Beate Zschäpe hatte kein Telegram

Die Beseitigung des Messengers – hier 1618 in Prag – wird auch historisch eher kritisch bewertet. Bild: Karel Svoboda

Messengerdienste verbieten, um die Demokratie zu schützen? Anmerkungen zum Mythos von "Hassmedien"

In den deutschen Massenmedien lässt sich seit einigen Wochen eine verstärkte Stimmungsmache für das Verbot des Messenger-Diensts Telegram vernehmen, der qua bloßer Existenz "gefährlich", und zwar "für die Demokratie" (Bayerischer Rundfunk) sein soll.

Irgendwelche Querdenker, Impfgegner, Rechte und Verschwörungstheoretiker, die interessanterweise immer als Gefahr für diese Demokratie – statt als deren notwendige Hervorbringung – gesehen werden, würden diese App nämlich ebenfalls nutzen, und damit sei dem Hass gegen Repräsentanten des Staats die Pforten geöffnet und der Weg in die Barbarei besiegelt.

Mal abgesehen davon, dass es den diversen Faschisten in der deutschen Geschichte auch ohne solche Apps ganz bequem gelungen ist, ihre Ziele zu verfolgen und ungestört durchzusetzen – die "NSU"-Terroristen etwa kamen ganz ohne Telegram aus –, hat man es hier mal wieder mit einem dieser für die spätkapitalistische Barbarei höchst bezeichnenden, medial simulierten Schreckgespenster von ziemlich ratlosen Psychopolitik-Fachwirten zu tun, die immer dann von Gefahr oder Hass sprechen, wenn sie einfach gar nichts begriffen haben.

Nun soll es die Telegram-App sein, die den "Hass" schüre. Mit Hass ist – ich übersetze das mal auf Deutsch – in diesem Falle gemeint, dass sich neben Millionen völlig harmlosen Menschen auch einige von dieser Gesellschaft Ausgeschlossene, Verrücktgemachte, in soziale Enge und Armut Getriebene, Verblödete und anderweitig wahnsinnig Gewordene mit entsprechend unappetitlichen politischen Vorstellungen diese Plattform nutzen und sich in ihr über Impfungen und andere Anti-Covid-Maßnahmen austauschen.

In bürgerlichen Staaten ist es mit der Bildung der Massen nicht weit her, weswegen in solchem Austausch meistens Humbug erzählt wird. Man will, dass sie Ruhe geben, und denkt, das könne man erreichen, indem man die Kommunikationsplattform stilllegt. Das ist das typische Reaktionsschema von Verantwortlichen in Markt-Demokratien.

Man beklagt die Symptome, weil man die Ursachen nicht beseitigen will. Ein freier Markt bringt freie Apps hervor und die wiederum die freie Meinungsäußerung von allerlei Spinnern, deren Erzeugung wiederum ebenfalls nicht unwesentlich mit dem Marktgeschehen zu tun hat.

Wollte man diese Akteure, die Apps oder die Meinungen nicht, müsste der Irrsinn des Marktprinzips abgestellt werden. Da das nicht gewollt ist, beschäftigt man sich mit den zwangsläufigen Folgeerscheinungen und Nebenwirkungen solcher Marktprinzipien.

Lange Zeit wurden die Symptome nur beklagt und nicht mehr bekämpft, inzwischen werden diese nicht mal mehr beklagt, sondern lediglich die Mittel, also die Medien, durch welche man von den Symptomen erfährt.

Der Überbringer der Botschaft – Telegram – soll erledigt werden, damit der Inhalt der Botschaft ignoriert werden und der Gang der bürgerlichen Gesellschaft weiter seinen Lauf nehmen kann.

Telegram-Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft

Die Telegram-Gruppen und deren Teilnehmer, die jetzt im Visier der Öffentlichkeit sind, stammen aber nicht aus einem Paralleluniversum und höchstwahrscheinlich auch nicht vom "Rand der Gesellschaft".

Es sind Teile einer Bevölkerung, die ihr Leben lang in der Mitte dieses Landes, etwa durch Schulunterricht, Bild und ähnliche Massenmedien wie deren Ideologien sozialisiert, geprägt und informiert worden sind.

Auch die ökonomische Basis der bürgerlichen Klassengesellschaft gerät, obgleich nicht unerheblich für die Entstehung solcher Foren, zu oft aus dem Blick.

