Angriff auf Krankenhaus in Gaza: Gefährlicher Zorn auf der arabischen Straße

US-Präsident Joe Biden und der israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu. Bild: Weißes Haus

IDF macht den Islamischen Jihad verantwortlich. US-Präsident Biden stellt sich dahinter. In der arabischen Öffentlichkeit wird das nicht geglaubt. Befürchtet werden Aufstände wie 2011.

Man kann die vertrackte, hochgefährliche Situation ohne "ja, aber", ohne Relativierungen beschreiben. Es geht um ein "und": Es gibt Welten, die nebeneinander existieren, und sie haben sehr unterschiedliche Erzählungen und sie sind in einem Konflikt, der sich gerade auf eine bedrohliche Art aufwiegelt. Und dieser Konflikt, in dem die Erzählungen eine große Rolle spielen, kann katastrophale Folgen haben.

Aus Sicht Israels ist es ein Krieg, der seine Existenz bedroht. Und aus Sicht der Regierungschefs in arabischen und islamischen Ländern ist es ein Aufstand in der Bevölkerung, den man 2011 zu fürchten gelernt hat.

Und aus Sicht der westlichen Länder ist es der Verlust der Glaubwürdigkeit in großen Teilen der Welt mit unabsehbaren Konsequenzen. Die Financial Times zitiert aktuell einen hochrangigen G7-Diplomaten:

"Wir haben die Schlacht im Globalen Süden definitiv verloren. (...) Die ganze Arbeit, die wir mit dem Globalen Süden [wegen der Ukraine] geleistet haben, ist verloren. Vergessen Sie die Regeln, vergessen Sie die Weltordnung. Sie werden nie wieder auf uns hören."

US-Präsident Joe Biden

US-Präsident Joe Biden sagte gestern bei seiner Pressekonferenz zum Treffen in Tel Aviv mit dem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, dass er "tief traurig und empört" über die Explosion im Krankenhaus in Gaza, dem Al-Ahli Arab Hospital, war und es für ihn feststehe, wer dafür verantwortlich war

Und nach dem, was ich gesehen habe, sieht es so aus, als ob sie von dem anderem Team ausgeführt wurde, nicht von Ihnen (das ist an den israelischen Ministerpräident gerichtet, Einf. d. A.). Aber es gibt eine Menge Leute da draußen, die sich nicht sicher sind.

Joe Biden.

"Nicht sicher" ist eine diplomatische Untertreibung.

Proteste von Nordafrika bis zum Persischen Golf

80.000 Menschen und das ist keine kleine Menge, versammelten sich am Dienstag vor dem israelischen Konsulat. Darunter, so berichtet die New York Times, "einige, die versuchten, das Gebäude mit Steinen, Stöcken, Fackeln und Feuerwerkskörpern zu stürmen".

Der türkische Präsident Tayyip Erdogan hatte am Dienstag getobt, der Angriff auf ein Krankenhaus im Gazastreifen sei "das jüngste Beispiel für Israels Angriffe ohne die elementarsten menschlichen Werte".

Außer in Istanbul, wo die Protestmenge offenbar am größten war, zählt die Zeitung weitere Hauptstädte von Ländern auf, wo solche öffentlichen Erregungen stattgefunden haben: Tunesien Marokko, Libyen, Ägypten, Libanon, Jordanien, Irak, Bahrain, Iran und im Westjordanland.

Erwähnt wird in anderen Berichten auch noch der Jemen. Gut möglich, dass diese Aufzählung nicht vollständig ist.

Anlass der Proteste sind die Angriffe der israelischen Armee auf Ziele im Gazastreifen, die zivile Opfer fordern. Die Erregung hat sich mit der Explosion auf dem Gelände des Al-Ahli Arab Hospitals, in deren Folge angeblich mehrere hundert Menschen ums Leben kamen, hochgeschraubt.

Klärung der Geschehnisse

Eine tatsächliche Klärung der Geschehnisse und vor allem der Verantwortlichkeiten steht noch aus. Auch eine sorgfältige Recherchearbeit der NZZ, die anhand von Bildmaterial, Geschehnissen und Aussagen in überzeugenden Folgerungen darstellt, dass es erhebliche Zweifel an der Darstellung der Hamas gibt, - wonach die IDF für die Explosion verantwortlich ist -, kann keine Sicherheit der Erkenntnisse behaupten.

Und sie macht auf den Kern aufmerksam, der zählt, wenn es um das Eskalationsrisiko geht: den Informationskrieg.

Nach wie vor lässt sich nicht mit abschließender Sicherheit sagen, was genau die Detonation verursacht hat. Auch die gemeldeten Opferzahlen lassen sich nicht unabhängig bestätigen. Die öffentlich verfügbaren Informationen wecken jedoch Zweifel an der Darstellung der Hamas.

Die Reaktionen auf die Explosion zeigen, wie unerbittlich der Informationskrieg tobt. Auch in den sozialen Netzwerken verbreiten israelische und arabische Accounts Falschinformationen oder alte Videos, um ihre Version zu stützen. Auf beiden Seiten scheinen die Meinungen aber bereits gemacht. In der arabischen Welt stachelt die Explosion die Wut auf Israel weiter an.

NZZ

Die "bereits gemachten Meinungen" sind der höchst problematische Kern. Eine unabhängige Untersuchung zum Geschehen vor Ort ist derzeit keine realistische Möglichkeit. Vieles sieht nach einer langen Fortsetzung des Informationskrieges aus.

