Faustpfand Krim - Verhandeln für Demokratie in Belarus

Das Schicksal von Belarus liegt maßgeblich in den Händen von Putin. Ein Vorschlag ein echtes Gesprächsangebot

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Trotz großer Demonstrationen scheint sich Lukaschenko im Amt halten zu können. Die wesentlichen Oppositionspolitikerinnen sind außer Landes gebracht oder verhaftet, werden nun sogar auch von Russland verfolgt. Das Volk wird gezwungen, mit Unterstützung Russlands ein Wahlergebnis von 82 % (!) Zustimmung für diesen langjährigen Diktator zu akzeptieren. Die Zahl an sich ist durch ihre Übertreibung schon ein Verhöhnen der Demokratie und das gewalttätige Unterdrücken von so viel Opposition sowieso.

Menschenrechte und europäische Grundrechte werden verletzt. Aber Europa sieht hilflos zu. Im eingeübten Aktionismus denkt die politische Führung der EU über Sanktionen nach. Die Erfolgsgeschichte von Sanktionen gegen totalitäre Regime fällt sowieso gemischt aus. Zuallererst leidet die Bevölkerung - und die Wirkung dauert, ist meist nur langfristig messbar bei fraglichem politischem Erfolg. Sanktionen sollten deshalb nicht nur Aktionismus sein, sondern auch zu damit gekoppelten Verhandlungen führen. Für einige Jahre sind sie ein Faustpfand, dann aber schleifen sie sich ab und verlieren ihre Kraft als Verhandlungsmasse.

Akzeptieren und verhandeln

Es bieten sich im Moment mehrere Verhandlungspunkte, die auch Russland nicht so ohne weiteres ablehnen wird. Vor allem wäre da die Unterstützung Russlands, in Belarus den Schutz der Opposition zu erreichen und auf Neuwahlen und eine neue Verfassung zu drängen - möglichst in dieser Reihenfolge, denn eine Verfassung zu erarbeiten, benötigt Zeit - und das böte Gelegenheit zur Diskussion einiger neuer Ideen.

Enorm gestärkt würde die Gesprächsbereitschaft Russlands im Falle der Aussicht auf Anerkennung der Halbinsel Krim als traditionell russisches Gebiet, von der Bevölkerung zu bestätigen durch eine international überwachte Volksabstimmung.

Die Krim ist seit Ende des 18. Jahrhunderts Teil Russlands. Da weit von Moskau entfernt, hat sie Chrustschow 1954 an die Ukraine angehängt, die damals allerdings Teil der Sowjetunion war. Der Verlust der Krim muss jeden Deutschen an die Teilung Deutschlands erinnern und den nie aufgegebenen Wunsch einer Wiedervereinigung. Gerade diese Sonneninsel von Russland abzutrennen, war unglücklich. Deshalb liegt Verhandlungsbereitschaft zur Anerkennung dieser Annexion nahe - und entsprechend sollte man nun über die Akzeptanz dieser geographischen Neuordnung diskutieren. Am Rande sei angemerkt, dass auch die Opposition, allen voran Nawalny, die Annexion der Krim unterstützt.

Das Verhandlungsziel für Europa ist im Fall der Krim ist vorgezeichnet: eine faire, international überwachte Volksabstimmung der Bevölkerung der Halbinsel Krim über deren Zugehörigkeit zu Russland oder zur Ukraine, dies kombiniert mit einer Wiederholung der Wahl in Belarus - begleitet vom sofortigen Schutz der Opposition - sowie eine Überarbeitung der dortigen Verfassung. Solches Verhandeln hätte die Chance eines sich normalisierenden Dialogs mit dem Kreml und zudem mit der Volksabstimmung auf der Krim und der Stabilisierung der Demokratie in Belarus zwei große Erfolge für den Grundgedanken der Demokratie.

Demokratie - Der Lieblingsfraß des Machthungers

Eine neue Verfassung für Belarus würde eine Diktatur ablösen und sollte entsprechend einen Rückfall erschweren. Das wirft die grundsätzliche Frage der verfassungsrechtlichen Grenzen der Abhängigkeit des Militärs und der Sicherheitskräfte von der Regierung auf. Das erinnert mich an einen kürzlichen Beitrag im Magazin der Max-Planck-Gesellschaft (Forschung 2/2020), der über Mariela M. Antoniazzi berichtete, eine venezolanische Juristin, die als Richterin in ihrem Heimatland gegen Korruption kämpfte und nun am Max-Planck-Institut für Völkerrecht in Heidelberg forscht. Ihr Thema: Warum Menschenrechte die Voraussetzung jeder Demokratie sind - und wie man sie verteidigt.

