Anders Wirtschaften ohne Wachstum

Die BIP-Steigerungslogik des Schneller-Höher-Weiter macht auf Dauer krank und auch nicht glücklich. Wie sehen Alternativen aus? Ein Einwurf.

Die Transformationsforscherin Andrea Vetter beschäftigt sich wissenschaftlich und praktisch mit Fragen des Übergangs zu einer Lebens- und Wirtschaftsweise, die den Planeten nicht zerstört und ein gutes Leben für alle ermöglicht.

Im Projektzentrum Mehringhof in Berlin-Kreuzberg stellte sie am 14. März 2024 auf Einladung des Buchladenkollektivs Schwarze Risse die Notwendigkeit einer Postwachstumswirtschaft, deren Kennzeichen und die Wege dorthin vor.

Was ist das Problem mit dem Wachstum?

Der brandenburgische Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD) freut sich über Tesla in Grünheide und wünscht sich weitere Industrieansiedlungen, während Bürger:innen protestieren und kürzlich 62,1 Prozent der ansässigen Bevölkerung gegen die Tesla-Erweiterung gestimmt haben, für die mehr als 100 Hektar Wald abgeholzt werden sollten.

Andrea Vetter lebt nicht weit entfernt in einem Hausprojekt, wo sie in einer bunt gemischten Gemeinschaft das gute Leben schon heute ausprobiert. Sie erläutert, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP), mit dem das Wirtschaftswachstum gemessen wird, in den 1930/40er-Jahren erfunden wurde, um die Kriegstauglichkeit der Wirtschaft zu messen.

Nach Kriegsende wurde es beibehalten, weil es als faire Berechnungsrundlage der Mitgliedsbeiträge der Länder für die Vereinten Nationen (UNO) galt.

Vetter stellte sieben unterschiedliche Wachstumskritiken vor:

Erstens: Wachstumskritik aus ökologischer Perspektive

In Deutschland war in den letzten Jahren eine Entkoppelung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum zu beobachten. Allerdings lag dies daran, dass ressourcenintensive Industriezweige wie die Stahlindustrie in andere Länder ausgelagert wurden und hierzulande schadstoffminimierende Umrüstungen vorgenommen wurden, die sich nicht alle Länder leisten können.

So hat sich weltweit gesehen der Kernglaube an eine Entkoppelung nicht bewahrheitet. Angesichts von Klimakrise und Naturzerstörung ist ein weiteres Wirtschaftswachstum aus ökologischer Perspektive nicht vertretbar.

Zweitens: Sozial-ökonomische Wachstumskritik

Der bis heute einflussreiche US-amerikanische Philosoph John Rawls (1921-2002) behauptete, dass Wachstum Gerechtigkeit schaffe, wenn zwar die Reichen mehr, aber die Armen auch ein bisschen Wohlstand abbekämen und niemand etwas weggenommen werden müsse.

Die Realität zeigt jedoch, dass das BIP-Wachstum der letzten Jahrzehnte nur die Reichen immer reicher gemacht hat, während die Reallöhne gesunken sind. Gerechtigkeit stellt sich nicht durch eine wachsende Wirtschaft her, sondern durch eine andere Verteilung.

Drittens: Kulturkritik des Wachstums

Die Steigerungslogik des Schneller-Höher-Weiter ist nicht menschengemäß, sie macht auf Dauer krank und auch nicht glücklich. Der Druck, immer mehr leisten zu müssen, betrifft das ganze Leben, auch außerhalb der Erwerbsarbeit, und kann sogar in wachstumskritische politische Initiativen ausstrahlen.

Viertens: Feministische Wachstumskritik

Was gemeinhin unter Wirtschaft verstanden wird – vor allem Lohnarbeit und Finanzmärkte – stellt nur einen kleinen Teil des Wirtschaftsprozesses dar. Nach dem "Eisbergmodell" liegen darunter all die notwendigen Tätigkeiten wie Hausarbeit, Pflege und Erziehung, Gärten zur Selbstversorgung usw.

Diese unbezahlten Arbeiten sind oft unsichtbar, werden meist von Frauen getan und kostenlos angeeignet, ebenso wie Ressourcen und Arbeit aus dem Globalen Süden. Mit dem Wirtschaftswachstum nimmt also auch diese Ausbeutung zu.

Fünftens: Kapitalismuskritik

In einer kapitalistischen Wirtschaft wird aus Geld über die Produktion und den Verkauf von Waren mehr Geld (G – W – G’). Dieses Geld fließt wiederum in die Produktion und durch den "Sachzwang der Konkurrenz" (Karl Marx) entsteht zwangsläufig Wachstum. Ohne Wachstum kann der Kapitalismus nicht existieren, darum muss eine Postwachstumsgesellschaft auch postkapitalistisch sein.

Sechstens: Industriekritik

Das Wirtschaftswachstum basiert auf einer Art und Weise der industriellen Produktion, auf Techniken und Infrastrukturen, die zu Emissionen führen, unabhängig vom Gesellschaftssystem. Es reicht also nicht, diese unter sozialistischen Vorzeichen fortzuführen, sondern es ist notwendig, die gesamt Produktionsweise umzubauen.

Siebtens: Dekoloniale Wachstumskritik

Das herrschende Entwicklungs- und Industriemodell beruht auf 500 Jahren kolonialer Ausbeutung und ist daher nicht verallgemeinerbar für alle. Rohstoffe wurden und werden weiterhin gewaltsam angeeignet, auch mit Waffengewalt. Eine Postwachstumsgesellschaft braucht anstelle der herrschenden Imperialen Lebensweise (Ulrich Brand, Markus Wissen) eine Solidarische Lebensweise.

Globale ökologische Gerechtigkeit und Mindeststandards eines Guten Lebens für alle

Allzu konkrete Konzepte einer zukünftigen Wirtschaft und Gesellschaft möchte Andrea Vetter nicht entwickeln, denn das hielte sie für eine patriarchale Anmaßung. Schließlich würden die jeweils Beteiligten vor Ort über die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung anderen Wirtschaftens entscheiden.

Jedoch benennt sie einige Prinzipien, die für eine Postwachstumsgesellschaft unabdingbar sind: Entscheidend sei die globale ökologische Gerechtigkeit, wonach jeder Mensch überall auf der Welt gleich viel wert ist und den gleichen Anspruch auf die Nutzung von Naturgütern hat.

Das dürfe jedoch nicht bedeuten, hinter einmal errungene Sozialstandards wie Sozialversicherung, Rente, Kündigungsschutz etc. zurückzufallen. Es müsse Mindeststandards eines Guten Lebens geben, die für alle gelten. Wichtig sei die konkrete, wachstumsunabhängige Ausgestaltung aller Infrastrukturen der Versorgung.