Einer der prominentesten Telegram-Channel-Betreiber etwa, Attila Hildmann, ist nicht einfach ein rechter Verschwörungsmystiker, sondern er kann seinen Channel mit einem solch großen Publikum überhaupt erst betreiben, weil er als Geschäftsmann den Spielregeln der Marktwirtschaft gemäß so viel Kapital ansammeln konnte, dass er heute als Prominenter gelten kann und ihm die Leute seinen Müll aus der Hand fressen.

Ob das, wie früher vegane Kochbücher sind oder jetzt eben rechte Parolen, ist diesem Markt egal, solange damit Kapital reproduziert werden kann.

Der Leitfiguren-Kult der Märkte und Medien bringt solche Charaktermasken, unter denen das Verhältnis von zum Faschismus tendierendem Pöbel und Herrschaft verborgen ist, unaufhörlich hervor.

Hildmann konnte außerdem groß werden dank engagierter Unterstützung jener Medienunternehmen, die sich jetzt über ihn empören, sonst aber im Sinne der Marktzwänge jeden verdummenden Quatsch ungeprüft durchzuwinken gewohnt sind.

Dasselbe gilt für ähnliche Fälle wie etwa die Musiker Michael Wendler (Ex-Sat1 und -RTL, jetzt Telegram) und Xavier Naidoo (Ex-Pro7, jetzt QAnon) sowie Journalisten wie Eva Hermann (ehemals ARD, jetzt Kopp-Verlag), Armin-Paul Hampel (ehemals Korrespondent und Studioleiter bei diversen großen TV-Sendern, jetzt AfD) oder Ken Jebsen (ehemals ARD-Radio, jetzt KenFM).

Alle diese selbsternannten Volkshelden sind nicht Produkt von okkulten Underground-Strukturen, sondern entstammen der Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft und ihrer Massenmedien.

Noch die Gründung und überhaupt Populärwerdung eines politischen Instruments der Neuen Rechten wie die AfD geht ja zurück auf zutiefst in den Kapitalismus und seines Medienapparats integrierte Liberale wie den ehemaligen BDI-Chef Hans-Olaf Henkel.

Die Verbreitung von faschistischer Propaganda benötigt zunächst immer erstmal materielle Unterstützung; es sind also Leute und Verbände, die über Kapital oder Öffentlichkeit verfügen und damit die entsprechende Macht haben, welche man zum Aufbau faschistischer Strukturen und Herstellung von Aufmerksamkeit benötigt, von denen solche Bewegungen initiiert werden – nicht ein paar bekloppte Youtuber und erst recht keine Chat-App.

Trotzdem wird allgemein so getan, als entstünden sie durch von der bürgerlichen Norm abweichenden Kleingruppen, und nicht von dieser Norm selbst.

Wenn man also nach wirklich handfesten Ursachen für die Entstehung solcher Wahngebilde, Ideologien, Gruppen, wie sie sich jetzt etwa auf Telegram manifestieren, sucht, sollte man diese, will man redlich sein, nicht in Kommunikationsplattformen suchen, sondern in der Art und Weise, wie die Menschen in das Markt- und Konkurrenzgeschehen heute hinein vergesellschaftet werden.

Dafür müssten sich aber die Marktschreier des Kapitals und seiner Medien mal an die eigene Nase fassen. Das tun sie aber nicht, und das hat eine lange Tradition.

Telegram, das neue "Werther"

Vor 200 Jahren nämlich hatte die herrschende Klasse in Deutschland einen ähnlichen Popanz zurechtgeschustert: Goethes Roman Werther sei für Selbstmorde verantwortlich. In den 1990er- und 2000er-Jahren waren es für kurze Zeit die "Ballerspiele", dann der Heavy Metal, und schließlich der "Hass im Netz", oder – bei ganz kritischen Kritikern – "gefährliche Ideologien", die für die "Verrohung" der Jugend, für Hass, Gewalt, Amokläufe, Attentate, Terror oder allgemeinen Sittenverfall verantwortlich sein sollten.

Es ist erstaunlich, wie einig sich in diesem Lande alle sind, wenn es darum geht, nur ja nicht den kapitalistischen Boden dieses Geschehens in den Blick zu nehmen und um Himmels Willen nicht die Herrschaft der Monopole infrage zu stellen.

Inzwischen hat man einen neuen Popanz gefunden: Die Telegram-App soll, weil nicht zensierba,. Schuld daran sein, dass Leute gegen die Regierung sind.

