Auf lange Sicht schädlich: Nato-Beitritt Finnland und Schweden
Sie brauchen den Schutz nicht, aber es wird der Sargnagel für die europäische Selbständigkeit und die künftigen Beziehungen zu Russland sein
Der erwartete Antrag Finnlands und Schwedens auf Beitritt zur Nato birgt eine traurige und ziemlich erbärmliche Ironie in sich.
Während des Kalten Krieges war die Sowjetunion eine militärische Supermacht, sie besetzte den größten Teil Mitteleuropas, ihre Truppen waren im Herzen Deutschlands stationiert, und der Sowjetkommunismus schien – zumindest eine Zeit lang – eine echte Bedrohung für die westliche kapitalistische Demokratie zu sein. Während dieser Jahrzehnte blieben Finnland und Schweden jedoch offiziell neutral.
Im Fall Finnland war die Neutralität eine Bedingung des Vertrages mit Moskau, der die Kriege mit der UdSSR beendete. Im Fall Schweden kann man sagen, dass es große praktische Vorteile hatte, sich unter Amerikas Sicherheitsschirm zu befinden, ohne dafür einen Beitrag leisten oder ein Risiko eingehen zu müssen.
Es hatte auch psychologische Vorteile, diesen de facto Schutz der USA zu genießen und gleichzeitig bei jeder Gelegenheit die vermeintliche moralische Überlegenheit Schwedens gegenüber dem imperialistischen und rassistischen Amerika zur Schau stellen zu können.
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich Russland über 1.500 Kilometer nach Osten zurückgezogen, während die Nato und die EU massiv expandierten. Heute sind Russlands Bodentruppen dabei, in der Ukraine zu beweisen, dass sie nicht in der Lage sind, eine ernsthafte Bedrohung für die Nato oder Skandinavien darzustellen.
Das haben sie auch früher nicht wirklich getan. Um nach Schweden zu gelangen, müsste Russland entweder Finnland oder die Ostsee überqueren. Und sowohl während als auch nach dem Kalten Krieg hat Moskau Finnland nie bedroht. Die Sowjetunion hielt sich strikt an die Bedingungen des Vertrags mit Finnland. Sie zog sich sogar aus einem Militärstützpunkt in Finnland zurück, den sie laut Vertrag noch vierzig Jahre lang hätte halten können.
Ein Grund dafür war, dass der heldenhafte Kampf Finnlands gegen die sowjetische Armee Moskaus davon überzeugt hatte, dass Finnland - ähnlich wie die Ukraine (aber im Gegensatz zu Schweden) - eine zu harte Nuss war, um sie zu zerschlagen. Das ist es immer noch, und das würde es auch ohne Nato-Mitgliedschaft bleiben, weil die Finnen – wie die Ukraine – entschlossen sind, ihr Land zu verteidigen.
Es gab überhaupt keinen Grund zu der Annahme, dass Russland diese Politik ändern und Finnland angreifen würde. Sosehr man den russischen Einmarsch in der Ukraine und die damit verbundenen Gräueltaten auch verurteilen muss – der Angriff auf die Ukraine war hingegen keineswegs überraschend.
Seit Beginn der Nato-Erweiterung in den 1990er-Jahren haben sowohl russische Stellen als auch eine Reihe westlicher Experten – darunter drei ehemalige US-Botschafter in Moskau und der derzeitige Leiter der CIA – davor gewarnt, dass die Aussicht auf einen Beitritt der Ukraine zu einem antirussischen Bündnis wahrscheinlich einen Krieg auslösen würde.
Ein "lahmendes, ehrloses Gefolge": Wie Europa seine Selbständigkeit einbüßt
Die Nato-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands ist daher für ihre Sicherheit nicht erforderlich. Sie bringen selbst auch nichts in die Nato ein. Sollte der Krieg in der Ukraine – Gott bewahre – zu einer Eskalation des Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und Russland führen, werden sie in jedem Fall an der Seitenlinie stehen.
