Aufgeklärte Bürger brauchen das Fernsehen nicht mehr
Abschied vom Fernsehen? Warum dieses Medium niemand mehr braucht: Eine kritische Zwischenbilanz (Teil 3 und Schluss).
Nicht wegen einer der angeführten Tendenzen, sondern wegen ihrer Kombination, die sich mittels der jüngsten Krisenphasen wie Covid-19 und Russlands Ukraine-Krieg verstärkt hat, ist das Fernsehen selbst zum Krisen- oder gar Auslaufmodell geworden – sei es nun gezwungenermaßen oder selbst gewählt.
Vor diesen Hintergründen, die, wie zuvor erwähnt, nur eine Auswahl an Belangvollem erfassen, muss entweder das Fernsehen in der Verschmelzung mit dem Internet reformiert werden, oder aber der neuen, radikalen Pluralität im Internet weichen.
Diese Pluralität sollte dann ihrerseits aber nicht durch neue "Wahrheitsministerien" – wie etwa den in den USA unter Präsident Joe Biden geplanten und im August 2022 gescheiterten "Disinformation Governance Board" – beschnitten werden. Sie sollte stattdessen für offene Entfaltung freigegeben werden, und zwar trotz aller Probleme, die einer fortgeschritteneren kybernetischen Ebene entsprechen.
Natürlich sind dieser Probleme viele. Dass es mittlerweile faktisch fünf verschiedene statt – wie lange erträumt – nur ein universales Internet gibt, die sich grundlegend voneinander unterscheiden und auch voneinander abkoppeln können: das chinesische, das russische, das Silikon Valley libertäre, das Washington businessorientierte und das EU-privatistisch-bürokratische (oder bourgeoise) Internet, macht zwar das ehemalige "Internet" zum "Splinternet", erhöht aber zugleich dessen Komplexität und Vielgestaltigkeit weiter.
Diese Entwicklung stellt sicher, dass die Debatte über die Zukunft des Fernsehens in einer multipolareren Welt auch künftig an die Diskussion über die Zukunft des Internet gekoppelt bleiben wird.
Überlebensnischen: Regionale statt nationale Formate?
Bei alledem wäre zu guter Letzt allerdings zu differenzieren zwischen nationalen, regionalen und lokalen Formaten. Die regionalen und lokalen Formate erfüllen die Funktion eines Umgebungsradars und einer Feuerwehrstation im Dienst eines Situationsbewusstseins: einer flock awareness der eigenen Situation.
Lokale Formate sind üblicherweise zu einem erheblich geringeren Grad ideologisiert, weil sie sehr direkt und faktisch das wiedergeben müssen, was die Bürger selbst sehen. Sie müssen sich deshalb eng an die Phänomene halten – und können diese wenig mit großen Erzählungen durchsetzen, was landesweite Formate im nationalen Bereich etwa in den USA mittlerweile fast durchgängig tun.
Lokale Anstalten können die Fakten kaum selektieren oder mittels Narrativen indirekt modifizieren. Lokales und regionales Fernsehen sind deshalb oft näher an den Bürgern, was der Grund dafür ist, dass es in den USA das höchste Vertrauen unter den Fernsehangeboten genießt.
Europa könnte bei fortschreitender Polarisierung und Ideologisierung der Information in den kommenden Jahren in eine ähnliche Richtung gehen. Vielleicht haben deshalb lokale und regionale Stationen in Zukunft eine größere Überlebenschance als das sogenannte "große Fernsehen".
Einschlafen vor dem Fernseher, oder: Einweg-Maschinen-Tristesse
Im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte präsentiert sich das Fernsehen im Vergleich zu fortgeschritteneren Medienformen allzu oft als eine armselige Einweg-Maschine, deren Angebote genauso kümmerlich erscheinen, wie sie das Leben der Zuschauer verödeten.
