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Angriff auf die Ukraine: Warum wir jetzt Stärke und Diplomatie brauchen

Lange hat Putins Russland auf eine gemeinsame europäische Friedensordnung gesetzt. Nun ist Krieg. Der Weg zum Frieden führt über eine Doppelstrategie

Groß war die Aufregung, als Ex-US-Präsident Donald Trump Deutschland die Freundschaft aufkündigte. Sein Interesse war bekanntlich der Fokus nur auf US-amerikanische Interessen. Da gehörte die Verteidigung Europas nicht dazu. Frustriert und mahnend resümierte Angelika Merkel "Wir Europäer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen [1]" – nach einem Treffen mit Trump auf dem G-7-Gipfel 2017 auf Sizilien.

Trump hatte klargemacht, dass er nun endlich die lange schon vereinbarten erhöhten Verteidigungsausgaben erwarte und dass Europa nicht mehr auf die uneingeschränkte Unterstützung durch die USA zählen könne [2].

Es ging also um die Stärkung unserer Wehrhaftigkeit. War das überhaupt notwendig? Es gab doch Diplomatie und deren Verhandlungsstärke. Und man hatte doch 180.000 Soldat:innen unter Waffen und ein Budget von 35 Milliarden. War da noch was? Ach ja, der Zustand der Bundeswehr.

Machtspiele statt Kompetenz bei Ministerbesetzungen

Die Probleme der Bundeswehr sind typisch für eine Organisation mit großer Mannschaft und teurer, komplizierter Technik. Sie biete eine Führungsherausforderung, die auch von großen Firmen der Wirtschaft bekannt ist. Das ist nicht nur eine politische Aufgabe. Sie ähnelt vielmehr den organisatorischen Herausforderungen großer Logistik-Unternehmen wie Federal Express, UPS, Schenker oder DHL.

Deren Manager wissen, wie in solchen Strukturen Leistung und Qualität sicherzustellen sind. Die Komplexität von Logistik-Unternehmen, aber auch vielen anderen großen Konzernen der Wirtschaft, ist ähnlich – und sie agieren alle international.

So begründet die EU Sanktionen gegen russische Politiker und Journalisten (0 Bilder) [3]

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Aber bei Ministerposten zählt bei uns nicht Kompetenz, sondern macht- und parteipolitisches Kalkül. Und so musste die Ärztin Ursula von der Leyen den Posten der Verteidigungsministerin übernehmen.

Sie merkte, dass sie nicht die richtige war und warb eine Flut von Beratern an, ein beliebter Weg, wenn die Kompetenz nicht reicht, aber einen Weg, der eben nicht genügt für die richtigen Entscheidungen. Denn entscheiden und Entscheidungen durchsetzen müssen die Minister:innen.

War da noch was? Ach ja, den für die Ärztin von der Leyen besser passenden Posten an der Spitze des Gesundheitsministeriums gab man dem Bankkaufmann Jens Spahn, der durch seine zahlreichen Fehler in der Anfangszeit der Coronapandemie eher als gesundheitsgefährdend auffiel. Nein, die Kabinettsbesetzungen von Angela Merkel waren nicht gerade die glücklichsten Entscheidungen. War da noch was?

Eigentlich hätte man meinen können, dass Merkel die ideale Kanzlerin für eine Verbesserung der Beziehungen mit Moskau sein könnte. Sie spricht Russisch, sie hat in Moskau wissenschaftlich gearbeitet, sie hat die DDR erlebt und sie weiß sicher, dass Putin im Grunde deutschfreundlich ist.

Sie war Ministerin, als Putin am 25. September 2001 seine Rede im Bundestag hielt [5] und eine neue Sicherheitsstruktur für Europa forderte. Gerade deshalb dürften ihr die Diskussionen um die Osterweiterung der Nato und deren Problematik in Erinnerung sein.

War da noch was? Waren nicht bald danach die nun freien osteuropäischen Staaten an die Nato angeschlossen worden und gab es keine neutrale Pufferzone mehr – wobei nur die Ukraine schutzlos blieb, nur auf eigene Kraft angewiesen?

Waffen für die Ukraine

War noch was? Ach ja, wir liefern keine Waffen an die Ukraine, auch keine Defensivwaffen wegen unserer Geschichte. Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen) muss einen schlechten Geschichtslehrer gehabt haben oder schlechte Professoren bei ihren Vorlesungen in Völkerrecht.

Denn gerade die deutsche Geschichte lehrt, dass sich demokratisch gewählte Führer zu Diktatoren entwickeln können, die nur mit Waffengewalt aufzuhalten sind, was nun die Bundesregierung ja einsieht.

Und die deutsche Geschichte lehrt auch, dass ein Gleichgewicht der Rüstung der beste Friedensgarant ist. Damit haben wir 50 Jahre gut gelebt, auch all die, die jetzt Minister:innen sind.

War da noch was? Ach ja, vor 20 Jahren hatten wir in seiner Rede einen ganz anderen Putin erlebt. Einen Putin, der für einen europäischen Sicherheitspakt warb und Russland in eine friedliche Gemeinschaft Europas integrieren wollte. Diese denkwürdige Rede vor dem Deutschen Bundestag liegt zwei Jahrzehnte zurück. Die damals ausgestreckte Hand wurde nicht ergriffen, die große Chance vertan.

Aber das war nicht das primäre Thema. Gerhard Schröder (SPD) war Bundeskanzler und entwickelte ein engeres Verhältnis mit Putin, sogar ein bisschen Freundschaft. Auch Angela Merkel hört die Rede und dürfte auch die ersten zehn Minuten, die auf Russisch gesprochen wurden, verstanden haben.

