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Arbeitslosengeld oft niedriger als Hartz IV

Viele Arbeitslosengeld-Empfänger hätten das Recht, ihre Bezüge aufzustocken. Doch die Betroffenen machen nur selten Gebrauch davon

"Aufgabe des Arbeitslosengeldes ist es, den Lebensunterhalt anstelle des ausfallenden Arbeitsentgelts zu sichern", glaubt [1] das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Doch diese allemal sinnvolle Funktion kann die Entgeltersatzleistung, die nach den Bestimmungen des SGB III [2] gezahlt wird, immer seltener erfüllen.

Zentrale der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Bild [3]: Nico Hofman/CC-BY-SA-3.0 [4]

Nach Berechnungen [5] des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen bekamen 19,9 Prozent der Männer und 44,8 Prozent der Frauen zum Ende des Jahres 2011 weniger als 600 Euro im Monat.

Unter der Grundsicherung

Auch 2012 charakterisieren die Forscher des IAQ die durchschnittliche Höhe des Arbeitslosengeldes mit dem Begriff "bescheiden". Männer kamen auf 924 Euro pro Monat, Frauen lagen nur bei 697 Euro. Hält man das durchschnittliche Bedarfsniveau der Grundsicherung für Arbeitsuchende dagegen, zeigt sich, dass die Hartz IV-Leistungen von etwa 671 Euro vielfach unterboten wurden.

Ein beträchtlicher Teil der Arbeitslosengeld-I-Empfänger hätte somit Anspruch auf eine Aufstockung durch Arbeitslosengeld II. 2012 nutzten diese Möglichkeit allerdings nur 10,4 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass andere Haushaltsmitglieder deutlich mehr verdienten und so die Voraussetzung der Bedürftigkeit nicht gegeben war, ist nicht besonders hoch. Gerd Bäcker, emeritierter Professor der Universität Duisburg-Essen und Senior Fellow des IAQ, hat eine wahrscheinlichere Erklärung:

Angesichts der niedrigen Arbeitslosengeldzahlungen ist zu vermuten, dass viele Betroffene die Möglichkeit der Aufstockung nicht kennen oder nicht beantragen.

Gerd Bäcker

Grundsätzlich sind die Zahlbeträge des Arbeitslosengeldes zwischen 2004 und 2012 zwar gestiegen – bei Männern von 866 auf 924, bei Frauen von 610 auf 697 Euro pro Monat. Eine Verbesserung der materiellen Verhältnisse, insbesondere mit Blick auf die von der Politik anvisierte Sicherung des Lebensunterhaltes, hat aber augenscheinlich nicht stattgefunden. Das IAQ, das sich auf Daten der Bundesanstalt für Arbeit bezieht, beziffert den Kaufkraftverlust durch Inflation zwischen 2004 und 2012 auf 14 Prozent.

Niedrige Löhne

Die Erhebung zeigt einerseits, dass das Arbeitslosengeld I seit der Einführung des SGB II immer weiter an Bedeutung verliert. Nach Einschätzung des IAQ werden derzeit nur noch 30 Prozent aller Arbeitslosen durch die entsprechende Versicherung erfasst. Die überwiegende Mehrheit fällt in die Zuständigkeit des SGB II beziehungsweise der JobCenter.

Aus den Zahlen lässt sich außerdem ableiten, dass fast jede zweite Frau im Falle einer Arbeitslosigkeit mit einem Betrag unterhalb der Grundsicherung rechnen muss und Geringverdiener besonders häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind.

Insgesamt korrespondieren die Ergebnisse mit anderen Befunden vom flexibilisierten Arbeitsmarkt. Beispiel Rente: Selbst wenn sich die im Aufbau befindliche Große Koalition auf die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einigen würde, droht vielen Menschen die Altersarmut [6]. Denn auch bei einem Stundenlohn von 8,50 Euro gibt es kein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung. Die Situation ist prekär, wenn auch wohl nicht für jede dramatische Schlagzeile geeignet.

Niedrige Löhne begründen weder einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, das zur Bestreitung des Lebensunterhalts reichen würde - noch auf eine Rente, die im Alter ein halbwegs auskömmliches Dasein ermöglichen könnte.

Kein Hartz-IV-Effekt auf Senkung der Arbeitslosigkeit?

