Autowelle aus dem Osten: Wie China Russlands Straßen erobert

Kamaz-Lkw. Bild: hodim/ Shutterstock.com

Seit Kriegsausbruch schaffen chinesische Hersteller in Russland etwas, was in der Zeit mit westlichen Marken nicht geschah: Sie verdrängen einheimische Hersteller vom zivilen Markt. Ein Szenario auch für die EU?

Die Veröffentlichung der Lkw-Verkaufszahlen auf dem russischen Markt im zuletzt vollständig erfassten Jahr 2024 brachten eine kleine Sensation. In Russland jedenfalls beschränkt sich das Thema nicht nur auf Autofachzeitschriften. Denn während russische Hersteller primär die umfassenden Rüstungsaufträge bedienen, verdrängte der chinesische Truck-Hersteller Sitak den jahrzehntelangen russischen Marktführer Kamaz vom Spitzenplatz der zivilen Lkw-Verkäufe.

Russische Hersteller auf zivilem Markt abgehängt

Zum 1. Januar 2020 gab es in Russland insgesamt etwa 3,78 Millionen Lastwagen. Davon waren 927.300 Fahrzeuge von Kamaz, was einem Anteil von etwa 24,5 Prozent am Gesamtbestand entspricht. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass Kamaz in bestimmten Segmenten, insbesondere bei schweren Lastwagen, einen deutlich höheren Marktanteil hat.

Doch die Verdrängung des traditionellen Autobauers war nicht die einzige Sensation, die die offiziellen Statistiken des Analyseinstituts Awtostat erbrachten. In der Top 5 der meistverkauften Truck-Marken findet sich außer Kamaz kein russischer Anbieter mehr. Shacman, FAW und Dongfeng heißen die Top-Seller, die hinter Sitrack und Kamaz auf weiteren Plätzen folgen.

Erst auf den Rängen 7 und 8 folgen mit den russischen Marken MAZ und Ural weitere inländische Hersteller. Die zivilen Lkw-Verkaufscharts aus dem vergangenen Jahr werden komplett von chinesischen Herstellern dominiert.

Insgesamt ging binnen 2024 im vergangenen Jahr der Verkauf an Lastkraftwagen in Russland um 19 Prozent zurück – Kamaz war bei einem Rückgang von fast einem Drittel hiervon stark überdurchschnittlich betroffen. Dass das Unternehmen durch diesen Rückgang nicht in eine Schieflage geriet, liegt vorwiegend an dem Krieg in der Ukraine.

Denn der Konzern produziert enorme Mengen Militär-Lkws für Russlands Armee – auch als Ersatz für viele Trucks, die an der Front etwa Kampfdrohnen zum Opfer fallen. Diese werden nicht frei verkauft und fließen nicht in die Markterhebungen ein.

Eine derart radikale Entwicklung hatte es im nachsowjetischen Russland trotz der damaligen Konkurrenz westlicher Marken, die im Zuge der Sanktionen nun vom Markt verschwunden sind, noch nie gegeben.

Die "European Seven" des westlichen Lkw-Baus, Scania, MAN, Volvo, Daimler, DAF, Iveco und Renault ließen zudem in Russland produzieren. Kamaz galt als wettbewerbsfähig mit den Europäern und wird durch öffentliche Aufträge, etwa von Gemeinden oder Behörden, indirekt subventioniert.

Westliche Fahrzeugkomponenten werden ersetzt

Viele fortschrittliche, im Westen konstruierte und teilweise in Russland hergestellte Komponenten fanden sich in den russischen Trucks. Strategische Partnerschaften über Ländergrenzen hinweg prägten bis 2021 das Bild auf dem russischen Lkw-Markt.

So stammten die Kamaz-Getriebe ab 2014 von einem Joint Venture mit dem Friedrichshafener Konzern ZF. All diese Partnerschaften waren 2022 zu Ende. Mit den EU-Sanktionen verschwanden westliche Firmen aus Russland, Kamaz wanderte auf die Sanktionslisten.

Im Zuge der durch westliche Sanktionen nötige Importsubstitution wurden zahlreiche dieser Komponenten mittlerweile durch inländische Teile ersetzt, etwa zuletzt beim wichtigen Sattelschlepper-Modell Kamaz K5 der Kraftstoffeinlass, die Radioantenne oder der Scheibenwischermotor. Auch chinesische Teile werden nun bei Kamaz und anderen russischen Herstellern verstärkt eingebaut, da, wie es die exilrussische Onlinezeitung "The Insider" ausdrückt, bei russischen Komponenten das "Potenzial und die Fähigkeiten jedoch begrenzt sind – es gibt schlicht keine hochwertigen Komponenten, die mit westlichen Modellen konkurrieren könnten". Viele hochqualitative Teile in russischen Autos der 2000er- und 2010er-Jahre stammen aus dem Westen, die Qualität der Fahrzeuge sank seit dem Kriegsausbruch.

