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"Ansteckende Verantwortlichkeit": Weltweites Experiment zu Folgen der Überwachung

Bundespolizei erprobt mobile Körperkameras, die Gewalttäter abschrecken sollen. Bild: Bundespolizei

Bei der Aufrüstung der Polizei mit BodyCams lässt sich beobachten, wie das Wissen um Beobachtung das Verhalten beeinflusst

Derzeit findet ein weltweites Experiment mit der Überwachungstechnik von Kameras statt, die Polizisten mit sich führen. Die Polizisten sind damit, ebenso wie die Menschen, die mit ihnen zu tun haben, unter Dauerbeobachtung von Dritten bzw. diese können die audiovisuellen Aufzeichnungen nachträglich ansehen. Da die Polizisten unter Befehl stehen, die Kameras anzuschalten, findet in der Regel keine Selektion statt, was das Experiment dahingehend interessant machen, welche Folgen die dauerhafte Beobachtung des Verhaltens hat, wenn alle Beteiligten sich bewusst sind, dass ihr Verhalten gewissermaßen neutral dokumentiert wird.

BodyCams für Polizisten wurden und werden eingeführt, um Beweismaterial zu sammeln - mit dem erwarteten Nebeneffekt der "Abschreckung" oder Befriedung, dass sich sowohl Polizisten wie Personen, mit denen sie zu tun haben, regelkonformer und weniger aggressiv verhalten sollen, weil sie anhand der Aufnahmen belangt werden können.

In Deutschland wird vor allem der Schutz der Polizisten vor Gewaltbereiten [1] angestrebt. Daher wird die Kamera in der Regeln nur bei Bedarf angeschaltet. So heißt es in einer Pressemitteilung [2] bei der Einführung von mobilen Körperkameras durch die Bundespolizei am Kölner und Düsseldorfer Hauptbahnhof, dass diese "an einer Weste angebracht sind und bei bestimmten Einsatzsituationen eingeschaltet werden. Die sogenannten "BodyCams" sollen Gewalttäter abschrecken und somit Polizisten vor Übergriffen schützen."

Eingeschaltet werden sollen sie beispielsweise bei der "Kontrolle von offenkundig gewaltbereiten Personen". Getestet wird bei diesem Versuch auch die Akzeptanz der Kameras bei den Polizisten. Von deren Kontrolle ist hier nicht die Rede. Für Akzeptanz soll wohl eben sorgen, dass es in der Entscheidung der Polizisten zu liegen scheint, die Kameras einzuschalten, und dass die Aufzeichnungen "nur in den Fällen gespeichert (werden), wo diese zur Beweissicherung in einem etwaigen Strafverfahren von Bedeutung sein können".

Kürzlich wurde eine Studie von Wissenschaftlern der University of Cambridge und RAND Europe über 8 britische und US-amerikanische Polizeibehörden veröffentlicht, in denen die Polizisten BodyCams mit sich führen müssen. Es stellt sich heraus, dass ausgerechnet Polizisten, die ihre Kameras einschalten, öfter angegriffen werden, während sich ihr Verhalten nicht verändert. Dabei scheint allerdings eine Rolle zu spielen, ob die Polizisten während des Dienstes die Kamera ein- und ausschalten können oder ob sie dauernd an sein müssen, was die Gewalt seitens der Polizisten reduziert (Fettleber bei Kindern [3]).

Rückgang der Anzeigen gegen Polizisten um mehr als 90 Prozent

Jetzt haben die Wissenschaftler einen neuen Bericht vorgelegt, in der sie in einer randomisierten kontrollierten Studie von einer "ansteckenden Verantwortlichkeit" sprechen. Untersucht wurden die Anzeigen gegen Polizisten unter der Hypothese, dass sie abnehmen sollten, wenn die Polizisten eine BodyCam tragen, weil sich Polizisten und Verdächtige dann gesitteter verhalten. Weniger Beschwerden sollten in der Regel dafür sprechen, dass sich die Polizisten regelkonformer verhalten. Problematisch an der Fragestellung sei, dass es meist relativ wenige Beschwerden gebe. Man muss davon ausgehen, dass der Großteil polizeilichen Fehlverhaltens nicht berichtet wird. Zudem ist die Deutung schwer: Wenn es etwa mehr Beschwerden gibt, könnte es sein, dass die Polizei entsprechend Anlass zu gibt oder dass in einer Gegen die Bereitschaft höher ist, Anzeigen einzureichen, weil das Vertrauen beispielsweise höher ist, dass ihnen auch wirklich nachgegangen wird. Es könne aber auch zu einem Missbrauch bei den Anzeigen kommen.

In sieben Tests mit 1.847 Polizisten von sieben Polizeibehörden wurden Polizisten zufällig Einheiten zugeteilt, die Kameras mit sich führten oder nicht. Die Polizisten mit Kameras sollten diese immer angeschaltet haben und die Menschen darauf hinweisen, dass ihre BodyCams angeschaltet sind. Ausnahmen waren Unterhaltungen mit Informanten, Einsätze bei schweren sexuellen Angriffen und bei größeren öffentlichen Veranstaltungen.

In allen beteiligten Polizeibehörden wurden in den 12 Monaten vor dem Beginn der Studie 1.539 Anzeigen gestellt, 1,2 Anzeigen pro Polizist. In der Zeit der Tests gingen die Anzeigen um 93 Prozent auf 113 zurück, 0.08 Anzeigen pro Polizist. Dabei gab es kaum signifikante Unterschiede zwischen den Polizeibehörden.

