Armageddon im Nahen Osten? Die Lage nach dem Tod von Hassan Nasrallah

Straßenszene im Jemen

Straße im Jemen mit Porträt des ermordeten Hisbollah-Anführers Hassan Nasrallah

(Bild: REPORT/Shutterstock.com)

Die Ermordung von Hassan Nasrallah ist ein Coup. Doch der Jubel könnte sich als Trugschluss erweisen. Zeit und Geld spielen eine Rolle.

Das unter jungen und jüngsten Menschen extrem populäre chinesische Social Media Format TikTok, eine Plattform, auf der man kurze Videofrequenzen teilen wie kommentieren kann, war der Schauplatz eines bizarren viralen Trends.

Kurz nach dem Bekanntwerden der israelischen Ermordung der Frontfigur der libanesischen "Partei Gottes" (arab. Hizbullah) – Hassan Nasrallah – geht ein Video online. Es zeigt augenscheinlich feiernde Menschen in einer Rooftop-Bar in Tel-Aviv – Hupkonzerte und Tanzeinlagen inklusive. Sie feiern ausgelassen den Tod eines Mannes, der nahezu drei Jahrzehnte an der Spitze des wichtigsten Verbündeten des Iran gestanden hatte.

Doch, wer war der Abkömmling einer Gemüsehändlergroßfamilie und – entscheidender – welche Konsequenzen hat sein Ableben?

Ironie der Geschichte

Nasrallah, der in den Wirren des libanesischen Bürgerkrieges aus Beirut vertrieben wird, studiert in den prägendsten schiitischen Gelehrtenstädten der heutigen Zeit – im irakischen Nadschaf und dem iranischen Qom. Ironie des Schicksals ist es, dass der gerade einmal 30-jährige Nasrallah, dessen Sohn Hadi 1997 durch die israelische Armee (IDF) getötet werden sollte, 1982 nur in die Pole-Position der Hisbollah gewählt wird, da sein Vorgänger Abbas al-Musawi (samt Frau und Kindern) durch einen gezielten Anschlag der israelischen Geheimdienste getötet wurde.

In diesen Tagen betrauern Hunderttausende weltweit sein Ableben – der Libanon verhängte drei, der Iran gar fünf Tage Staatstrauer.

In den anekdotischen Elogien der Schia wird Nasrallah als unsterblicher Märtyrer eingehen. Unsterblich, da er inmitten einer der dutzenden Krisen des multiethnischen Staates, Treibstoff aus dem Iran beschaffte, in den syrischen Bürgerkrieg eingriff, die Partei Gottes zu einem militärischen Gegenpol wie einer politisch-einflussreichen Klientelpartei ausbaute – er war zweifelsfrei der mächtigste Mann und die graue, stabilisierende Eminenz im zerbröckelnden Libanon.

Wie es Tobias Schneider, Analyst vom Berliner Thinktank "Global Public Policy"; ausdrückt: Nasrallah "hat die Hisbollah von einer Untergrundorganisation in eine libanesische Partei und regionale Militärmacht entwickelt, deren Einfluss bis in den Irak, Syrien und Jemen zu spüren" ist.

Seinen propagandistischen Heldenepos zieren unter seinen Anhängern insbesondere der Rückzug der bis dahin als unbesiegbar geltenden israelischen Armee aus dem Südlibanon 2000 sowie der Waffengang im Sommer 2006.

Getreu dem fünften Motto des schiitischen Islam – der Gerechtigkeit – baute Nasrallah die Hisbollah zu einem sozial-karitativen Ankerpunkt aus. Sie betreibt eigene Schulen, Friedhöfe, Krankenhäuser, Banken, einen Fernsehsender und ist in den schiitischen Armutsvierteln von Dahieh sowie im agrarischen Bekaa-Tal omnipräsent.

Nach mit Vorsicht zu genießenden US-Ermittlungen im Dea-Projekt "Cassandra" soll die Partei Gottes mit dem Umschlag und Handel von Kokain jährlich eine Milliarde Dollar verdient haben.

Offen wie ein Buch

Zweifellos stellt das Ableben von Hassan Nasrallah eine Zäsur dar – vergleichbar mit den Tötungen von General Soleimani oder Osama Bin Laden. Nach den Pager-Angriffen und den massiven Luftschlägen ist die Hisbollah zur Stunde führungslos. Mit dem Cousin von Nasrallah, Haschim Safi al-Din, steht in Person des Vorsitzenden des Exekutivrates ein potenzieller Nachfolger bereit.

Klar ist, dass alle Entscheidungen zu den kommenden taktischen Schritten eng mit Teheran koordiniert werden. Hierfür ist Al Din prädestiniert. Nicht vergessen werden sollte dreierlei: zum Ersten ist es ein teurer Fehler zu glauben, dass die Miliz durch das Abschlagen ihres Kopfes den Kampf einstellen würde – das Gegenteil könnte der Fall sein.