Ich kann mich an die durchaus prägende Trauer erinnern, als ich als junger Mann nach Hause kam – und meinen Vater schlafend vor dem Fernseher fand. Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Oder meine Mutter, die nach einer Sendung tief irritiert auf ihren großen Liebling Peter Alexander schimpfte: "So ein Blödsinn! Er sollte sich dafür schämen! Warum machen die das?"
Wahrscheinlich haben diese Erfahrungen meine Sicht auf das Fernsehen ungerecht geprägt: nämlich als Medium, das den Menschen die Lebenszeit raubt und sie in eine unwürdige Situation bringt, weil sie ihnen eine Zeit lang hypnoseähnlich das Selbst nimmt, sie vom Ich zum Nicht-Ich macht – für Stunden, die im Nachhinein meist wenig Sinn ergeben und die die Personen letztlich im existentiellen Nichts verbracht haben.
Das ist natürlich nicht das ganze Fernsehen. Denn dieses bietet auch Information, Welt-Blick und Welt-Veränderung durch Information. Der größere Teil des realen Konsums aber scheint heute eher Ich-fremde Unterhaltung zu sein – kaschiert durch Reality Shows, die suggerieren, die Brücke zwischen Realem und Fiktivem zu schlagen, oder durch "Können-Shows" (wie etwa DSDS oder GNTM), die in Wirklichkeit oft genug Freak-Selektionsshows sind, deren einzige Realität darin besteht, dass es um reale Personen geht.
Die Fernsehenden selbst übersehen diese Schattenseiten immer weniger. Sie übersehen immer weniger, dass es allzu viele Fernsehserien gibt, denen man anmerkt, dass sie tatsächlich von gelangweilten Angestellten geschrieben wurden, die von 9 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags ein Bürokratendasein führen und dabei den Sinn für die Realität verloren haben. Die Zeit für den Dreh ist schon vor Fertigstellung des Skripts festgelegt, das Budget dafür ausgegeben. Was kann dann die Qualität sein?
Die Fernsehenden übersehen zweitens immer weniger die breit ausstrahlende Ambivalenzkultur der Werbung: man soll sich gewöhnen an das Augenzwinkern der Halblüge und der sinnlosen Slogans. Wenn die Werbung sagt: "Der Morgen macht den Tag": Wer sagt das? Und was soll es bedeuten?
Die Fernsehenden übersehen drittens immer weniger die Quatschkultur, die es nicht einmal versucht, irgendetwas vorzubringen, sondern die nur Zeit ausfüllen, Zeit verbrauchen will, um sich mit Werbeschaltungen zu finanzieren. Auf Kosten der Zeit des Zusehenden, um deren Kommerzialisierung es in Wirklichkeit geht.
Und die Fernsehenden übersehen schließlich immer weniger den Kommerz, der im Fernsehen mittlerweile sehr vieles durchdringt – dem Geist nach auch im öffentlich-rechtlichen. Alles wird im Fernsehen verkauft: Kunst, Kleider, Schuhe, Küchengeräte, Sex, Gewalt, das Undenkbare und Andere. Überall dort, wo Fernsehen hart und real ist, ist es zum Gebrauchsmedium für utilitaristische Interessen geworden, die sich selbst oft als etwas anderes ausgeben, als sie sind.
Sicher scheint als Fazit dieser Aspekte: In einer Welt, in der sich Mobiltelefon-Applications jeden Tag mittels Updates ändern – und eben auf diese Weise geradezu Tag um Tag die Geschichte mitschreiben, ihre eigene und damit auch die "große" –, sollte "Fernsehpolitik" erkennen, dass ihre Selbstbefragung nun sowohl nach innen wie nach außen zu führen ist. Denn im Wesen des One-way-Mediums Fernsehen ist offenbar von Anfang an eine Zwangsdimension grundgelegt, die auch in seinen Grundmechanismen verankert ist.