Zwei Welten, zwei Erzählungen

Zum ersten Mal nach seiner Erfahrung, so der französische Journalist Wassim Nasr, spreche eine IDF-Soldatin in einer öffentlichen Kommunikation auf Arabisch an die arabische Öffentlichkeit gerichtet. Wie stehen die Chancen, dass sie gehört wird?

Eine rhetorische Frage. Wer sich Berichte auf al-Jazeera zum "israelischen Narrativ" im Zusammenhang mit der Explosion auf dem Krankenhausgelände anschaut, wird zum Realisten. Nicht weil dort die Wahrheit besser getroffen wird, sondern weil da Punkte aufgeführt werden, die die arabische Öffentlichkeit anders ansprechen.

Seit Jahren gründet al-Jazeera seine Berichterstattung auf der Beobachtung, dass für die Öffentlichkeit in arabischen und/oder islamischen Ländern andere Sichtweisen und Themenschwerpunkte gelten als für die westliche Öffentlichkeit.

Um etwaige Missverständnisse bei der Leserschaft zu vermeiden: Das heißt natürlich nicht, dass dort wahrheitsgemäßer berichtet wird; Beispiele für Berichte mit einer deutlichen Tendenz und einer Polemik, die mit Vorannahmen oder Ressentiments arbeitet, sind bei al-Jazeera immer wieder zu finden.

Es geht um Credits, die die Publikation im Gegensatz zu westlichen Veröffentlichungen hat. Das ist ihr Geschäftsmodell: eine andere Glaubwürdigkeit. So wird im Zusammenhang mit der Explosion auf dem Krankenhausgelände in Gaza auch anderes aufgezählt als in westlichen Medien - und anders gewertet, so z.B. vorhergehende Angriffe der IDF auf das Al-Ahli Arab Hospital sowie auf andere Krankenhäuser in Gaza.

Der Realismus der Politiker im Nahen Osten

Diese Erzählungen über zivile Opfer im Gazastreifen bleiben hängen und das hat Konsequenzen für die Reaktionen der Politiker in der arabischen, bzw. islamischen Welt.

Das Blutbad im Al Ahli Arab Hospital, dem Schauplatz der Explosion in Gaza am Dienstag, hat nicht nur die Araber auf der Straße vereint, sondern auch die Führer, denen sie in der Regel mit müdem Misstrauen begegnen. Einige Araber haben ihren Regierungen vorgeworfen, dass sie es in der Vergangenheit versäumt haben, Israel die Stirn zu bieten, aber nun haben diese Regierungen Israel fast einheitlich für die Explosion verurteilt.

New York Times

Und weiter: "Zum ersten Mal schienen viele arabische Bürger, die seit Langem über eine Vielzahl von Themen mit ihren Führern frustriert waren, mehr oder weniger auf derselben Seite zu stehen wie diese", so die US-Zeitung.

Saudi-Arabien, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Jordanien gaben offizielle Erklärungen ab, in denen sie Israel für die angebliche Explosion im Al-Ahli-Krankenhaus im Gazastreifen verurteilten - und das, obwohl nach Informationen der IDF die Terrorgruppe PIJ (Palästinensischer Islamischer Dschihad) für den Angriff mit einer fehlgeleiteten Rakete verantwortlich war.

Jerusalem Post

Dazu eine Einschätzung des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Marc Lynch, einem Spezialisten für die "arabische Straße", der im renommierten Fachmagazin Foreign Affairs. Dort warnt er vor den Risiken eines israelischen Einsatzes von Bodentruppen in Gaza:

Arabische Führer sind von Natur aus Realisten, die mit ihrem eigenen Überleben und ihren eigenen nationalen Interessen beschäftigt sind. Niemand erwartet von ihnen, dass sie sich für Palästina opfern - eine Annahme, die die amerikanische und israelische Politik sowohl unter dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump als auch unter US-Präsident Joe Biden bestimmt hat.

Doch ihre Fähigkeit, sich gegen eine wütende, mobilisierte Öffentlichkeit zu behaupten, hat Grenzen, insbesondere wenn es um Palästina geht. (…) In den vergangenen Jahren haben die arabischen Führer Anti-Israel-Proteste routinemäßig zugelassen, um Dampf abzulassen und den Volkszorn auf einen äußeren Feind zu lenken, um Kritik an ihrer eigenen miserablen Bilanz zu vermeiden. Sie werden dies wahrscheinlich wieder tun, was Zyniker dazu veranlasst, Massenaufmärsche und wütende Meinungsäußerungen abzuwinken.

Aber die arabischen Aufstände von 2011 haben eindeutig bewiesen, wie leicht und schnell sich Proteste von etwas lokalem und begrenztem zu einer regionalen Welle entwickeln können, die in der Lage ist, lange herrschende autokratische Regime zu stürzen. Die arabischen Führer müssen nicht daran erinnert werden, dass es ihre Macht bedroht, wenn die Bürger in großer Zahl auf die Straße gehen. Sie werden sich nicht auf die Seite Israels stellen wollen.

Marc Lynch

Das Feuer schüren

Und es gibt solche, die das Feuer kräftig schüren: Die iranische Nachrichtenagentur Fars News bezeichnete die Explosion in dem Krankenhaus als "echten Holocaust". Israel wird dort als "dämonisches" Regime bezeichnet, die Kriegsverbrechen der Hamas werden nicht erwähnt.

Recht zweifelhaft ist, was Irans Informationskrieger, die den Hass auf Israel am Kochen halten, anbelangt, allerdings, wie viel Glaubwürdigkeit das brutal repressive Regime in Teheran noch in der Bevölkerung hat.