy die neue Regel zurück. Heimlich, still und leise. So eben, wie man es macht, wenn man sich etwas Beschämendes geleistet und nicht die Courage hat, das offen einzugestehen.

Höschen ohne Jungfrau

Vor diesem Hintergrund bekommt Premingers Kampf gegen den Production Code eine andere Wertigkeit. Barney Quill, sagt Laura Manion, habe ihr bei der Vergewaltigung die Kleider zerrissen. Anwalt Biegler muss das erst mal sacken lassen, um dann zu fragen: "Mehrere Dinge sind mir inzwischen eingefallen. Die … äh … die - Unterwäsche, die Barney Quill Ihnen vom Leib gerissen hat. Wer hat die jetzt? Die Polizei?" Die junge Frau ist sichtlich amüsiert darüber, wie schwer sich der ältere Mann damit tut, verpönte Worte in den Mund zu nehmen. Spöttisch und mit hochmütig erhobenem Kinn erwidert sie: "Mein Höschen meinen Sie?" "Na gut", antwortet Biegler, "Ihr Höschen." Das Höschen, antwortet Laura, habe sie seitdem nicht mehr gesehen. Das Sehen ist wichtig in dieser Szene. Um die Peinlichkeit der Situation zu betonen, lässt Preminger das Gespräch über Lauras Unterwäsche in Bieglers Pontiac stattfinden, der so geparkt ist, dass ihr Mann das Auto von seiner Zelle aus sehen kann. Biegler weiß das (es wirkt wie seine Inszenierung) und macht Laura nun darauf aufmerksam, worauf ihre zur Schau gestellte Selbstsicherheit in sich zusammenfällt.

Anatomy of a Murder

Preminger macht aus dieser ersten Höschenszene eine kleine Studie über die Verklemmtheit einer männlich dominierten Gesellschaft und auch darüber, wie die Männer die Frau als sexuelles Wesen in die Schranken weisen. Als der Anwalt Laura sagt, dass ihr Mann sie durch das Zellenfenster beobachtet, nimmt sie scheinbar unwillkürlich (tatsächlich ist das eine Regieanweisung) die Sonnenbrille ab, unter der sie ihr blaues Auge verbirgt. Dieses Veilchen hat ihr entweder Barney Quill bei der Vergewaltigung beigebracht oder aber Lieutenant Manion, weil Laura ihn mit Quill betrogen hat oder vielleicht auch nur, weil sie sich von ihm nach Hause fahren ließ. In keiner der denkbaren Versionen ändert sich etwas an der männlichen Gewalt der Frau gegenüber.

Später, in der Verhandlung, sagt der Polizeioffizier Durgo aus, dass er und seine Leute am Ort der mutmaßlichen Vergewaltigung vergeblich nach einem "gewissen Wäschestück" von Mrs. Manion gesucht haben. Der Richter ist nun doch der Meinung, dass die Geschworenen erfahren sollten, um welches Kleidungsstück es sich da handelt, findet aber, das das Wort "Höschen" einen "leichten Beiklang" habe. Also bittet er die Herren Juristen in gedämpftem Ton um Vorschläge, wie man das schlüpfrige Objekt sonst noch nennen könnte. Preminger macht daraus eine der denkwürdigsten Einstellungen des Films. Dem Richter gegenüber, und aufgereiht wie die drei Musketiere, stehen der Verteidiger und die Staatsanwälte Lodwick und Dancer. Im Hintergrund ist der Kopf von Sergeant Durgo zu sehen, als selbstreflexives Element gewissermaßen, denn damals, 1959, war es nicht ganz auszuschließen, dass in besonders konservativen Gegenden der USA die Polizei ins Kino kam und einen Film konfiszierte, in dem solche "unanständigen" Worte gesprochen wurden (1953 beschlagnahmte die Polizei in Jersey City eine Kopie von The Moon is Blue und nahm auch den Kinobesitzer mit, und der Polizeichef von Birmingham, Alabama ließ die Taxiszene herausschneiden, weil da das böse Wort "Jungfrau" fällt).

Biegler redet sich heraus und verweist auf seinen Status als Junggeselle. Lodwick sagt, dass seine Frau ihre Höschen immer nur Höschen nenne. Und Staatsanwalt Dancer erläutert, dass er im Krieg in Übersee gekämpft und in Frankreich ein Wort gelernt habe, das allerdings ein bisschen "frivol" sei. Die meisten französischen Worte seien frivol, meint der Richter resigniert und teilt den Anwesenden im Gerichtssaal in einem schön mehrdeutigen Satz Folgendes mit: "Zum besseren Verständnis für die Geschworenen, besonders aber für die Zuschauer - die in der Zeugenaussage erwähnte Unterwäsche war, um genau zu sein, Mrs. Manions Höschen." Mit den Zuschauern ist natürlich in erster Linie das Kinopublikum gemeint, weil Preminger keine Gelegenheit auslässt, Parallelen zwischen dem Gerichtssaal und dem Vorführraum im Lichtspieltheater zu ziehen.