Das Medium Fernsehen selbst erzeugt eine Aktiv-Passiv-Dichotomie: also ein unbewusstes Herr-Knecht-Verhältnis, das es gegenüber seinen Zusehern ständig erneuert, unabhängig von den einzelnen Inhalten. Wer diese Mechanismen nicht verändert, geht an einer der großen Herausforderungen unserer Zeit vorbei.
Das Fernsehen ist tot – es leben die Fernseher!
Vor diesen Hintergründen brauchen aufgeklärte Bürger das Fernsehen vielleicht inzwischen tatsächlich nicht mehr. Der Einzelne hat seine Alternativmedien, seine globalisierten Prothesen – oder wie sie Elon Musk nennt: seine "globalisierte Magie" – und seine eigene Handhabe.
Umgekehrt braucht aber auch das Fernsehen den Bürger als Individuum vielleicht nicht mehr, wenn es ihn denn je gebraucht hat. Je stärker der allgemeine Kulturtrend zur Individualisierung wird, desto mehr verschwinden Objektivität und News-Charakter, und desto mehr wird das Fernsehen zur Plattform von Beliebigkeit, die sich an niemand bestimmten mehr richtet.
Und damit konkurriert zu allem Überfluss die unablässige autoritäre Propaganda russischer und chinesischer Fake-News-Kanäle, die sich als westlich-"seriös" tarnen, aber rund um die Uhr nichts anderes wollen als mit "gefärbten" und zum Teil erfundenen "News" die Demokratien Europas und des Westens an sich selbst zweifeln lassen.
Demokratisches und autoritäres Fernsehen waren nie und sind bis heute nicht auf demselben Pfad – nicht einmal im Entferntesten. Auch zwischen ihnen wird in den kommenden Jahren ein "Kampf ums Fernsehen" toben. Es wird ein Kampf ums Ganze sein.
Wo liegt die Zukunft?
Das klassische Zeitalter des Fernsehens im 20. Jahrhundert war einfach gestrickt. Wahrscheinlich bleibt aus Sicht künftiger Generationen die Blütezeit des Fernsehens auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts begrenzt – eine letztlich kurze Zeitspanne.
Dass Politiker heute noch um Fernsehzeiten und Einschaltquoten kämpfen und die Bilderkultur eine Macht hat, die in einem demokratischen Gemeinwesen grenzwertig ist und ihr vor allem nicht gegenüber dem Wort zukommen sollte, ändert an der Übergangssituation des Mediums nichts. Ein Weg zurück ist nicht möglich – und auch nicht sinnvoll.
Wie immer in der Geschichte, wenn eine Technologie an das Ende ihres Zyklus kommt und sich die Signale mehren, dass sie in ihrer bisherigen Form bald an einen Übergangs- oder Endpunkt kommen könnte, leben Benutzer und Adressat weiter.
Der Schnittpunkt Technologie-Mensch verändert sich heute grundlegend, und das ist gut so. Dass man auch angeblich "integrierenden" Veränderungstrends wie dem Transhumanismus kritisch gegenüberstehen sollte – nämlich dem Bestreben zeitgenössischer "Zukunftsfiguren" mit Faust-Charakter wie Elon Musk, die menschlichen Körper und Geist, also Gehirn, Kommunikationstechnologie und Internet der Dinge, künftig aber auch Gehirn und Gehirne, mittels Neuralinks, also hoch entwickelten Gehirnimplantaten, miteinander direktverschalten wollen –, tut dem Trend zur technologischen und kulturellen Transzendierung des bisherigen "Fernsehens" keinen Abbruch.
Wenn die Nutzer den Schritt in eine – freilich rückhaltlos tiefenambivalente – "schöne neue Technologiewelt" weitergehen, bleibt Museales zurück – das im Vorgang seines Verblassens nur mehr glaubt, dass es noch real ist.
Roland Benedikter, geboren 1965, ist Soziologe und Politikwissenschaftler.