Baschar al-Assad: Nicht säkular genug?

Dem syrischen Staatspräsidenten wird vorgeworfen, dass er falsch mit den religiösen Spannungen im Land umgegangen ist

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"Feinde des Islams müssen konvertiert oder bekämpft und getötet werden. Die syrische Regierung bringt den Schulkindern bei, dass über die Hälfte der Weltbevölkerung zur Hölle gehen wird und aktiv von Muslimen bekämpft werden muss." Diese Sätze stammen nicht aus der Zukunft, er ist keine vorwegnehmende Beschreibung der Machtübernahme Syriens durch die Kalifatisten des IS. Die Aussagen sind syrischen Schulbüchern entnommen, die eine wissenschaftliche Arbeit aus dem Jahr 2003 genauer untersucht. Damals war der syrische Staatspräsident Baschar al-Assad drei Jahre im Amt.

Sohn Baschar setzte eine Politik fort, die sein Vater Hafez al-Assad mit der sogenannten "Korrekturbewegung" nach seiner Machtübernahme in den 1970er Jahren in Gang gesetzt hatte: ein Machtarrangement mit Führern der syrischen Sunniten, das gegen radikalere Säkularisierungstendenzen in der Baath-Partei gerichtet war. Dieses Machtarrangement bringt nun der britische Journalist Brian Whitacker neu in den Fokus. Seine These lautet:

Seit Beginn des syrischen Konflikts bemüht sich Baschar al-Assad darum, seinen politischen Überlebenskampf als heroische Anstrengung darzustellen, welche den religiösen Spannungen zwischen den Gruppen entgegenarbeitet und sie einzudämmen sucht, aber die Konflikte sind zum Teil auch Resultat der "Religions-Politik" der syrischen Regierung.

Spaltungen zugearbeitet

Man kann die These noch griffiger fassen: Whitacker hält der Regierung Assad vor, dass sie weitaus weniger säkular agierte, als dies ihrem verbreiteten Ruf als Gegenpol zur Islamisierung Syriens gerecht würde. Im Gegenteil: die Baath-Regierung habe nach ihrer Kurskorrektur den konfessionellen Spaltungen sogar zugearbeitet. Sie habe dem sunnitischen "Klerus" ein bedeutendes politisches Wirkungsfeld überlassen, in der sozialen Sphäre und in der Erziehung, wie man am Beispiel der Schulbüchertexte erkennen kann.

Dass der Islam in Syrien trotz aller Säkularisierungstendenzen eine hervorragende Stellung behielt, könne man allein schon an der Verfassung ablesen. Sie verfügt - auch nach der Überarbeitung vor zwei Jahren -, dass der Staatspräsident ein Muslim sein muss und die islamische Rechtssprechung eine Hauptquelle der Gesetzgebung sein soll.

Bei seinen Korrekturen am Bild Baschar al-Assads als "Held des säkularen Syriens" orientiert sich der britische Journalist hauptsächlich an einer Master-Abschlussarbeit des Norwegers Torstein Worren und an Joshua Landis oben genannter Arbeit über die Islamische Erziehung in Syrien.

Syrien unter den Assads: Nur an der Oberfläche säkular

Beiden Arbeiten ist - bei allen thematischen und argumentativen Unterschieden - eine Beobachtung gemeinsam: dass die beiden Assad-Herrscher, indem sie die Begrenzung der politischen Macht der sunnitischen relgiösen Kräfte mit der Gewährung weiträumigen Einflusses im sozialen Feld kompensierten, ein Staatsgebilde errichteten, das lediglich an der Oberfläche säkular war.

Syriens politische Maßgabe, offene Diskussionen über religiöse Unterschiede zu unterdrücken und stattdessen islamischen Konformismus zu verbreitet, ist alles andere als liberal. Schiitische Sekten werden gar nicht erwähnt, auch der Sufismus nicht, und auch nicht die unterschiedlichen Schulen innerhalb der sunnitischen Tradition. Diversität innerhalb des islam existiert nicht in der Welt der syrischen Schulbücher.

Joshua Landis, 2003

Die politische "Doktrin", Unterschiede zwischen den religiösen Gruppen möglichst nicht zur Sprache zu bringen, sie "unter den Teppich zu kehren", negierte zwar aus offizieller Sicht Animositäten, führt aber in der Wirklichkeit nicht dazu, dass religiöse und gesellschaftliche Spannungen zwischen Alawiten und Sunniten eingeämmt wurden.

Sie lebten unter dem Teppich der verordneten Sprachregelungen weiter. Dabei wurde der sunnitischen Hegemonie sogar zugearbeitet, indem die Regierung, bei der Alawiten an Schlüsselpositionen sitzen, sehr darauf achtete, dass sich Alawiten als normale Muslime begriffen und sich entsprechend den Lehrmaximen der Sunniten unterordneten, wie Torstein Worren ausführt.

Seine Arbeit nimmt ein Phänomen zum Anlass, das jeder Syrienreisende in Zeiten vor 2011 kennengelernt hat, wenn er in längere Gespräche mit Syrern geriet: neben der auffallend großen Vielfalt an Geheimdiensten und Geheimdienstmitarbeitern war die Vielfalt an religiösen oder ethnischen Gruppierungen erstaunlich, denen sich die Syrer zuordneten.

Für die Syrer war diese Gruppenzugehörigkeit für die eigene Identität von großer Bedeutung, so Worren. Die Regierungspolitik trug diesen Unterschieden aus einem nachvollziehbaren Machtkalkül aber nicht Rechnung und versuchte die Unterschiede über Nichtbeachtung kleinzuhalten.

Dass ihr das nicht gut gelungen ist, zeigte sich schon in den ersten Monaten nach Ausbruch der ersten Proteste und Unruhen in der zweiten Hälfte des Jahres 2011. Plötzlich schienen diese Spannungen zu explodieren, auf einmal war von Auseinandersetzungen in privaten Kreisen zu hören, die sich an religiös aufgeladenen unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten aufluden. Ein Konfliktherd, dessen Explosionskraft man bis dato unterschätzt hatte. Seither schlagen die unterschiedlichsten Interessensgruppen daraus Kapital.