Auch ohne Neun-Euro-Ticket: Bahn-Boom überfordert Österreich
Ruhe vor dem Sturm bei den Österreichischen Bundesbahnen. Bild: Liberaler Humanist, CC-BY-SA-4.0
Was gutes Zureden nicht vermochte, kommt nun dank hoher Spritpreise: Österreich steigt auf den Zug um. Die Bundesbahnen sind aber nur bedingt vorbereitet
Sabine Stock, Mitglied des Vorstands der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), versprach vor wenigen Tagen dem Land: "Wir werden besser bei der Prognose." [1] Vermutlich wird sogar ein Kalender angeschafft. Leidgeprüfte Kunden der ÖBB hatten traditionell vor Festtagen in den hoffnungslos überfüllten Zügen stets das gleiche Thema: Wurden auch in diesem Jahr die ÖBB wieder von Weihnachten eiskalt erwischt oder von Pfingsten überrascht?
Im Grunde müsste es leicht vorhersagbar sein, wann sich viele Menschen aufmachen, um in die Ferien oder den Kurzurlaub zu fahren und es müsste an diesen Tagen eben entsprechende Kapazitätserweiterungen geben. Davon war wenig zu spüren. Es gehörte zur Festtagsfolklore des Bahnfahrens vor Feiertagen im Gang zu stehen.
Mit dem Ukraine-Krieg und der dadurch rasend sich verstärkenden Teuerung und insbesondere der Spritkosten, wurde das Bahnfahren im Fernverkehr attraktiver als je zuvor. Vor dem reisestarken verlängerten Wochenende an Christi Himmelfahrt hatte sich die Situation zugespitzt wie noch nie. Security-Mitarbeiter ließen an den Wiener Bahnhöfen nur mehr Menschen mit Reservierung zum Zug.
Besonders überfüllte Züge mussten aus Sicherheitsgründen geräumt werden, weil es den Zugbegleitern nicht mehr möglich war durch die Gänge zu gehen und die Mitarbeiter hätten in einem Notfall keine Durchsagen mehr machen können.
Die ÖBB bemühten sich dem anbahnenden PR-Desaster zuvorzukommen. Selbstverständlich wäre niemand einfach aus dem Zug geworfen worden, für alle Bahnkunden gab es ein Mobilitätsangebot und alle Reisenden seien – auf Umwegen und mit frustrierender Verzögerung zwar – an ihr Ziel gebracht worden.
Kurz war eine Reservierungspflicht in Diskussion, die wird aber, so versichert das Unternehmen, auch weiterhin nur in Nachtzügen gelten. Man wolle unbedingt auch für Spontanreisende da sein. Sich erst anmelden zu müssen, um Zug zu fahren, scheint wenig hilfreich und könnte letztlich die neue Lust an der Schiene bremsen.
Woher kommen die Schwierigkeiten?
Die Probleme im Fernverkehr zeigen sich ähnlich im Nahverkehr. Hier hatte die grüne Verkehrsministerin Leonore Gewessler mit der Einführung des sogenannten "Klimatickets". Ein bedeutendes ökologisches Leuchtturmprojekt umgesetzt. Eine Jahreskarte, die für 1.095 Euro die Nutzung sämtlicher öffentlicher Verkehrsmittel erlaubt. Bereits über 160.000 Personen haben das Ticket in Österreich erworben, 5.000 kommen jeden Monat hinzu. Die möchten damit dann natürlich auch fahren.
Gerade aus der autofreundlichen, konservativen Hälfte Österreichs kam viel Kritik an der Ministerin, die ja offenkundig nicht genügend Kapazitäten geschaffen habe, um dem Ansturm gerecht zu werden. Sogar Rücktrittsforderungen wurden laut. Der Vorwurf ist ein wenig widersinnig, schließlich hätte die Frau Ministerin beim Bahnausbau gerne können wollen, nur dürfen hat man sie nicht lassen.
Der staatliche Aktienkonzern ÖBB ist selbst nur bedingt ein Verbündeter der eigenen Ministerin. Einerseits verweist der Vorstand der ÖBB-Personenverkehr AG und für den Einsatz der Zugflotte zuständige Klaus Garstenauer auf die heute überall vorhandenen Probleme. Den "absoluten Rekordzahlen" können nicht so leicht begegnet werden, weil die hohen Energie- und Rohstoffpreise und die schwierige Suche nach Personal eine zügige Mobilitätswende erschweren.
Vorstandmitglied Sabine Stock führt aber noch einen weiteren Grund an, der sehr tief in die innere Ausrichtung der ÖBB blicken lässt. Wenn an auslastungsstarken Tagen jeder einen Sitzplatz bekäme, dann stünden die Züge an anderen Tagen unnütz herum und dies sei dem "Steuerzahler nicht darstellbar".