Begriffen wird dabei nicht, dass, um Emotionen wie Hass zu schüren und politisch zu instrumentalisieren, zunächst ein gesellschaftlicher Boden vorhanden sein muss, der diese Emotionen beständig hervorbringt – oder zumindest Menschen, die kaputt genug sind, sich solchen von der Emotionalisierungsindustrie angekurbelten Gefühlswallungen zu unterwerfen.

Die Anarchie der Warenproduktion der bürgerlichen Gesellschaft, bildet die Grundlage für die faschistischen Kampagnen, die Totalität der Konkurrenzgesellschaft bringt ständigen Neid, Missgunst und seine entsprechenden Ausdrucksformen hervor.

Solche Phänomene sind allesamt Teil der emotionalen Staatsapparate, an welche die Menschen heute ihr Leben lang angeschlossen sind. Trotzdem soll es der "Hass im Netz" und früher die Literatur, die Ballerspiele, oder eben der Messengerdienst sein, der diese Phänomene hervorbringt. Sie werden aber durch solche Medien nicht hervorgebracht, sondern lediglich sichtbar.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer nun, der als Mitglied der CDU recht wenig Schwierigkeiten damit hatte, den deutschnationalen Mob seit 1989 in Meinung und Handlung "befreit" zu sehen, forderte dieser Tage, nachdem von einer Morddrohung gegen ihn durch einen jener von seiner Partei damals zum Kampf gegen den Antifaschismus ermutigten Sachsen in einer Telegram-Gruppe berichtet wurde, ein härteres Durchgreifen gegen ebendiesen Messenger.

Wem die Pogromstimmung 1989 ganz gelegen kam, weil es gegen die Richtigen, nämlich die Sozialisten ging, der kann jetzt in seiner Hilflosigkeit über die Zustände natürlich nur noch eine Chat-App verbieten lassen.

Direkter Weg zur Zensur von Kunst und Literatur

Die Assoziationskette auch der anderen Politiker und Journalisten gestaltet sich in der Regel etwa so: Am Anfang stünde, völlig abstrahiert von gesellschaftlichen Zusammenhängen, "Hass im Netz", dann folge Radikalisierung durch Austausch (etwa bei Telegram; vor einiger Zeit waren es noch "geschlossene Facebook-Gruppen"), und am Ende ergebe das den Mord und Totschlag.

Wollte man aber in dieser Sache konsequent sein, müsste man dann auch wieder mit der Zensur von Kunst und Literatur beginnen, schließlich gibt es auch dort genug verdächtiges Material zu finden (von Goethe über Jan Böhmermanns Erdogan-Gedicht bis hin zu Christoph Schlingensiefs "Tötet Helmut Kohl").

Damit allerdings wäre die Kunstfreiheit abgeschafft und das Land keine Demokratie mehr. Man sieht schon, das Ganze ist eine Zwickmühle und es ist zu bezweifeln, ob sie auf Basis der Freiheitlich-demokratischen Grundordnung irgend lösbar sein wird.

Wo das Volk als solches – und zwar nicht nur für die Repräsentanten des Staats, sondern auch für sich selbst – eine "Gefahr" darstellt, muss man, es hilft nichts, den zuständigen Kulturbetriebsnudeln, Feuilletonisten, Leitartikelschreibern und Geisteswissenschaftlern wieder zumuten, sich mit den ganz grundlegenden Fragen falscher, das heißt bürgerlicher Vergesellschaftung auseinanderzusetzen.

Es waren Marxisten wie Brecht und Soziologen wie Horkheimer und Adorno, die bereits im letzten Jahrhundert solche Vergesellschaftung als eine immer auch zum Faschismus tendierende erkannt hatten – und zwar eine aus ihrer Mitte kommende, sich nicht unabhängig von dieser an den sogenannten Rändern der Gesellschaft selbsttätig entwickelnden.

Von ihnen jedenfalls wäre keiner so blöd gewesen, sich über eine Handy-App als Ursache für rechte Morddrohungen zu empören.

Es wäre zu begreifen, inwiefern es eben nicht das Internet ist, das die Realität gefährlich macht, wie die Mahnenden angesichts von "Online-Hetze" und "Hass im Netz" raunen, sondern inwieweit die "gefährliche" Realität sich nur im Internet spiegelt.

Es ist also die – gesellschaftliche – Realität, die das Internet zur "Gefahr" macht, nicht umgekehrt. Ich schreibe "inwieweit", ich schreibe nicht "dass".