Diese "Streiterin für die Menschenrechte" - so der Titel des Beitrags - schreibt über die vielen Diktaturen, die in Südamerika entstanden sind, und ergänzt ernüchternd: "Das Demokratieprinzip in Südamerika hat eine lange Geschichte. Sie beginnt mit der Unabhängigkeit, noch im 19. Jahrhundert. Damals standen die Länder Südamerikas vor einem Neubeginn. Sie gaben sich Verfassungen, sehr fortschrittlich und optimistisch. Auch Demokratie und Menschenrechte wurden darin festgeschrieben, ökonomische und soziale Grundrechte. Als die europäischen Staaten viel später folgten, fanden sie in diesen Prinzipien eine willkommene Vorlage... bis alles verschwand, zerschlagen wurde, sich auflöste in der Raserei der Militärdiktaturen von Argentinien und Chile, Uruguay, Paraguay, Bolivien Nicaragua oder Peru.

Diese Beispiele, und auch viele in Afrika, zeigen: dass die Rolle des Militärs unter einem autoritären Führer der entscheidende Hebel zur vollen Diktatur sein kann. Costa Rica beispielsweise hat deshalb nach schlimmen Erfahrungen bereits 1948 auf ein Militär verzichtet. Es ist heute eine prosperierende Demokratie, sozial und ökologisch vorbildlich. Das kann ein Beispiel sein, die Macht des Militärs zu begrenzen und damit machthungrigen Präsidenten den Weg zur Diktatur zu erschweren.

Das Militär abzuschaffen, ist ein sehr weitgehender Schritt. Aber die Konsequenz für eine neue Verfassung gerade auch in Belarus könnte sein, das Militär und Teile des Sicherheitsapparates vom Regierungszugriff zu entkoppeln. Das Volk könnte zwei Amtsinhaber wählen. Den Präsidenten und den obersten Befehlshaber des Militärs, vielleicht zusätzlich auch den obersten Richter, wie in manchen Staaten bereits üblich. Oder - das wäre in Belarus denkbar, man verzichtet ganz auf das Militär.

Die Entscheidung über einen so weitgehenden Schutz vor dem Einsatz von Militärmacht läge wohl bei Putin. Auszuschließen ist seine Unterstützung nicht. Denn es ist ein logischer Schritt gegen Bürgerkrieg, der Schrecken auch vieler Diktatoren. Putin will nicht nur in Belarus das Vertrauen für Russland gewinnen. Vor allem sucht er mehr Anerkennung im Westen, sein eigentliches großes Ziel, bisher allerdings kaum beachtet von der EU und schon gar nicht von den NATO-Strategen.

Es geht also darum, Putin nicht nur mit Drohungen wie dem Stopp von Nordstream 2 zu konfrontieren, sondern ihm ein echtes Gesprächsangebot zu machen, zu Belarus und auch zur Zukunft der Insel Krim und ihn damit an den Verhandlungstisch zu bringen. Die Anerkennung der Rückgliederung der Krim an Russland ist das eigentliche Pfand, das Europa hat - es könnte helfen, die Demokratie in Osteuropa zu stärken und das nachbarschaftliche Verhältnis zu bessern. Gerade mit Blick auf die rasch wachsende Annäherung Russlands an China ist ein von Europa geprägtes Gegengewicht der Dialogbereitschaft nötiger denn je.

Dr. Peter H. Grassmann studierte Physik in München, promovierte dort bei Werner Heisenberg und ging ans MIT. Bei Siemens baute er die heute milliardenschwere Sparte der Bildgebenden Systeme auf. Als Vorsitzender von Carl Zeiss (bis 2001) sanierte er das Stiftungsunternehmen in Jena zusammen mit Lothar Späth. Er ist Kritiker einer radikalen Marktwirtschaft und fordert mehr Fairness und Nachhaltigkeit. Grassmann erhielt zahlreiche Auszeichnungen und engagiert sich bei der Münchner Umwelt-Akademie, bei "Mehr Demokratie e.V.", der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gesellschaft und dem Senat der Wirtschaft.