Währenddessen übernahmen die chinesischen Autobauer nach der Ukraineinvasion die vormaligen russischen Partnerfirmen für den Vertrieb und die Wartung von westlichen Lkws in Russland. Was sie jedoch nicht nach Russland verlagerten, war die Produktion – sie führten ihre Trucks weitgehend über Parallelimporte ein, um nicht selbst das Ziel westlicher Sanktionen zu werden.

Auch bei Pkws dominieren nun die Chinesen

Was auf dem Lkw-Markt wirkt, gilt für Personenfahrzeuge nicht minder. Traditionshersteller Moskwitsch, 2022 wegen der Sanktionen wiederbelebt, fertigt im Prinzip nun Autos auf Basis chinesischer Bausätze. Gegenüber 2021 haben chinesische Konzerne ihre Pkw-Verkaufszahlen 2024 verzehnfacht. Auch hier sind sechs der Top 10 Marken aus dem Reich der Mitte. Die eigene Pkw-Produktion geht trotz der jetzt fehlenden Konkurrenz aus dem Westen zurück. Bei Premiumautos beträgt der chinesische Marktanteil inzwischen gar 80 Prozent. Neben Lada finden sich in den Verkaufscharts nur noch Marken wie Haval, Cherry, Geely oder Changan.

All das entspricht nicht den Planungen der russischen Regierung, deren Ziel nach dem Beginn der Ukraineinvasion eine sogenannte "technologische Souveränität" war, die man in gut zehn Jahren erreichen wollte. Moskau reagiert auf die chinesische Expansion vergleichsweise gemäßigt, etwa mit der jährlichen Erhöhung einer Recyclinggebühr, die auf die Verkaufspreise aufgeschlagen, jedoch für lokal produzierte Fahrzeuge kompensiert wird. Es handelt sich so also um einen Zoll durch die Hintertür. Radikalere Schritte verhindert die politische Notwendigkeit eines guten Verhältnisses zu Beijing.

Zusätzlich gegen insgesamt die Verkaufszahlen an Kraftfahrzeugen aktuell stark zurück. Die russische Zentralbank verhindert mit einem astronomischen Leitzins von aktuell 21 % eine höhere Inflation, was Kredite extrem verteuert und viele von der Anschaffung von Neuwagen abhält.

Chinesische Marktübernahme auch in der EU möglich?

Am Ende stellt sich die Frage, ob eine derartige Marktübernahme durch chinesische Hersteller auch innerhalb der Europäischen Union möglich wäre. Das ist keine theoretische Überlegung, da chinesische Hersteller mit großer Marktmacht und besseren Fahrzeugen als in früheren Jahrzehnten auch auf den EU-Markt drängen. Die Gegenrezepte aus Brüssel gleichen denen weitgehend wirkungslosen Maßnahmen Moskaus, in beiden Fällen werden de jure oder de facto Schutzzölle erhoben.

Gerade das Segment der E-Autos zeigt die gewachsene chinesische Innovation. So verzehnfachte sich von 2020 bis 2023 die Anzahl der von China nach Deutschland eingeführt PKWs mit Elektromotor. Auf den Gesamtmarkt gerechnet verkaufen die Chinesen aktuell 15 Prozent mehr Kraftfahrzeuge in Europa als im Vorjahr.Eine richtiggehende Übernahme des Marktes wäre in der EU jedoch ungleich schwieriger als in Russland.

Das Vertrauen der europäischen Kunden in ihre eigenen Marken ist höher als unter den Russen, wo selbst mancher Patriot lieber im Mercedes sitzt als im Gefährt "Made in Russia". Doch durch Skandale wie bei Volkswagen ist auch dieses Markenvertrauen erschüttert. Das Beispiel Japan zeigt aus früheren Jahrzehnten, dass sich neue Akteure auf dem Fahrzeugmarkt ein Renommee aufbauen können, das sich nicht nur mit Protektionismus bekämpfen lässt.

Aktuell zu geringe Preisdifferenz

Dass der durchschlagende Erfolg von chinesischen Autos in Europa noch ausbleibt, führt das Portal autohaus.de eher auf den zu geringen Preisunterschied aktueller chinesischer Angebote zu Kraftfahrzeugen aus Europa selbst zurück. Eine Umfrage in verschiedenen europäischen Staaten habe ergeben, dass EU-Bürger "erst bei einer Preisdifferenz von zehn Prozent den Kauf eines chinesischen Modells in Betracht ziehen. Läge die Ersparnis bei elf bis 20 Prozent, wäre schon ein Drittel bereit, umzusteigen".So sind Dimensionen einer Marktübernahme durch die Chinesen wie in Russland, wo infolge des Ukrainekriegs sehr spezielle Voraussetzungen vorlagen, eher unwahrscheinlich. Chinesische Fahrzeuge werden jedoch verstärkt auf den EU-Markt drängen und selbst ein sehr auf wirtschaftliche Eigenständigkeit Wert legendes Land wie Russland konnte sie nicht einfach durch Abgaben verhindern. Ein globaler Fahrzeugmarkt hört nicht einfach auf, global zu sein, nur weil Politiker das gerne hätten.