Aufruf zur Gewalt

Über die Plakataktion der CDU und die erkennungsdienstliche Behandlung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder

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Fahndungsphotographien sind es nicht, die die CDU auf ihren neuen Plakaten gegen die Rentenreform vom Bundeskanzler vorführt. Diese Bilder zitieren vielmehr die Form der photographischen Behandlung, die die Polizei seit gut einhundert Jahren allen Untersuchungshäftlingen zukommen lässt. Allerdings weichen die Bilder in Anordnung, Ausgangsmaterial und Beschriftung erheblich von der originalen 'erkennungsdienstlichen Behandlung' ab, was nur in einer einzigen Richtung interpretiert werden kann: Hier sollen einem gewählten Volksvertreter nicht nur die Legitimation, sondern gleich die 'bürgerlichen Ehrenrechte' auf körperliche Unversehrtheit und politisches Handeln abgesprochen werden. Im Klartext ist dies, wie Frau Schröder-Köpf noch am Abend des 23. Januar 2001 feststellte, ein Aufruf zur Gewalt an ihrem Mann.

1883 führte der Pariser Polizeichef Alphonse Bertillon die photographische Kartierung aller Untersuchungshäftlinge ein und ersann dafür gleich eine Aufnahmemethode: der Kopf des oder der Verdächtigen wurde in einer Reihe von Bildern en profil von rechts, en face und in Dreiviertel-Vorderansicht von links photographiert, alles unter diffusem Licht und ohne Teilnahme an der Person. Das linke Bild, die Profilansicht, enthielt zumeist ein Datenfeld zur Eintragung von Namen oder Kennziffern; später wurde dieses Feld sämtlichen Bildern beigegeben. Er selbst schrieb dazu:

"Für eine genaue und pünktliche Lösung genügt es, wenn man alle ästhetischen Rücksichten auf den Portraitierten beiseite setzt und nur den wissenschaftlichen und hauptsächlich polizeilichen Standpunkt ins Auge fasst."1

Bertillon ließ binnen einen Jahrzehnts rund 100.000 Verdächtige photographieren, er strebte damit eine Physiologie der Täterschaft an, die klar autoritär anti-demokratische und rassistische Züge trug, obendrein in engem Konnex zur forensischen Psychiatrie seiner Zeit stand.2

Viele Polizeichefs in allen Ländern taten es ihm nach, und die photographische Industrie beeilte sich, mit so genannten Polizei-Adaptern die technischen Voraussetzungen für eine schnelle und effektive Arbeit dieser Art bereit zu stellen. Die Verdächtigen hatten sich auf einen Stuhl mit Klemmvorrichtung für Kopf und Rücken zu setzen, wurden automatisch in die jeweilige Position gedreht, abgelichtet und weiter befördert. Für besonders renitente Menschen gab es zusätzliche Gurte, mit denen sie bis zur Bewegungslosigkeit fixiert werden konnten - eine weitere, veritable Form der Folter war ersonnen.

1919 führten die Behörden der französischen Besatzungszonen auf deutschem Boden die Pflicht ein, dass jeder Bürger sich jeder Zeit durch einen Lichtbildausweis identifizieren lassen muss, der das rechte Bild der üblichen Dreierreihe zu enthalten hat. Das Passbild war geboren; die Jahrhunderte alte Würdeform des Bildbesitzes war zur Legitimation des Identitätsnachweises über ein Bild pervertiert, bei der dem Bild eine höhere Glaubwürdigkeit beigemessen wurde als dem Angesicht des real vorhandenen Menschen.

Schon zu Zeiten der politischen Wirren rund um die deutschen Revolutionen der Jahre 1918/19 wurden die erkennungsdienstlichen Bildreihen für politische Zwecke genutzt, auch und gerade im Sinn einer Vorverurteilung durch Veröffentlichung. Wer auf Fahndungsplakaten mit derlei Bildern publiziert wurde, galt als gemeingefährlich. Oft wurde schon in den 1920er Jahren - wie in den 1970er Jahren wieder - vor den Abgebildeten gewarnt: "gefährlich, macht rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch" und dergleichen mehr.

Die nationalsozialistischen Machthaber hüteten sich davor, diese Bildreihen in die Propaganda einzubeziehen: Zu stark waren die Revolutionäre des Jahrzehnts zuvor in der Erinnerung weiter Bevölkerungskreise über diese Bilder als Märtyrer verankert. Umgekehrt sind bis heute zahlreiche Bücher über GegnerInnen des NS-Regimes mit diesen Bildern illustriert.3

Das Alles dürfte den MitarbeiterInnen der Agentur, die die Plakataktion für die CDU ersannen, weniger im Detail als kursorisch bekannt gewesen sein, denn sonst hätten sie nicht eine Reihe von Derivierungen zur ursprünglichen Bildform erdacht. Auffälligstes Merkmal ist der Unterschied in der Bildfolge: Nur das mittlere Bild, en face, stimmt mit der Bertillon-Bildreihe überein. Das linke Bild ist zwar eine Profilsicht, aber von links, und das rechte Bild ist nichts als die spiegelbildliche Kopie des linken Bildes. Natürlich sind beide Bilder nicht während eines erkennungsdienstlichen Vorganges erstellt worden - sicher auch nicht bei einem der üblichen Politikertermine zur Einweihung neuer Apparate dieser Art. Es handelt sich, gut erkennbar, um massiv überarbeitete bildjournalistische Portraits, wie sie bei Pressekonferenzen zu Hunderten entstehen; für die Profilansicht wurde zudem präzise ein Gesichtsausdruck ausgewählt, der deutliches Missfallen an der vermeintlichen Photoaktion vorführt.