Was das Engagement der Nato außerhalb Europas betrifft, so ist einer der Gründe, warum die europäischen Nato-Mitglieder die neue Konfrontation mit Russland so begeistert aufgenommen haben, der, dass sie dadurch einen Vorwand haben, um die Entsendung von Truppen in Gebiete (wie Westafrika) zu vermeiden, in denen sie möglicherweise tatsächlich kämpfen und sterben müssen und wo die Bedrohung durch islamistischen Extremismus und Massenmigration eine echte Gefahr für die innere Sicherheit Europas und Skandinaviens darstellt.
Mit dem Nato-Beitritt wirft Finnland jede noch so kleine Möglichkeit weg, eine Vermittlerrolle zwischen Russland und dem Westen zu spielen, nicht nur, um zur Beendigung des Krieges in der Ukraine beizutragen, sondern auch, um irgendwann in der Zukunft eine umfassendere Aussöhnung zu fördern. Stattdessen wird Finnland den letzten Abschnitt einer neuen Grenze aus dem Kalten Krieg quer durch Europa fertigstellen, die wahrscheinlich jedes Regime überdauern wird, das schließlich auf das von Putin in Russland folgt.
Der Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato kann auch als der symbolische Moment angesehen werden, in dem die europäischen Staaten insgesamt jeden Traum von der Übernahme von Verantwortung für ihren eigenen Kontinent aufgegeben und sich mit der völligen Abhängigkeit von Washington abgefunden haben.
Diese Abhängigkeit wird jedoch (wie bei Schweden während des Kalten Krieges) zweifellos durch ohnmächtiges europäisches Jammern und Knurren überdeckt werden, wenn ein neuer Präsident à la Trump nicht einmal mehr vorgibt, höflich und diplomatisch zu sein.
Der ehemalige finnische Ministerpräsident Alexander Stubb schrieb am Ende eines Kommentars in der Financial Times, der voller bitterer antirussischer Gefühle war (die zum Teil auf einer äußerst ungenügenden Kenntnis der Fakten beruhen):
Sicherheit ist kein Nullsummenspiel. Ich hoffe, dass auch das russische Regime das eines Tages begreifen wird. Es wird uns ermöglichen, wieder gute Beziehungen zu Russland aufzubauen. In der Zwischenzeit werden wir durch unseren Beitritt zur Nato dazu beitragen, die Sicherheit in Europa zu maximieren. Das ist nicht gegen jemanden, sondern für uns. Für uns alle.
Es ist dieselbe selbstgefällige Heuchelei, die die westliche Politik gegenüber Russland und die US-Politik gegenüber dem größten Teil der Welt durchzieht. Seit dem Ende des Kalten Krieges war die Politik der USA und der Nato gegenüber Russland in der Tat überwiegend ein Nullsummenspiel, und die europäischen Länder sind gehorsam hinterhergehinkt.
Finnland wird sich nun diesem lahmenden, ehrlosen Gefolge anschließen. Es ist unwahrscheinlich, dass die guten Beziehungen zu Russland jemals wiederhergestellt werden, egal welches Regime in Moskau an die Macht kommt.
Andererseits könnte die vollständige Verdrängung Russlands aus den europäischen Strukturen – lange schon das unverhohlene Ziel Amerikas und der Nato – das Land auf längere Sicht in eine völlige strategische Abhängigkeit von China bringen und die chinesische Supermacht bis an die östlichen Grenzen Europas heranführen. Das wäre eine ironische, aber nicht unverdiente Belohnung für die strategische Dummheit der Europäer. Man könnte es sogar amüsant finden – wenn man kein Europäer wäre.
Der Artikel von Anatol Lieven findet sich im englischen Original auf Responsible Statecraft. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "The Baltic Revolutions: Estland, Lettland, Litauen und der Weg zur Unabhängigkeit" und "Ukraine und Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).