Aktuell und im Gegensatz zu Israel hat die Hisbollah "nur" 10 bis 20 Prozent ihres Waffen- und Raketenarsenals eingesetzt. Zum Anderen wiegt der Einschnitt im gesamten Libanon schwer. Jeder Sechste ist zurzeit auf der Binnenflucht, Infrastruktur, Versorgung und Bildung erodieren – im regenreichen und kalten Winter droht vergleichbar mit Gaza – der Kollaps.

Im traditionellen konfessionellen Proporzsystem droht ein neuer Bürgerkrieg, sofern innerlibanesische Kräfte eine Schwäche der Hisbollah wittern sollten. In einem taumelden Staat droht ein Orientierungspunkt mehr verloren zu gehen, dies dürfte Extremisten jedweder Couleur Auftrieb geben und Israel einmal mehr auf die Liste der Anschlagsziele nach Oben katapultieren.

Zum Letzten: erstaunlich ist, dass Israel scheinbar mühelos gewichtige Schläge gegen die Hisbollah gelungen sind. Es riecht nach Verrat. Nasrallah lebte an einem unbekannten Ort, trat selten öffentlich auf und ließ sich selbst bei seinen Getreuen auschließlich per Videoschaltung blicken.

Zudem konnten die weite Mehrheit der Hisbollah-Raketen – Marke Eigenbau oder iranische Fabrikation – abgefangen werden. Ziele wurden geortet, Nachrichten wurden mitgelesen – die Hisbollah war ein offenes Buch und bisher ein leichtes Opfer.

180 Antworten und der Zahn der Zeit

Die Gretchenfrage blieb, wie Teheran auf die Tötung der Nummer zwei hinter Revolutionsführer Ayjatollah Ali Khamenei reagieren würde. Die Antwort kam in Form von 180, erstmalig auch Hyperschall-, Raketen – Iron Dome und Arrow erledigten ihre Pflichtaufgaben, eine Stunde dauerte der Spuk bis zur Entwarnung und es kam genau zu einem Toten. Aus iranischer Sicht ausgerechnet ein Palästinenser, der in Jericho von herabfallenden Raketenteilen erschlagen wurde.

Von Vergeltung und Abschreckung, wie in den vielbeschworenen Wut-Predigten der Mullahs gepriesen, konnte somit keine Rede sein. Innenpolitisch steht der Iran unter Druck – Wirtschaft und Lebensstandard sind auf Talfahrt, Proteste drohen. Außenpolitisch will man lieber ein neues Atomabkommen und berechnet kühl, dass ein militärischer Konflikt keine Aussicht auf Erfolg haben würde.

Und Israel? Die extrem-rechte kahanistische Regierung fordert Vergeltung für den Angriff durch den Iran – an ein Ende ihrer Aktionen in Gaza, dem Westjordanland oder dem illegalen Siedlungsbau denkt sie nicht. Frieden ein Fremdwort.

Dies verwundert kaum: in der bestehenden Regierung zwischen Likud (deut. "Konsolidierung") und unter anderem Otzma Jehudit (deut. "Jüdische Stärke") geben als Machtbasis Siedlerbewegung, Militärs und – nach Angaben von Michael Lüders – Mittelschichtangehörige der Sephardim (Israelis nicht-westlicher Herkunft) den Ton an.

Der Likud von Präsident Netanjahu ging über die Cherut aus dem politischen Arm der Miliz Irgun hervor. Die Irgun löste exemplarisch das Massaker von Deir Yassin am 09. April 1948 aus – diesem fielen 150 palästinensische Frauen und Kinder zum Opfer, es gab Vergewaltigungen und Plünderungen – das Dorf wurde dem Erdboden gleichgemacht, der Auftakt der im Arabischen als al-Nakba (der Katastrophe) bezeichneten Verteibung des palästinensischen Volkes.

Die kahanistische Otzma Jehudit verfolgt den politischen Abzweig einer zutiefst rassistischen und bisweilen gar terroristischen Ideologie des Jewish-Defense-League Gründer Meir Kahane.

Doch es gibt einen Faktor, der nachdenklich macht: das Geld. Nach vorsichtigen Schätzungen kostet der Krieg jeden Tag 220 Millionen US-Dollar.

Bis heute wären dies somit gigantische 87 Milliarden. Auf der anderen Seite verliert der Staat massiv Einnahmen – der Tourismus ist zusammengebrochen, 200.000 IDF-Soldaten fehlen in der Produktion und müssen staatlich alimentiert werden, die israelischen Gasfelder im Mittelmeer mussten temporär heruntergefahren werden, der Rückgriff auf "billige" palästinensische Arbeitskräfte kam zum Erliegen – die Bank of Israel sagt eine Schrumpfung der Wirtschaft voraus und die Kosten für Waffenkäufe explodieren.

Die USA wollen – inmitten des Wahlkampfes – kein gigantisches Armageddon im Nahen Osten. Spielen jedoch mit gezinkten Karten: sie liefern brav allerlei Gerätschaften an Israel, während Biden Frieden predigt.