Das Ergebnis zeigt, dass die BodyCams die Zahl der Anzeigen gegen Polizisten erheblich reduzieren. Wenn das Verhalten der überwachten Polizisten der Grund für den Rückgang und das Fehlverhalten von Polizisten verantwortlich für eine negative Einstellung gegenüber der Polizei ist, dann wären BodyCams eine "technische Lösung für das Legitimitätsproblem". Allerdings stellen die Wissenschaftler in Frage, ob sich aus der Zahl der Anzeigen wirklich die Legitimität der Polizei ablesen lässt. Selbst wenn alle Begegnungen zwischen Polizisten und Verdächtigen hundertprozentig korrekt verliefen, könne das, was davor und danach geschieht als bösartig, rassistisch, unfair etc. wahrgenommen werden. Die Öffentlichkeit würde oft gar nicht Veränderungen wahrnehmen, also auch nicht, ob die Polizisten BodyCams tragen. Und es gebe keine Untersuchungen darüber, ob die Legitimität von Polizeibehörden durch das Tragen von BodyCams angestiegen ist.

Die Kameras würden aber die "Transparenz des polizeilichen Verhaltens" vergrößern, wenn sie immer an sind, was die Einhaltung der Regeln durch die Polizisten fördert und eine Gleichheit der Darstellung der Polizisten und eines Verdächtigen über einen Vorfall herstellt. Im Sinne der Abschreckungstheorie gäbe es eine "glaubhafte Drohung", dass Fehlverhalten bestraft wird: "Das Bewusstsein, gefilmt zu werden, führt zu Transparenz und diese zu verantwortlichem Handeln."

Seltsam aber sei, dass der Rückgang der Anzeigen überall etwa der gleiche war und auch die Einsätze betraf, die ohne Kameras durchgeführt wurden. Eine Vermutung ist, dass die Polizisten, die zufällig in ihren Schichten mit und ohne Kameras unterwegs waren, sich eben auch dann regelkonformer verhielten, wenn sie nicht von einer Kamera überwacht wurden. Sie hätten also unter der Video-Überwachung gelernt, was regelkonformes Verhalten ist. Das nennen sie "ansteckende Verantwortlichkeit". Allerdings könnte dafür nicht alleine die panoptische Überwachung durch die Kameras die Ursache sein, sondern die Teilnahme an dem Versuch und das Wissen, dass auch das Verhalten derer stärker unter die Lupe genommen wird, die keine Kameras tragen.

Eine Rolle dürfte aber auch spielen, vermuten die Wissenschaftler, dass die Polizisten angehalten waren, zu Beginn jeder Begegnung darauf hinzuweisen, dass sie eine BodyCam tragen, was eben auch die Verdächtigen befriedet, die dann auch weniger Anlass für gewalttätiges oder nichtregelkonformes Verhalten der Polizistengeben.

Stärkung der Regelkonformität

Die Wissenschaftler ziehen den Schluss: "Anscheinend verändert das Wissen mit ausreichender Gewissheit, dass unser Verhalten beobachtet oder beurteilt wird, verschiedene soziale kognitive Prozesse beeinflusst: "Wir bemerken öffentliche Selbstwahrnehmung, halten uns eher an sozial akzeptiertes Verhalten und fühlen uns verstärkt genötigt, nach Regeln zu kooperieren." Die Frage wird allerdings langfristig sein, was passiert, wenn die Menschen dauerhaft und allgegenwärtig unter Überwachung stehen.

Werden sie dann mehr und mehr zu braven Bürgern und Gesetzesvertretern, was vermutlich auch hieße, dass Unruhen und Revolten weniger würden und alle in freien und autoritären Staaten systemkonformer handeln? Oder würden sich die Menschen daran gewöhnen, unter Beobachtung zu stehen und wieder riskanter handeln oder sich andere Wege suchen, um aus den Regeln auszubrechen? Zumal die Menschen auch kulturell vor jeder Technik daran gewöhnt sind, unter virtueller Beobachtung zu stehen.

Jedenfalls waren die monotheistischen Religionen soziale Praktiken der Regelerzwingung durch einen Gott, der angeblich alles sieht und das Verhalten der Menschen auf Erde nach dem Tod beurteilt, um sie ins Paradies oder die Hölle zu selektieren. Den inkorporierten Gott mit seinem allgegenwärtigen Auge könnte man auch als Über-Ich (Freud) oder als das Gewissen bezeichnen. Das funktioniert bei manchen aber nicht oder ist falsch programmiert, überdies wurden und werden Gewalttaten und Grausamkeiten auch immer mit dem angeblichen Willen Gottes gerechtfertigt, wie derzeit etwa durch den IS. Ob da Technik eine bessere Alternative ist?


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3349784

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.polizeipraxis.de/nc/themen/waffen-und-geraetetechnik/detailansicht-waffen-und-geraetetechnik/artikel/body-cam-eine-erfolgsgeschichte-nimmt-ihren-lauf.html?tx_ttnews%5BsViewPointer%5D=1
[2] http://www.presseportal.de/blaulicht/pm/70116/3237610
[3] https://www.heise.de/tp/features/Fettleber-bei-Kindern-3224407.html
[4] https://www.flickr.com/photos/northcharleston/25763393046/in/photostream/
[5] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/