Aufstieg der Rechtspopulisten bei EU-Wahlen: Was er für die Ukraine-Hilfe bedeuten würde

Molly O’Neal

Die Vorsitzenden der Mitgliedsparteien der Partei für Identität und Demokratie im EU-Parlament trafen sich am 18. November 2023 in Brüssel zu ihrer jährlichen Sitzung. Bild: ID

Prognosen für Juni-Wahlen verheißen nichts Gutes für Kiew. Es drohen Machtverschiebungen. Warum es Kriegsmüdigkeit verstärken würde. Gastbeitrag.

Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni entwickeln sich zu einem Test für den möglichen Aufstieg der nationalistisch-populistischen Rechten in der gesamten Europäischen Union, was die regionale Unterstützung für die Ukraine weiter erschwert.

Sehr hohe Wahlbeteiligung erwartet

Es wird erwartet, dass die Wahlbeteiligung bei den EU-Parlamentswahlen ungewöhnlich hoch sein wird, da mit einem starken Anstieg der Populisten gerechnet wird. Die etablierten Parteien versuchen, diesem offensichtlichen Trend entgegenzuwirken und ihn umzukehren.

Molly O'Neal ist Wissenschaftlerin und war Professorin in Warschau und Dresden mit Schwerpunkt Mitteleuropa, Russland und Eurasien.

Während der prognostizierte Erfolg der Populisten bei den kommenden Wahlen vor allem die Angst der Bevölkerung vor der unkontrollierten "irregulären Ankunft" von Asylbewerbern und anderen Migranten widerzuspiegeln scheint, stellen viele das starke Engagement der EU für die Aufrechterhaltung eines hohen Niveaus an militärischer Finanzhilfe für die Ukraine infrage.

"Ukraine-Müdigkeit" ist daher eher ein Subtext als das Thema der Wahlen im Juni, wobei sowohl die Einwanderung als auch die Maßnahmen der EU zur Förderung ihrer grünen Agenda die Unterstützung der populistischen Parteien mobilisieren.

Wird der Sperrgürtel gesprengt?

Die Wahlen zum Europäischen Parlament werden in den einzelnen Mitgliedsländern von den dortigen politischen Parteien bestritten. Die gewählten Abgeordneten der nationalen Parteien schließen sich im Europäischen Parlament breiten ideologischen oder programmatischen Gruppierungen (zusammengesetzten Parteien) an.

Bisher bilden die Mitte-Rechts-Partei (Europäische Volkspartei oder EVP), die Mitte-Links-Partei (Sozialdemokratische Partei Europas oder SPE) und die Liberalen der Mitte (Renew Europe) einen pro-europäischen "Cordon sanitaire" (Sperrgürtel) gegen die Extreme von links und rechts.

Auch die Grünen schließen sich dieser Koalition in vielen Fragen an. Es wird erwartet, dass diese "Große Koalition" bei den kommenden Wahlen an Sitzen verliert und die nationalpopulistischen Rechtsparteien an relativer Stärke gewinnen.

ID und EKR auf dem Vormarsch

Da diese Vorhersage weithin realisiert worden ist, ist es möglich, dass die etablierten Parteien in den Monaten vor den Wahlen im Juni ihre Anziehungskraft auf die Wähler verändern und verstärken können. Diese Herausforderung wird auf jeden Fall dazu führen, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament ein viel größeres Profil und eine größere Bedeutung als sonst haben werden.

Es wird erwartet, dass die Gruppierung Identität und Demokratie (ID), deren wichtigste Mitglieder die Alternative für Deutschland (AfD), Marine le Pens Rassemblement National (RN), Geert Wilders Partei für die Freiheit (PVV), die italienische Liga (Lega) und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) sind, die drittgrößte Gruppierung im Europäischen Parlament werden wird, nachdem sie bei den Wahlen 2019 den sechsten Platz belegt hatte.

Die nationalen Parteien in der ID befürworten kulturellen Traditionalismus, strengere Kontrollen bei der Einwanderung, die Rückverlagerung der Zuständigkeiten von Brüssel auf die nationalen Regierungen und ein Verhandlungsergebnis im Krieg zwischen der Ukraine und Russland.

Die Gruppierung der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR), die etwas zentristischer ist als die ID, wird voraussichtlich ebenfalls Sitze gewinnen. Zur EKR gehören die Fratelli d’Italia von Georgia Meloni, Recht und Gerechtigkeit in Polen (PiS) und Vox in Spanien. Die EKR-Parteien sind eher als die der ID-Gruppe bereit, die Unterstützung der Nato und der EU, einschließlich Waffenexporte, für die Ukraine fortzusetzen.

Orbán in Ungarn

Die ungarische Regierungspartei Fidesz verließ 2012 die Mitte-Rechts-Partei EVP, als ihr Ausschluss oder Suspendierung angedroht wurde wegen ihres Streits bezüglich Rechtsstaatlichkeit mit der Europäischen Kommission. Ihre Europaabgeordneten sind seither offiziell nicht mehr Mitglied.