Aber dann folgten 20 Minuten in fließendem Deutsch, mit einem unüberhörbaren Appell, aus der Geschichte zu lernen und ein neues Fundament für Europa zu bauen. Eine vertane Chance von Schröder, und auch Merkel.

War da noch was? Ach ja, die SPD will nun Altkanzler Schröder aus der Partei ausschließen [6].

Parteiausschluss des "Russlandverstehers" Schröder?

Warum? Weil er der einzige war, der zu den wenigen gehört, die zu Putin einen Gesprächskanal aufrechterhalten konnten? Ist er nicht der beste Botschafter für den dringend notwendigen Reset?

Einem Reset, der mit einem Verhandlungsangebot beginnt. Mit einem Verhandlungsangebot [7], das auch geschichtliche Zusammenhänge respektiert und deshalb nach der Annexion der Krim eine Volksabstimmung erwägt, ob festzustellen, ob die dortige Bevölkerung diesen Anschluss an Russland will, zu dem sie übrigens 200 Jahre lang gehörte.

Jede Nation denkt immer wieder über historische territoriale Veränderungen nach oder lehnt sie ab. Gerade das war die Motivation zur Wiedervereinigung. Ist nun die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Grund genug, um die Lieferung von Defensivwaffen an eine bedrängte Ukraine zu verhindern Ist es nicht gerade die Lehre aus der deutschen Vergangenheit, dass es diktatorischen Fanatismus geben kann, der nur mit Waffengewalt zu begrenzen ist?

Wirtschaftskrieg mit dem Westen: Das sind die russischen Gegensanktionen (9 Bilder) [8]

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Die russische Regierung setzte Ende Februar 2022 als Reaktion auf die EU-Sanktionen in Zuge des Angriffs auf die Ukraine alle Raketenstarts vom Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana aus. Die Weltraumbehörde Roskosmos stoppe "die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern bei der Organisation von Weltraumstarts vom Kosmodrom Kourou aus", hieß es. Auch das technische Personal, knapp 90 Mitarbeiter, würden aus Französisch-Guayana abgezogen. Unser Bild zeigt ein Sojus-Raumschiff in Kourou. Bild [10]: elisabetta_monaco / CC-BY-2.0 [11]

Und es war es nicht gerade die enorme Rüstungsstärke der beiden Kontrahenten USA und Sowjetunion gewesen, deren gegenseitige Abschreckung uns einen "kalten" Krieg, genauer gesagt: 50 Jahre Frieden gebracht hat?

Kehrtwende der deutschen Politik

Vor diesem Hintergrund ist die Kehrtwende der deutschen Politik hin zu auch militärischer Stärke zu begrüßen. Es liegt leider in unserem Wesen, dass Frieden meist durch Vernunft und auch gesellschaftlichen Druck gesichert werden kann, während Gestaltungsehrgeiz und Machtwille zur Waffe greifen lassen – der man dann nur mit Gleichem begegnen kann. Nun also wird dieses wichtige politische Instrument auch bei uns akzeptiert. War es das oder war da noch was?

Verhandlungsangebot an Moskau

Genug also der verpassten Chancen. Nun also militärische Stärke und auch die Aufforderung an Moskau, zu verhandeln. Aber darauf zu warten, genügt nicht.

Es ist auch an der Zeit für ein Verhandlungsangebot unsererseits an Russland über eine europäische Sicherheitsordnung, auf Augenhöhe und Verständnis für die Sicherheitsbedenken beider Seiten.

Nach dem völkerrechtlich nicht gedeckten Einmarsch der USA in den Irak und der ständigen Weiterentwicklung der US-Waffentechnologien ist es höchste Zeit dafür, wenn wir einen dritten Weltkrieg vermeiden wollen. Und sei es durch einen neuen Kalten Krieg, einem Miteinander im Gleichgewicht der Kräfte, mit einer Pufferzone dazwischen.

Ja, es ist noch nicht zu spät. Noch hält sich der Krieg in Grenzen. Aber weitere osteuropäische Nationen sind gefährdet. Und vor allem bleibt Russland als die einzige Alternative zu einem Bündnis mit Europa eine Allianz mit China. Und deren Autokraten sind noch weitaus gefährlicher mit ihrem Expansionsanspruch an Taiwan.

Gerade jetzt, wo die Waffen sprechen, ist Diplomatie gefragt – und die besteht nicht in der Absage des Champions-League-Spiels in St. Petersburg oder neuen Trikots für Schalke 04 – ohne Gazprom. Sie besteht darin, Putins Wandel zu verstehen und ihn an alte Vorschläge zu erinnern.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/angela-merkel-wir-europaeer-muessen-unser-schicksal-in-unsere-eigene-hand-nehmen/19861340.html?ticket=ST-3366065-FjqAs4hjhfrBrgxqkHnR-ap2
[2] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/starkes-europa-muss-sich-selbst-helfen-15417324.html
[3] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6524646.html?back=6527659;back=6527659
[4] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6524646.html?back=6527659;back=6527659
[5] https://www.youtube.com/watch?v=DVTsD0pl2zY
[6] https://www.welt.de/politik/deutschland/article236833575/Kritik-am-Altkanzler-Einfach-mal-Klappe-halten-SPD-Politiker-stellen-sich-gegen-Gerhard-Schroeder.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Faustpfand-Krim-Verhandeln-fuer-Demokratie-in-Belarus-4926231.html
[8] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6527986.html?back=6527659
[9] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6527986.html?back=6527659
[10] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Centre_spatial_guyanais_-_Rollout_Soyuz_8842502698.jpg?uselang=de
[11] http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de