zurück zum Artikel

Angriff auf Afrin: Der gefährliche anti-kurdische Konsens

Die türkische Armee greift die Kurden an - und plötzlich herrscht unter den sonst so zerstrittenen Parteien Konsens. Das gefährdet die Stabilität der Region. Ein Kommentar

Als Ende 2014 der Islamische Staat (IS) versuchte, die kurdische Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei zu erobern und ein Blutbad anrichtete, standen türkische Panzer in Sichtweite. Sie griffen nicht ein. Der IS, der zu jener Zeit offen die Türkei bedrohte, konnte, so stellte sich später heraus, ungehindert im türkisch-syrischen Grenzgebiet operieren.

Erdogan setzte darauf, dass die Islamisten sein kurdisches Problem erledigen würden. Er verrechnete sich. Die kurdischen Milizen schlugen den IS zurück. Die Kämpfe zogen sich bis Februar. Mit amerikanischer Luftunterstützung konnte Kobane befreit werden.

Propagandalügen

Nun greift die türkische Armee gemeinsam mit islamistischen syrischen Milizen, die in Bussen zur Grenze gekarrt werden, den Bezirk Afrin an - offiziell um die als Terrororganisation gelabelte kurdische YPG und PYD zu bekämpfen. Außerdem, so heißt es aus Ankara, gehe es gegen den Islamischen Staat.

Das ist nur eine unter unzähligen Propagandalügen (siehe: Afrin: Türkische Regierung diktiert Medien Berichterstattung [1]), mit denen dieser neuerliche Krieg geführt wird. Es existieren in Afrin (weder in der Stadt noch im zu Aleppo gehörenden Landesbezirk) keine Stellungen des IS.

Das Gebiet ist unter kurdischer Kontrolle. Und zwar unter der Kontrolle jener Milizen, ohne die es nicht gelungen wäre, den IS in Syrien so empfindlich zu treffen, dass er nahezu sein komplettes Gebiet verloren hat.

Nun ist es kein Zufall, dass die Berichterstattung in den gleichgeschalteten türkischen Medien vor Kriegsbegeisterung hyperventiliert wie eine schlechte Comedy [2], während zugleich die Polizei hart gegen Antikriegsproteste auf den Straßen vorgeht und es wieder zu unzähligen Festnahmen und Repressionen gegen jene kommt, die sich öffentlich für Frieden aussprechen.

In den Moscheen wird für den Sturz Afrins gebetet

Am Wochenende wurden türkeiweit dutzende Personen wegen Postings auf Facebook und Twitter festgenommen, dazu kamen mehrere Journalisten. Das Vorgehen kennen wir schon: Wer gegen den Krieg ist, ist für die Terroristen, so die offizielle Haltung in Ankara. Dabei sitzt die größte Bedrohung für den Frieden und die Stabilität der Türkei weder in Afrin noch hinter einem Computerbildschirm, sondern im Präsidentenpalast.

Es ist ein martialisches Narrativ, das von der AKP befeuert wird, wesentlich heftiger noch als während der Angriffe auf die kurdischen Gebiete im Südosten der Türkei vor zwei Jahren. In den Moscheen wird für den Sturz Afrins gebetet, auch in den deutschen Ditib-Häusern. Während die türkische Lira erneut in den Sinkflug gegangen ist, verbreiten die Propagandaschleudern der AKP das Märchen von einer durch den Krieg erstarkenden Wirtschaft.

An der syrischen Grenze spielt eine Marschkapelle in osmanischem Gewand auf [3]. Zeitgleich rollen in Afrin Panzer der türkischen Armee. Es sind Leopard-Panzer. Aus Deutschland. Und gerade einen Tag vor Beginn des Einsatzes "Operation Olivenzweig" verlautete es aus der Bundesregierung, es solle einen neuen Panzer-Deal geben, bei dem Wohl Rheinmetall kräftig absahnen wird.

Doppelmoral

Wenn der deutsche Außenminister bei seinen Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Cavusoglu derartige Deals aushandelt, die dazu führen, dass kurdische Zivilisten unter dem Beschuss deutscher Panzer stehen und er gleichzeitig die Einhaltung der Menschenrechte anmahnt, dann macht er sich restlos unglaubwürdig und degradiert die Menschenrechte zu einen verkümmerten Feigenblatt.

Es ist genau diese Politik der Doppelmoral, die es unmöglich macht, für die europäischen Werte einzutreten, wenn sie von genau jenen, die sie so leichtfertig im Mund führen, umgehend wieder torpediert werden.