Der ungarische Premierminister Viktor Orbán hat Interesse an einem Beitritt zur EKR-Fraktion bekundet. Selbst wenn die Partei unabhängig bleiben sollte, werden die Fidesz-Abgeordneten in der Praxis dem populistischen Block aus ID und EKR angehören.

Ungarn wird außerdem in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 den rotierenden EU-Vorsitz innehaben, was Orbán den Vorsitz im Europäischen Rat der EU-Regierungschefs einbringt, der in der Außen- und Sicherheitspolitik eine führende Rolle spielt.

Die ID und die EKR sind derzeit die viert- und fünftgrößte Fraktion im Parlament mit 67 bzw. 58 Sitzen in dem 705 Mitglieder zählenden Gremium. Umfragen sagen voraus, dass die ID und die EKR bei den Wahlen im Juni deutlich mehr Sitze erhalten werden.

Studie zu Wahlen

Eine Studie des European Council on Foreign Relations vom Januar, die sich auf nationale Umfragen in allen Mitgliedsländern stützt, sieht die ID bei 98 und die EKR bei 85 Sitzen (mit einem zusätzlichen Vorsprung von etwa 14 Sitzen, wenn die ungarische Fidesz hinzukommt).

Die Mitte-Rechts-Partei EVP und die Mitte-Links-Partei SPE verlieren wohl jeweils einige Sitze, während die Liberalen (Renew) und die Grünen erheblich an Stimmen einbüßen werden. Der proeuropäische Block aus EVP, SPE und Renew wird 54 Prozent statt der derzeitigen 60 Prozent der Sitze halten.

In Österreich (FPÖ), Belgien (Vlamms Belang, deutsch: Flämische Interessen), Frankreich (RN), Italien (Fratelli d’Italia) und den Niederlanden (PVV) liegen die ID- oder EKR-Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament deutlich in Führung. In Polen (PiS) und Deutschland (AfD) werden Parteien unter dem Banner der ID oder EKR auf einem starken zweiten Platz erwartet.

Die EVP, die SPE, die Liberalen und die Grünen sind sich in bestimmten wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Fragen uneinig, stimmen aber in der Unterstützung für die Ukraine überein. Eine reibungslose Wiederwahl von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen – einer unerschütterlichen Befürworterin der Unterstützung für die Ukraine – für eine zweite Amtszeit hängt von der Mehrheit der proeuropäischen Parteien im Parlament ab. Ihre EVP-Partei würde ihre Macht bei der Festlegung der Tagesordnung behalten.

Ein Drittel der Sitze: Starker Widerstand gegen Aufrüstung Ukraine

Das neue Parlament wird natürlich von den Präsidentschaftswahlen in den USA und deren Auswirkungen auf die weitere militärische Unterstützung der Ukraine durch die USA überschattet werden.

Wenn Washington seine Unterstützung für die ukrainische Kriegsführung reduziert, werden die europäischen Unterstützer der Ukraine gezwungen sein, ihre eigenen Verteidigungskapazitäten drastisch zu erhöhen und inländische Ressourcen für diese Priorität vor allen anderen Konkurrenten bereitzustellen. Dies würde eine politisch riskante und belastende Anpassung der nationalen und EU-Haushaltsprioritäten erfordern.

Deutschland, der größte Einzelbeitragszahler zum EU-Haushalt, ist in einem solchen Szenario durch die gesetzlichen Grenzen für Defizitausgaben (die sogenannte "Schuldenbremse") und durch seine unpopuläre Regierungskoalition in die Enge getrieben. Ein Alleingang der EU bei der Aufrüstung und Finanzierung der Ukraine würde auf den starken Widerstand eines erweiterten populistischen Blocks im Europäischen Parlament stoßen.

Es wird prognostiziert, dass die populistischen Stimmen der Rechten und der Linken zusammengenommen nach dieser Wahl mehr als ein Drittel der Sitze im Europäischen Parlament innehaben werden – mehr als jemals zuvor seit Beginn der Direktwahlen in diesem Gremium im Jahr 1979.

Sollten sich die Prognosen bewahrheiten, wird diese Entwicklung sicherlich einen großen Einfluss auf die Entscheidungsfindung der EU in Bezug auf die Unterstützung der ukrainischen Kriegsbemühungen und auf die versprochene Erweiterung der EU um die Ukraine haben.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Molly O'Neal ist Universitätsdozentin und Wissenschaftlerin mit einer langen diplomatischen Laufbahn, die sich auf Mitteleuropa, Russland und Eurasien konzentriert. Sie war Fulbright-Professorin in Warschau und in Dresden und hat an der Johns Hopkins University in den USA promoviert.