Ein lupenreines neoliberales Argument, das die ÖBB genau dahin geführt hat, wo sie sich heute befinden. Der Sinn der Bundesbahnen liegt seit Jahrzehnten nicht im möglichst komfortablen und sicheren Transport von möglichst vielen Menschen, sondern in der möglichst großen Einsparung an Steuergeldern. Die wird politisch gelobt und belohnt.
Personenverkehr ist aber kaum jemals gewinnbringend. Er ist etwas, das sich eine Gesellschaft leisten muss. Sie kann sich dann auch entscheiden, ob sie dies ökologisch und beispielsweise auch nervenschonend ihren Mitgliedern ermöglicht oder eben nicht. Der Theologe und Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy meinte, der "Himmel auf Erde" sei leicht zu erreichen, indem alle eine Gesundheitsversicherung haben und es ein Bahnnetz gibt, mit dem jeder Ort günstig zu erreichen ist. Und das kostet eben etwas.
Hehre Ziele dieser Art haben die ÖBB – sofern je gehegt – bereits lange abgelegt. Im Grunde sind die Österreichischen Bundesbahnen in eine "Immobiliengesellschaft" umgebaut worden, die selbst nicht mehr an eine Mobilitätswende hin zur Schiene geglaubt hat. Bahnland wurde verkauft, Strecken eingestellt und Frachtverpflichtungen von der Schiene auf den LKW umgeleitet, weil sonst einfach nicht mehr rentabel.
Österreich: Bahn glaubte nicht an Erfolg der eigenen Branche
Ein Blick auf den vor knapp zehn Jahren neu errichteten Wiener Hauptbahnhof macht dies sinnbildlich. Wien war einst umringt von unpraktischen Kopfbahnhöfen, wohl weil die Habsburger im 19. Jahrhundert die Eisenbahn für eine vorübergehende Modeerscheinung hielten und die Innenstadt nicht verschandeln wollten.
Der Süd- und Ostbahnhof lagen in einem Wiener Außenbezirk unmittelbar nebeneinander und wurden zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einem, um eine leichte Kurve geführten, Abzweigbahnhof zusammengeführt.
Eine grundsätzlich sehr sinnvolle Maßnahme. Allerdings wurden die Verkehrsflächen dabei drastisch reduziert und in Bauland umgewandelt. Heute ragen unmittelbar neben den Gleisen des neuen Hauptbahnhofs Hochhäuser in die Höhe.
Der Bahnhof ist, wie Österreichs umstrittenster Verkehrsexperte, Hermann Knoflacher zu dessen Eröffnung konstatierte, schlicht zu klein für zukünftige Aufgaben dimensioniert. Weil nicht anzunehmen ist, dass die Hochhäuser eines Tages für Gleiserweiterungen zur Seite treten werden, ist ein Kapazitätsausbau weitgehend ausgeschlossen.
Die ÖBB gossen damit gewissermaßen in Beton, dass sie selbst nicht an einen Zuwachs des Bahnverkehrs glauben, aber sehr gerne die Einmaleffekte verkauften Baulandes und eigener Immobilienentwicklungen in ihren Bilanzen vermerken.
Sicherlich ist die computergestützte Logistik des 21. Jahrhunderts effizienter als jene aus Habsburger-Zeiten. Aber irgendwann braucht das Mobilitätswende-Wachstum auch physischen Platz und der wurde und wird allerorten in Österreich verkauft.
Statt an Konzepten zu arbeiten, wie möglichst viel Waren- und Personenverkehr auf der Schiene abgewickelt werden könnte, zogen sich die Bundesbahnen insbesondere mit ihren Frachtbahnhöfen nobel aus der Innenstadtnähe zurück und ließen dort gewinnbringend Immobilien entwickeln. So konnte der Konzern unmöglich auf die Mobilitätswende vorbereitet sein, an die er selbst nie geglaubt hat.
Die Frage nach der Rentabilität von Bahnstrecken ist möglicherweise an sich falsch. Denn nur wenn auch wenig ausgelastete Strecken bedient werden, kommt das Mobilitätsangebot der Schiene auch auf dem Land an. Dieses Bewusstsein ist noch unterentwickelt.
Selbst in der Metropole Wien, die bereits einen recht ansehnlichen Modal Split hat, bezeichnet der Bürgermeister Michael Ludwig beim Streit um den Lobautunnel [2] den Ausbau von Autostraßen als entscheidend für die "Lebensqualität" der Menschen in Wien. Subtext: "Bahnfahren ist eher Notlösung".
Diese Sichtweise gilt wohl immer noch für die meisten Politiker in Österreich. Eine Mobilitätswende ist so kaum zu machen. Diejenigen, die jetzt umsteigen, werden frustriert durch überfüllte Züge, zu wenige Verbindungen und bald wohl auch durch die Preissteigerungen mit Beginn des Winterfahrplans. Eine Gesellschaft, die den Umstieg will, muss sich allerdings klar werden, dass dies etwas kostet.
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