Dabei geht Erdogans Taktik nicht zuletzt aufgrund genau dieser indifferenten und rückgratlosen Haltung seiner Partner und Gegner auf. Denn der Angriff auf Afrin hat nichts mit türkischer Sicherheitspolitik oder der "legitimen Landesverteidigung" zu tun, auf die unlängst auch die USA verwiesen, die es sich mit ihrem schwierigen NATO-Partner nicht dauerhaft verhageln wollen.

Nein, der Grund ist derselbe wie schon im Jahr 2015, als Erdogan nach der Wahlschlappe im Sommer jede Zurückhaltung gegenüber den Kurden aufgab und einen chaotischen Krieg innerhalb der eigenen Landesgrenzen vom Zaun brach.

Erdogan rast auf die Wahlen im kommenden Jahr zu

Der Grund heißt Innenpolitik. Erdogan rast auf die Wahlen im kommenden Jahr zu, und er weiß, dass er sie zu verlieren droht. Schon das Verfassungsreferendum im April 2017 gewann er trotz Manipulationen nur haarscharf. Und seitdem haben sich die Umfragewerte der AKP nicht verbessert, im Gegenteil.

Erdogan weiß aber auch, dass es ein Thema gibt, mit dem er das Land hinter sich vereinen kann: die Kurden. Da sind sich alle einig. Die rechtsradikale MHP, die sich erst kürzlich zum Bündnis mit der AKP für die Wahlen 2019 bereit erklärt hat, ebenso wie die neu gegründete Iyi Parti von Hardlinerin Meral Aksener und die kemalistische CHP von Kemal Kilicdaroglu, der mit seiner Haltung zur Kurdenproblematik seine kompletten Oppositionsleistungen des vergangenen Jahres wieder zunichte macht.

Der Gerechtigkeitsmarsch von Ankara nach Istanbul, an dessen Abschlusskundgebung über eine Million Menschen teilnahm, was ist er wert, wenn diese Gerechtigkeit für die Kurden nicht gelten soll?

Die einzige im Parlament vertretene Partei, die sich dem entgegenstellt, ist die linksliberale HDP. Doch deren Parteiführung ist in Haft, mehreren Abgeordneten wurde das Mandat entzogen. Am Wochenende wurde ihre Zentrale von der Polizei umstellt, um öffentlichen Widerspruch gegen den Krieg zu unterbinden. Widerspruch kann Erdogan nicht gebrauchen.

Was er braucht, ist die Angst vor einer terroristischen Bedrohung und eine kriegsbegeisterte Bevölkerung, der er militärische Erfolge verkaufen kann. Er dürfte im Moment in freudiger Erwartung der ersten PKK-Anschläge in türkischen Städten sein. Es wäre nicht das erste Mal, dass die PKK dumm genug ist, Erdogan mit Racheakten in die Hände zu spielen und der kurdischen Sache einmal mehr einen Bärendienst zu erweisen. 2015 hat das funktioniert. Es wird auch 2018 wieder funktionieren.

Ein Projekt mit Potential

Und, machen wir uns nichts vor: Natürlich ist Rojava mitnichten das basisdemokratische Vorzeigeprojekt, das von seinen Sympathisanten heillos romantisiert und gegen jede noch so fundierte Kritik abgeschirmt wird. Aber dennoch ist es demokratischer als alles, was die Region umgibt. Es ist ein Projekt mit Potential.

Auch das kann Erdogan nicht gebrauchen. Was er braucht, sind Akteure, die er zu Terroristen erklären kann, egal ob sie YPG, IS oder Gülen heißen. Um Inhalte geht es dabei schon lange nicht mehr. Sondern nur um Instrumentalisierung. Dass Russland dieses Spiel mitspielt verwundert nicht.

Aber Deutschland sollte dringend an seiner Haltung feilen. Zu einem Dialog, wie Außenminister Gabriel ihn wiederholt betonte, gehört auch, dem Dialogpartner Grenzen aufzuzeigen, die nicht überschritten werden dürfen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3948111

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Afrin-Tuerkische-Regierung-diktiert-Medien-Berichterstattung-3947415.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Afrin-Tuerkische-Regierung-diktiert-Medien-Berichterstattung-3947415.html
[3] http://www.hurriyetdailynews.com/ottoman-military-band-performs-at-turkey-syria-border-126102