Aus "Wohlstand der Nationen" wird "Wettbewerb der Nationen"

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Die unsichtbare Hand und der Trümmerhaufen des Neoliberalismus: Ein Umdenken des Modells des "Jeder gegen Jeden" ist nötig

Wenn Wettbewerb per se ausreicht, um Entwicklung in einer geschlossenen Wirtschaft voranzutreiben, dann muss das der gängigen Ökonomie zufolge auch für eine Welt gelten, in der es viele verschiedene, offene Volkswirtschaften gibt. Ansonsten würde aus der "Liebe zum Markt", wie es die ehemaligen Mitglieder des Sachverständigenrates formulierten, eine enttäuschte Liebe werden – und das kann schließlich nicht sein.

Anstelle eines wissenschaftlichen Ansatzes, der sich nüchtern (also gerade nicht im Zustand des Verliebtseins) mit der Welt auseinandersetzt, setzen die Ökonomen auf einen Dogmatismus, bei dem "der Markt" und damit einhergehend ein möglichst vollkommener Wettbewerb als das höchste aller Ziele, das Summum Bonum, gelten.

So spielt es auch keine Rolle, dass hinter der Entwicklung eines jeden Industriestaates eine staatliche Industriepolitik stand. Alles wird in ein Marktkorsett gezwängt und die wirtschaftspolitische Empfehlung lautet immer gleich: Wettbewerb und Preisflexibilität. Da der Markt auf quasinatürliche Weise die Entwicklung antreibt, werden ganze Länder, vor allem Entwicklungsländer, dazu gezwungen, sich den "Spielregeln" des Marktes anzupassen. Das heißt Schuldenbremse für alle, Privatisierungen, Liberalisierung der Kapitalströme, Arbeitsmarktflexibilisierungen, Abbau vorhandener Handelsbarrieren und so weiter.

Aus Adam Smiths Klassiker Wohlstand der Nationen wird auf diese Weise ein "Wettbewerb der Nationen". Dass viele Länder gerade dadurch in noch größere Armut gestürzt werden, weil ihre Märkte von Produkten aus dem Norden geflutet oder ihre Kapitalmärkte durch Spekulationen massiv destabilisiert werden, ist bereits vor einigen Jahren auch in der Forschungsabteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF) angekommen. In der Praxis auf internationaler Bühne hat sich jedoch, allen Lippenbekenntnissen westlicher Politiker zum Trotz, bisher wenig geändert.

Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Buch "Kampf der Nationen. Wie der wirtschaftliche Wettbewerb unsere Zukunft zerstört" von Patrick Kaczmarczyk.

Auch in Europa sehen wir bisher wenig Tendenzen zu einem Umdenken des Modells des "jeder gegen jeden". Solange der Marktfetischismus und das damit einhergehende Gleichgewichtsdenken in den Köpfen auf den höchsten Entscheidungsebenen verankert ist, ist es unwahrscheinlich, dass sich groß etwas ändert. Die internationale Entwicklungs- und Handelstheorie funktioniert nämlich nach denselben Prinzipien des Gleichgewichts, wie es bei einzelnen Märkten und Ländern der Fall ist. Für gewöhnlich werden die Ursprünge der modernen internationalen Ökonomie zwei großen Denkern des 18. und 19. Jahrhunderts zugeschrieben: Adam Smith und David Ricardo.

Ersterer steht für die Beobachtung, dass es durch Arbeitsteilung und Spezialisierung zu hohen Produktivitätszuwächsen kommen kann. In seinem Beispiel der Stecknadelfabrik kann ein einzelner Arbeiter nicht mehr als 20 Nadeln herstellen. Wenn sich allerdings jeder auf eine Aufgabe spezialisiert, sei es in der Produktion des Drahtes, der Anfertigung der Nadelspitze oder des Stecknadelkopfes oder dem Bleichen und Verpacken der fertigen Nadel, so können 10 Arbeiter pro Tag 48.000 Nadeln produzieren. Auf die internationale Wirtschaft übertragen bedeutet dies, dass die internationale Arbeitsteilung den Wohlstand insgesamt erhöhen könnte.

Adam Smith entwickelte diese Ideen in einer Zeit, als der Merkantilismus die dominierende Doktrin war. Damals, im 17. Jahrhundert, glaubte man, dass es im Außenhandel entscheidend wäre, Überschüsse zu erzielen. Sir Thomas Mun, der ehemalige Direktor der East India Company, schrieb 1664:

Die normalen Mittel […] zur Steigerung unseres Wohlstands und Vermögens sind die über den Außenhandel, wobei wir immer folgende Regel beachten müssen: Wir müssen jährlich mehr an andere verkaufen als wir an fremden Waren konsumieren.

Thomas Mun, East India Company

Es ist eine andere, aber ähnliche Form eines "Jeder gegen jeden"-Wettbewerbs, wie sie in der EU praktiziert wird. Auch hier zielen die Reformen darauf ab, dass möglichst alle Länder Überschüsse erzielen, was von der Logik her unmöglich ist. Da die Überschüsse des einen zwangsläufig den Defiziten eines anderen entsprechen – denn die Welt als Ganzes kann ja weder einen Überschuss noch ein Defizit haben –, war die merkantilistische Doktrin häufig mit dem Einsatz militärischer und (was heute üblicher ist) ökonomisch-politischer Gewalt gegen andere Staaten verbunden.

Adam Smiths Buch liest sich wie eine 1000-seitige Argumentation gegen den Merkantilismus. Jedoch war Smith nicht der "naive" Freihändler, als der er gerne dargestellt wird. Tatsächlich wurde er zum Ende seines Lebens hin mehrere Jahre fürstlich dafür entlohnt, dass er für die britische Krone als Zollaufseher arbeitete. Doch auch in seiner theoretischen Arbeit war er alles andere als naiv. Er wusste zum Beispiel, dass der Handel zwischen Staaten kein Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung per se ist, sondern das Resultat einer zuvor vernünftigen Entwicklung des Binnenmarkts, von dem entsprechend alle am Handel beteiligten Länder profitieren können.

