Atomkrieg-Alarm: "Gefährlichster Mann Amerikas" über gefährlichste Waffe der Welt

Plakat zum Dokumentarfilm "The Most Dangerous Man in America" und Atompilz nach US-Atomwaffentest auf dem Eniwetok-Atoll der Marshall-Inseln 1952. Bild 1: Steve Rhodes / CC BY-NC-ND 2.0; Bild 2: US Government / CC BY-NC 2.0.

Kissinger fürchtete ihn wegen der Pentagon-Papiere. In Ellsbergs Safe lagerte eine noch explosivere Wahrheit. Über die nukleare Eskalation mit Russland.

1971 kommt Daniel Ellsberg, ein führender Vietnamkriegsstratege im Pentagon, zu dem Schluss, dass die Rolle Amerikas in dem Krieg auf jahrzehntelangen Lügen beruht. Er kopiert 7.000 Seiten streng geheimer Dokumente und gibt sie an die New York Times und dann an die Washington Post weiter.

Ein riskanter Gewissensakt, der direkt zur Watergate-Affäre, dem Rücktritt von Präsident Nixon und dem Ende des Vietnamkriegs führt – sowie zu einem Urteil des Obersten Gerichtshofs, das die Pressefreiheit erweitert.

Nachdem die Times im Juni 1971 mit der Veröffentlichung der "Pentagon Papers" begonnen hatte, erklärte der nationale Sicherheitsberater Henry Kissinger seinen Mitarbeitern, Ellsberg sei "der gefährlichste Mann in Amerika, der um jeden Preis aufgehalten werden muss".

Doch der Versuch, Ellsberg lebenslang hinter Gitter zu bringen, scheiterte. Seitdem ist der "gefährlichste Mann Amerikas" zu einem prominenten Kritiker und wohl dem bedeutsamsten Whistleblower der US-Politik im 20. Jahrhundert geworden.

Er hat viele Bewegungen und Whistleblower nach ihm wie Chelsea Manning und Julian Assange inspiriert, die er öffentlich verteidigt bzw. für deren Freilassung er sich einsetzt (Er forderte den Supreme Court sogar jüngst auf, auch ihn wie Assange zu verklagen, weil er ebenfalls die Manning-Leaks besessen habe).

Und er opponiert seit Jahrzehnten gegen Pläne, an denen er vormals beteiligt war. Ellsberg landete wegen zivilen Ungehorsamsaktionen gegen US-Kriege über 80 Mal im Gefängnis.

Gerade ist er 92 Jahre alt geworden und gab bekannt, dass er laut Ärztediagnose wegen eines inoperablen Bauchspeicheldrüsenkrebses nur noch drei bis sechs Monate zu leben habe. Auf seine heiter-lakonische Art schrieb er:

Wie ich gerade meinem Sohn Robert gesagt habe: Er weiß doch (als mein Redakteur), dass ich besser unter Zeitdruck arbeite. Nun stellt sich heraus, dass ich auch besser unter einer Deadline lebe!

Seitdem gibt er zahlreiche Interviews und nimmt an vielen Webinaren teil. Diese Woche haben die Organisationen RootsAction Education Fund zusammen mit der Ellsberg Initiatve for Peace and Democracy eine Daniel Ellsberg Week ins Leben gerufen, um sein Lebenswerk zu würdigen.

Auch eine Podcast-Serie mit dem Titel "The Defuse Nuclear War Podcast with Daniel Ellsberg" ("Der Atomkriegs-Entschärfungs-Podcast mit Daniel Ellsberg") wurde dafür erstellt. Die Regisseurin des Podcasts ist Judith Ehrlich, die bereits 2009 den Dokumentarfilm "The Most Dangerous Man in America: Daniel Ellsberg and the Pentagon Papers" veröffentlichte, der für einen Oscar nominiert wurde.

Darin schildert Ellsberg eindrücklich, wie "die Atomkriegsplaner, zu denen ich gehörte, Pläne entwarfen, um Milliarden von Menschen zu töten". Er bezeichnet es als "eine Verschwörung, um Omnizid zu begehen, oder quasi Omnizid, also den Tod aller". Er fragt uns:

Kann die Menschheit das Atomzeitalter überleben? Wir wissen es nicht. Ich habe mich dafür entschieden, so zu handeln, als hätten wir eine Chance.

Tatsächlich sind die Pentagon Papers, die Ellsberg leakte, weniger explosiv als die Dokumente, die er in seinem Safe aufbewahrte. Darin geht es um Pläne für einen nuklearen Super-Holocaust.

2017 veröffentlichte er ein Buch darüber: "The Doomsday Machine: Confessions of a Nuclear War Planner" ("Die Weltuntergangsmaschine: Bekenntnisse eines Nuklearkriegsplaners"). Es geht darin um die First-Strike-Pläne der USA gegen die Sowjetunion und auch China. Pläne, die unter US-Präsident Eisenhower entworfen wurden, von Ellsberg dann weiterentwickelt werden sollten und bis heute Gültigkeit besitzen.