Es ist klar, dass alle Spiegelung, aller Reflex, Ideologien usw., Realität eben nicht nur ausdrücken, sondern freilich auch reproduzieren. Aber trotzdem bleibt ein Symptom in der Hauptsache nun einmal Symptom, nicht Ursache.

Will sagen: In der Ursache ist das Symptom, das diese dann reproduziert, immer schon mit eingepreist. Betrachtet werden müsste also das Symptom lediglich als Symptom und die wirkliche Ursache als die Ursache.

Die Hassproduktion läuft auf Hochtouren

Dass das Symptom auch zu einer Verschlimmerung des allgemeinen Zustands seinen – bloßen – Teil beiträgt, mag man zugestehen. Aber das Symptom – "Hass im Netz" – kann nicht verantwortlich sein für seine Ursache: gesellschaftlich erzeugter Hass.

Und die Hassproduktion läuft innerhalb dieser Gesellschaft – also in den Familien, der Politik, der Schule, den Arbeitsumfeldern usw. – auf Hochtouren.

Dafür benötigt man nun wirklich nicht erst das Internet.

Weder ist die so oft angeführte "strukturelle Gewalt" in der Gesellschaft alleinige Ursache des Internethasses, noch ist dieser deren Ursache: Sie beide sind Resultat eines Dritten, der realen Ursache: bürgerliche Vergesellschaftung, Markt, Konkurrenzkampf.

Weil diese zu übermächtig sind oder scheinen, weil es so vielen zu schwerfällt, ihnen – politisch, materiell – etwas entgegenzusetzen, flüchtet man sich in transzendente Erklärungen: Internetforen, Chat-Gruppen, Apps seien, wenn schon nicht Schuld oder Ursache der missliebigen Erscheinungen, so doch zumindest als Symptom abzustellen, um Schlimmeres zu verhindern.

Aber wie damals das Phänomen der Selbsttötung nicht aus der Welt geschafft wurde, indem man Goethes Werther auf den Index setzte, wird man heute keine Mordphantasien verhindern, indem man Telegram verbietet.

Im Gegenteil würde wohl der Schaden, der damit auch solchen Kräften zugefügt werden könnte, die sich dort etwa gegen faschistische Pogrom-Absichten austauschen und vernetzen, größer sein als der für Rechtsradikale – das ist die Pointe des bürgerlichen Rechtsstaats: Er kann, weil er keinen wirklichen Begriff von Faschismus hat, gegen den Radikalismus von rechts immer nur vorgehen im Verbund mit dem Kampf gegen den als Linksextremismus benannten Antifaschismus, weil ihm beides nur als Extrem erscheint, das seine Mitte bedrohe.

Dass kapitalistische Gemeinwesen jene großzügig als "Grundrechte" gewährten Freiheiten immer nur phasenweise und nicht allen erlauben dürfen, hat Ursache im grundlegenden Prinzip dieser Gesellschaft: als ein stetiges Hangeln von ökonomischer Krise zu ökonomischer Krise, von deren Überwindung immer weniger profitieren und immer mehr zu Schaden kommen, gelten – und das hat man zu Zeiten der Systemkonkurrenz nur zu gern übersehen, Grundrechte wie Kunst- und Meinungsfreiheit in ihr nur in den Perioden zwischen diesen Krisen.

Je größer die Krise, desto strenger die Mittel, dieser beizukommen. Der Staatsumbau von oben zum Schaden der Mehrheit ist in bürgerlichen Staaten immer Programm gewesen, kein Unfall.

Das Kapital pflegt dabei, die ökonomischen Krisen zu verschleiern, etwa mittels "Geldpolitik", Aufrüstung und darauffolgendem Krieg, oder, indem es die Krisen als Naturkatastrophen wie der Corona-Pandemie erscheinen lässt, sodass die wirtschaftlich erzeugten Probleme als soziale erscheinen können, die nur noch entweder individuell oder mittels Ausnahmezustands-Instrumentarium des Krisenstaats zu lösen seien.

Es ist also innerhalb dieser Logik leider konsequent, wenn nun Möglichkeiten des Versammelns und des Austauschs wie Telegram verwehrt werden sollen.

Es ginge, wollte man dagegen als Datenschützer, Kunstfreiheitsverfechter oder Verteidiger der Versammlungsfreiheit etwas unternehmen, um die Infragestellung solcher systemimmanenten Konsequenz, nicht um das Beklagen von Symptomen.

Ausführlich hat sich Marlon Grohn mit dem Thema in seinem Buch Hass von oben, Hass von unten. Klassenkampf im Internet beschäftigt.