Neben einer effizienten Arbeitsteilung im Inland braucht es dazu vor allem den Einsatz des produktiven Kapitals. Er spricht dabei nicht von ausländischen Direktinvestitionen oder einer Kapitalverkehrsfreiheit im europäischen Sinne. Ganz im Gegenteil.

Für ihn geht es streng um den Einsatz des Kapitals im Inland, welches eine Steigerung der Produktion bis zu dem Maße fördern soll, dass mehr Güter produziert werden, als im Land selbst konsumiert werden können. Diese überschüssige Produktion wird dann in einem zweiten Schritt in den internationalen Handel geleitet. Die Entwicklung des Binnenmarkts ist also Voraussetzung für die internationale Arbeitsteilung.

Auch solle man sich davor hüten, die Entwicklung des Binnenmarkts nur als Mittel zum Zweck zu benutzen, um mit anderen Ländern zu handeln. Smith schreibt dazu: "Der inländische oder Binnenhandel, der wichtigste von allen, der (…) das größte Einkommen liefert und dem Volk die meiste Beschäftigung gibt, wurde [bei den Merkantilisten] nur als hilfeleistend bei dem auswärtigen Handel betrachtet. Er bringe, hieß es, weder Geld in das Land, noch führe er etwas hinaus; es könne also das Land durch ihn weder reicher noch ärmer werden."

Die "unsichtbare Hand" des Markts: Begriff mit verzerrter Geschichte

In dem Zusammenhang bringt Adam Smith dann auch die "unsichtbare Hand" des Markts ins Spiel. Wie keine andere ist diese Metapher zum Argument für die segensreiche Wirkung eines Laissez-faire-Kapitalismus geworden. Selbst die Bundeszentrale für politische Bildung definiert den Begriff als "Bezeichnung für die Selbststeuerung der Wirtschaft über Angebot und Nachfrage auf dem Markt". Nichts könnte die eigentliche Bedeutung des Begriffs verzerrter darstellen.

In seiner eigentlichen Fassung findet sich die Metapher im zweiten Kapitel des Buches IV – dem Kapitel über "Beschränkungen der Einfuhr solcher Güter aus fremden Ländern, welche im Land selbst erzeugt werden können". Allein der Titel des Kapitels bereitet so manchem Freihändler wahrscheinlich schon Bauchschmerzen, denn weshalb sollte man die Importe aus fremden Ländern einschränken?

In jedem Fall schreibt Adam Smith, dass "jedermann nach Kräften sucht, sein Kapital auf den inländischen Gewerbefleiß zu verwenden", was dazu führe, dass das Produkt eines Landes, aus dem sich das jährliche Einkommen ergibt, auf diese Weise maximiert werde. "Indem [ein Investor] den einheimischen Gewerbefleiß dem fremden vorzieht (…) beabsichtigt er lediglich seinen eigenen Gewinn und wird in diesen wie in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, dass er einen Zweck befördern muss, den er sich in keiner Weise vorgesetzt hatte".

Die "unsichtbare Hand" hat somit nichts mit Segnungen eines unregulierten oder barrierefreien Markts oder Handels zu tun. Es klingt vielmehr nach "buy American" oder "achetez français" als nach Liberalisierung. Das kann man gut oder schlecht finden – und sicherlich kommt es auf die Umstände an, welcher Meinung man sich da anschließt. Doch wenn man Adam Smith seine Ruhe im Grab lassen will, darf man die unsichtbare Hand in keinem Fall als Begriff für die ordnende und regulierende Kraft des Marktes bezeichnen.

Sofern der Binnenmarkt genug entwickelt ist, sodass die nicht im Inland konsumierte Produktion in den internationalen Handel gehen kann, lohnt sich der zwischenstaatliche Warenaustausch, denn jedes Land kann von der überschüssigen Produktion eines anderen Landes profitieren. Ein System der internationalen Arbeitsteilung entsteht, in dem sich jedes Land auf die Produktion der Güter spezialisiert, in denen es einen absoluten Vorteil hat. Das Problem an dieser Theorie ist allerdings, dass es für Länder, die keine absoluten Vorteile haben, keine Möglichkeit gibt, von der internationalen Arbeitsteilung zu profitieren.

Da Smith annahm, dass sich die Exporte eines Landes ohnehin auf die Industrien beschränken, in denen das jeweilige Land den absoluten Vorteil in der Produktion hat, war dies nicht weiter problematisch.

Für die Produktion und den Handel Großbritanniens bedeutete dies, dass "jährlich ein großer Teil unserer verschiedenen Wollenzeuge, unseres gegerbten Leders und unserer Eisenwaren nach anderen europäischen Ländern ohne Ausfuhrprämie versandt [wird], und dies sind gerade diejenigen Manufakturen, welche bei uns die meisten Hände beschäftigen. [Deshalb wird die heimische Produktion] durch die vollkommen freie Einfuhr fremder Güter nur wenig leiden".

Der Autor Patrick Kaczmarczyk ist als wirtschaftspolitischer Berater für internationale Organisationen tätig. Derzeit arbeitet er für die Vereinten Nationen in Genf. Dort ist er in der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung Teil eines Teams, welches sich mit Maßnahmen zur Stabilisierung der Kapitalmärkte in Entwicklungsländern befasst.

Sein Buch "Kampf der Nationen. Wie der wirtschaftliche Wettbewerb unsere Zukunft zerstört" erscheint im Westend-Verlag.