Danach sollen bei einem Erstschlagszenario 25.000 Städte allein in Russland und alle Städte in China thermonuklear bombardiert werden. Bis heute seien Hunderte nuklearer Waffen gegen Moskau gerichtet, so Ellsberg.

Die Berechnungen zu den Folgen eines Atomkriegs der Doomsday-Pläne, die Ellsberg selbst in Auftrag gab, sind erschütternd: 325 Millionen Tote allein in Russland und China, 100 Millionen in Osteuropa, 100 Millionen in weiteren neutralen Staaten wie Österreich und Finnland, Afghanistan oder Japan.

Nukleares Doomsday-Szenario mit Russland: Über eine Milliarde Tote

Insgesamt also eine direkte Opferzahl von rund 600 Millionen Menschen – umgerechnet hundert Holocausts auf einen Schlag. Man sollte dabei bedenken: Damals, in den 1960er-Jahren, als die Berechnung erstellt wurde, umfasste die Weltbevölkerung lediglich drei Milliarden Menschen.

Aber das sei noch eine Unterschätzung der Folgen, sagt Ellsberg. So wären die Effekte von Feuer und Rauch, inklusive eines "nuklearen Winters", nicht einbezogen worden, weil diese Auswirkungen schwer kalkulierbar seien. Sie richteten jedoch in einem thermonuklearen Krieg den größten Schaden an.

Die Zahl wäre damals also weit über eine Milliarde gewesen, plus die sowjetischen Vergeltungsmaßnahmen gegen Europa. Wir sprechen also von über einer Milliarde Menschen, einem Drittel der damaligen Weltbevölkerung.

Das Doomsday-Szenario, betont Ellsberg, sei keineswegs eine irreale Spielerei. Nicht nur in der Kuba-Krise, sondern später immer wieder, sei ein Atomschlag nur um Haaresbreite, letztlich durch Glück oder individuelle Blockaden in den Befehlsketten, verhindert worden – wovon die breitere Öffentlichkeit aber fast nichts mitbekommt.

Ellsberg hat in den letzten Jahren auf die zunehmenden Gefahren eines Atomkriegs hingewiesen. So soll der ehemalige US-Präsident Donald Trump in einem Treffen im Weißen Haus gegenüber dem damaligen Außenminister Rex Tillerson dreimal gesagt haben: "Wenn wir Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?"

Unter Trump erhöhten sich zugleich die Spannungen mit dem Nuklearstaat Nordkorea unter Kim Jong-un. Beide Staaten drohten einander mit ihren Atomwaffen. Ein Spiel mit dem Feuer, so Ellsberg in einem Interview 2017:

[Atomwaffen] werden von zwei Personen aufeinander gerichtet, die sehr überzeugend vorgeben, verrückt zu sein. Das ist gefährlich. Ich hoffe, sie tun nur so. … Mit Atomwaffen vorzugeben, man sei verrückt, ist riskant. Es ist ein gefährliches Angsthasen-Spiel.

Donald Trump stieg zudem aus dem Nukleardeal mit dem Iran aus, was die atomare Krise im Nahen Osten wieder anheizte. Angesichts der wenig verschlüsselten Drohungen Russlands, im Ukraine-Krieg taktische Atomwaffen einzusetzen, habe die Situation sich zudem weiter verschärft. Die Bedrohung sei nun so groß wie zu keiner Zeit nach der Kuba-Krise.

Und das liegt vor allem daran, dass es jetzt abschussbereite Atombomben mit Interkontinentalraketen auf beiden Seiten gibt. Und Putin spricht von einem taktischen Einsatz kleiner Atomwaffen, was mit ziemlicher Sicherheit eskalieren würde.

Ein nukleares Pingpong würde am Ende alles menschliche Leben auslöschen.

Allein die USA haben weiter 400 Raketen in Zehn-Minuten-Alarmbereitschaft. Vom Befehl bis zum Start aus den Silos vergehen also nur wenige Minuten – ohne Rückrufmöglichkeit. In rund 30 Minuten würden sie ihre Ziele in Russland und China erreichen, so Ellsberg.

Der ehemalige Nuklearplaner im Pentagon mahnt, die Gefahr eines katastrophalen Atomkriegs sei nicht weiter hinnehmbar, wobei die Interkontinentalraketen das größte Risiko darstellen.

Der Verteidigungshaushalt sollte um mehr als die Hälfte gekürzt werden, anstatt ihn zu erhöhen, wobei mit den gefährlichsten Waffen, den Interkontinentalraketen, begonnen werden sollte.

Er fordert außerdem, dass sich die USA zu einer Politik des Verzichts auf einen atomaren Erstschlag verpflichten sollten.

Es sind die Worte eines unermüdlich für eine bessere, sichere und friedliche Welt kämpfenden Mannes, der uns in Zukunft mit seinen Einsichten, seiner Kritik und seinem Engagement fehlen wird.

Sie haben die Möglichkeit, ihm noch einmal im Rahmen der Daniel Ellsberg Week hier zuzuhören.