Die drastische Senkung der Arbeitslosenquote gilt vielen Beobachtern als schlagender Beweis für den Erfolg einer der umstrittensten politischen Entscheidungen der letzten Jahre. Schließlich sei mit der Hartz-IV-Reform nicht nur Bewegung in den erstarrten Arbeitsmarkt gekommen, sondern außerdem eine starke Motivation geschaffen worden, sich so schnell wie möglich einen neuen Job zu suchen. Eben deshalb wurde die Arbeitslosenhilfe verringert und die Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld verkürzt.

Eine neue Studie [7] von Andrey Launov und Klaus Wälde, die im "International Economic Review" veröffentlicht wurde, sieht dagegen kaum positive Auswirkungen der Hartz-Reform auf die Absenkung der deutschen Arbeitslosenquote. Die Ökonomen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beziffern den Effekt auf "weniger als 0,1 Prozentpunkte" und begründen ihre These mit fehlenden Anreizen auf allen Seiten.

Für gut ausgebildete Arbeitnehmer sei die Lohnersatzleistung zu gering. Viele von ihnen hätten längst wieder einen Job, bevor sie auf Hartz IV zurückgreifen müssten. Für Geringqualifizierte, den aktuell größten Teil der Langzeitarbeitslosen, sei der Unterschied zwischen "vor Hartz IV" (Arbeitslosenhilfe) und "nach Hartz IV" (Arbeitslosengeld II) "oft zu gering, um sich tatsächlich auszuwirken".

Hartz IV hat nach Meinung der Mainzer Ökonomen also wenig gebracht. Hartz I bis III dafür umso mehr. Die Neuorganisation der Bundesanstalt sowie das Angebot von Jobcentern, identifizierbaren Kontaktpersonen und besseren Betreuungsrelationen habe die Arbeitslosigkeit in Deutschland um 1,3 bis 2 Prozentpunkte reduziert, so Launov und Wälde.

Auf verteilungspolitisch schwierige Bestandteile wie eine Reduktion der Lohnersatzleistungen kann dabei offenbar verzichtet werden.

Andrey Launov / Klaus Wälde

"Dauerhafte Exklusion aus dem Erwerbsleben"

Die Quote ist gesunken, doch im Oktober 2013 waren in Deutschland immer noch 2,8 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet [8]. Das Institut für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz hat in einer gerade veröffentlichten Studie [9] eine Gruppe von etwa 430.000 Menschen in die Kategorie "arbeitsmarktfern" einsortiert.

Es sei offenkundig, so schreiben die Autoren Tim Obermeier, Stefan Sell und Birte Tiedemann, "dass die Politik diese Personengruppe in den vergangenen Jahren schlichtweg 'vergessen' bzw. bewusst in Kauf genommen hat, dass es zu einer dauerhaften Exklusion dieser Menschen aus dem Erwerbsleben kommt."

Dass die Möglichkeiten einer öffentlich geförderten Beschäftigung im Wesentlichen auf Ein-Euro-Jobs reduziert wurden, habe die Lage zusätzlich verschärft.

Die Arbeitsmarktforscher fordern deshalb "ein Spektrum an ineinander greifenden Förderoptionen", das den "arbeitsmarktfernen" Erwachsenen (und den gut 300.000 in ihren Haushalten lebenden Kindern) wieder eine Teilhabeoption bietet. Auch und gerade Personen, die über lange Zeit einer öffentlich geförderten Beschäftigung nachgehen müssen, brauchten Angebote, die in den "Normalitätsrahmen unseres Arbeitsmarktes" passten.

Aber um dahin zu kommen, muss eine Grundsatzentscheidung getroffen werden: Wollen wir eine teilhabeorientierte Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik oder wollen wir den "harten Kern" der Langzeitarbeitslosen im passiven Transferleistungsbezug auf Dauer "stilllegen". Denn genau das wäre die "Alternative", die man offen aussprechen sollte.

Tim Obermeier/Stefan Sell/Birte Tiedemann: Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3362468

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsmarkt/Arbeitslosengeld/inhalt.html
[2] http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_3/index.html
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Nuremberg_Aerial_Bundesagentur_Arbeit.JPG
[4] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de
[5] http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV52_grafik_monat_11_2013.pdf
[6] http://www.deutsche-rentenversicherung.de/sid_44F19C236EF2670AE363351DD57734B9.cae03/Allgemein/de/Inhalt/4_Presse/infos_der_pressestelle/02_medieninformationen/01_pressemitteilungen/2013/2013_11_12_drv_widerspricht_bild.html
[7] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/iere.12032/full
[8] http://statistik.arbeitsagentur.de/
[9] http://www.rheinahrcampus.de/fileadmin/institute/ibus/Ibus_Team/Sozialpolitik_2013-14.pdf