Der Hintergrund ist nicht - wie bei polizeilichen Bildreihen seit 1883 üblich und seit 1975 für Passbilder erneut vorgeschrieben - weiß, sondern hellgrau abgespritzt; er zitiert damit die schlechte Drucktechnik amerikanischer Zeitschriften zwischen 1890 und 1910. Die weißen Schilder unter seinem Kopf sind nicht mit Namen oder Wörtern beschriftet, sondern mit Jahreszahlen in einer Schreibmaschinentype; sie stehen nicht direkt für Häftlingsnummern, sondern verweisen auf die Karikierung dieser Nummern in Disney-Comics, bei denen sich Bandenmitglieder (deutsch: "Panzerknacker") nur mit diesen Nummern anreden.

Gutmütig könnten diese Verschiebungen der Bedeutungsebenen im Bild als typische Sprachunfähigkeit des Stammtisch-Arguments ("... doch alles nur Scheiße was die machen...") interpretiert werden, und in ähnlicher Weise haben sich die CDU-PolitikerInnen Merkel und Meyer auch schon geäußert. Doch es steckt mehr dahinter, und wer den branchenüblichen Zynismus von Werbeagentur-Konzeptioneuren kennt, kann sich einen anderen Reim auf diese Shifts in der Konnotation der Bildform herstellen. Einerseits ist man in der Partei offensichtlich verärgert darüber, dass man seinen Argumenten gegen die grünen Minister Fischer und Trittin nicht durch echte Erkennungsdienstbilder dieser Art Nachdruck verleihen kann und muss von daher auf plumpe Fälschungen zurück greifen. Damit diese Plumpheit des Fälschens nicht ganz auf die AuftraggeberInnen abfärbt, werden leichte Veränderungen erdacht, die sich als Ironie deklarieren lassen. Der Verweis auf die Comic-Ikonologie ist ein deutlicher Zug in diese Richtung, allerdings derartig schlampig und schlecht ausgeführt, dass ihm die - für alle Ironie notwendige - Distanzierung fehlt.

Wahrscheinlich völlig unbewusst haben die MacherInnen von Plakat und Aktion jedoch ein archaisches Motiv in diese Bildform übertragen, die schon hinter Alphonse Bertillons Bemühungen stand: Wer derartig an den Pranger gestellt wird, ist im alten Sinn des Wortes vogelfrei, kann ohne Androhung von Strafe verletzt, gefoltert und getötet werden. Deutlicher Hinweis dafür ist die Bildunterkante der Aufnahme mitten durch den Hals, etwa auf der Höhe des Kehlkopfes - seit den steinzeitlichen Felszeichnungen klares Indiz für eine Tötungsabsicht. In der Kunstgeschichte ist die Vereinzelung des Kopfes wohl durch das Motiv des enthaupteten Johannes, der der Tänzerin Salomé vorgeführt wird, am geläufigsten. Es geht also einzig und allein um Gerhard Schröders Kopf; nicht um sein politisches Überleben - was ein legitimes Anliegen einer Oppositionspartei ist -, sondern um sein persönliches Überleben, um seine körperliche Integrität.

Mit der Rentenreform hat das Plakat nichts zu tun. In der Wahl seiner Mittel entspricht es jedoch dem gleichzeitig gekürten 'Unwort des Jahres' von der "national befreiten Zone". Wie der rechtsradikale Jargon sich ungerührt in einem rassistischen Mordaufruf der Verschiebung von gegebenen und an sich positiven Begriffen bedient, so werden hier die Bildmittel eines alltäglichen Vorgangs in der Verbrechensbekämpfung zu einem direkten und konkreten Aufruf zur Gewalt gegen die Person des Bundeskanzlers missbraucht. Was in den letzten Wochen alles den Ministern Fischer und Trittin vorgeworfen wurde, stellt sich gegen diese Verunglimpfung als absolut harmlos dar. Eine Plakataktion wie diese kann und wird einen rechtsradikalen Flächenbrand auslösen; mit den Statuten einer demokratischen Partei scheint mir diese Aktion völlig unvereinbar.

Nach scharfer Kritik auch aus der eigenen Partei will die CDU das umstrittene Plakat zur Rentenreform nicht mehr verwenden, gab CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer heute bekannt. Die CDU will nicht, so die Begründung, dass mehr über die Form als über den Inhalt diskutiert werde. Das ist natürlich keine Entschuldigung für die Entgleisung, noch eine wirkliche Begründung, denn just das Einfangen der Aufmerksamkeit sollte das Bild doch erzeugen, nur dass es daneben ging, was darauf hindeutet, dass der Bau von Aufmerksamkeitsfallen eine komplizierte Angelegenheit bleibt - für Politiker und forsche Werbeagenturen. (FR)