Verdammte Fleischbeschau

Der 1959 noch weitgehend unbekannte George C. Scott ist als Staatsanwalt Dancer so brillant wie eigentlich fast immer und ein ebenbürtiger Gegner für James Stewart. Als bester Nebendarsteller wurde er für einen Oscar nominiert, was er als eher unangenehm empfand. Die Nominierung für The Hustler (1961) lehnte er ab, und später ging er als erster Hauptdarsteller in die Annalen der Academy Awards ein, der den ihm zugesprochen Oscar nicht annahm (für Patton, 1970). Die "verdammte Fleischbeschau", ließ er in diesem Zusammenhang wissen, sei nicht sein Ding. Damit wollte er wohl ausdrücken, dass es bei diesem Preis nicht primär um schauspielerische Leistungen gehe und man solche ohnehin nicht miteinander vergleichen könne. Weil "Fleischbeschau" aber als Kritik an der neuen Freizügigkeit im Hollywoodfilm missverstanden wurde, musste er sich dann vorhalten lassen, dass er der Nacktheit auf der Leinwand selbst Vorschub geleistet und in einem Film mitgewirkt habe, in dem dauernd über eine Damenunterhose gesprochen und diese sogar in die Kamera gehalten wird (Preminger sorgt mit sardonischem Humor dafür, dass das Corpus Delicti wenigstens frisch gewaschen ist). Auch das ist ein Missverständnis.

Der Produzent und Showman Preminger hatte sicher nichts gegen Spätpubertierende und Fetischisten einzuwenden, die wegen dieses Höschens eine Kinokarte kauften und als angenehmen Nebeneffekt Geld in die Kasse brachten. Das ändert nichts daran, dass die Unterhose nicht etwa ein Werbegag ist sondern vielmehr Premingers Angriff auf eine durch den Production Code beförderte Kultur der Euphemismen und des Darumherumredens. Die Zuschauer im Gerichtssaal reagieren auf das Wort "Höschen" (panties) mit pubertärem Gelächter. "Es gibt nichts Komisches an einem Höschen", ermahnt der Richter, "das beim gewaltsamen Tod eines Menschen eine Rolle spielt und bei der möglichen lebenslangen Freiheitsstrafe für einen anderen." Zur Ordnung gerufen werden da auch kichernde Zuschauer im Kino und jene Zensoren, denen zur Unterwäsche junger Frauen nur Schlüpfrigkeiten einfallen. Anatomy of a Murder plädiert für Transparenz und Genauigkeit im Detail. Die Benennung und exakte Beschreibung von Laura Manions Höschen werden ganz wesentlich zum Ausgang des Prozesses beitragen. Das aufzuzeigen, nicht das Provozieren eines Skandals mittels einer Unterhose, ist Ziel des Films.

Der Production Code ist - wie alle Auflistungen dieser Art - ein teils kurioses, teils deprimierendes Sammelsurium von Tabus und Ungereimtheiten. Preminger schlägt die Zensoren mit ihren eigenen Waffen, wendet ihre Methodik gegen sie. Wer Anatomy of a Murder sieht sollte darauf gefasst sein, dass er auf eine höchst ingeniöse Weise das Profane mit dem Ideellen vermengt, das Anständige mit dem Unanständigen, das Private mit dem Politischen, um herauszufiltern, was das Wesentliche ist und wofür es sich einzutreten lohnt. Ein Höschen kann über Tod oder Leben entscheiden, über Freiheit oder Unfreiheit. Zur Freiheit gehört für Preminger die des künstlerischen Ausdrucks, sie ist geradezu einer ihrer Voraussetzungen. Mit der Freiheit der Kunst verhielt es sich für Preminger wie mit der Jungfräulichkeit: Ganz oder gar nicht (im Rahmen der auf demokratischem Wege zustande gekommenen Gesetze). Darum wehrte er sich so beständig dagegen, sich von Zensoren mit dubioser Legitimation einen Keuschheitsgürtel verordnen zu lassen. Eine Jungfrau musste eine Jungfrau bleiben, und wenn sie keine mehr war musste das auch gesagt werden.

im zweiten und letzten Teil [4]: Unterhosen und unwiderstehliche Impulse


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[1] http://www.uproc.lib.mi.us/pwpl/Anatomy/Ishpeming/IshpemingWalkingTour.pdf
[2] http://historymatters.gmu.edu/d/6335/
[3] http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=87357
[4] https://www.heise.de/tp/features/Unterhosen-und-unwiderstehliche-Impulse-3364291.html