Bedingt lieferbereit: EU-Waffenproduktion hinkt Versprechen weit hinterher

Artilleriegeschütz in der Ukraine, 2023. Bild: Drop of Light, Shutterstock.com

Hohe EU-Vertreter überschlugen sich in Rekordmeldungen. Tatsächlich beträgt die Produktion weniger als die Hälfe. Zahlen eines Selbstbetrugs.

Die Kapazität der Europäischen Union zur Produktion von 155-mm-Artilleriemunition liegt offenbar weit unter den Versprechen hochrangiger EU-Vertreter. Brüssel sei daher kaum fähig, die Zusagen über Lieferungen an die Ukraine einzuhalten, berichtet der US-Auslandssender Radio Free Europe auf Basis einer eigenen Recherche.

Die Europäische Kommission erklärte im März, dass dank ihrer Maßnahmen die europäische Jahresproduktionskapazität für 155-mm-Granaten einen Monat zuvor die Millionenmarke erreicht habe.

Drei Monate später gab Thierry Breton, der EU-Kommissar für den Binnenmarkt, bekannt, dass EU-Produzenten bis Ende dieses Jahres eine jährliche Kapazität von 1,7 Millionen 155-mm-Granaten erreichen würden und die Kapazität weiter wachsen würde.

Quelle in Brüssel widerspricht

Eine hochrangige Quelle aus der europäischen Rüstungsindustrie widersprach jedoch diesen Angaben und schätzte die derzeitige Kapazität auf etwa ein Drittel davon.

Interviews und Dokumente, die im Zuge der Recherche zusammengetragen wurden, deuten darauf hin, dass die tatsächliche Kapazität der europäischen Industrie bei etwa 580.000 Stück der begehrten Artilleriemunition pro Jahr liegt.

Ein Bericht des estnischen Verteidigungsministeriums aus dem Dezember 2023 und eine Schätzung des deutschen Waffenherstellers Rheinmetall aus dem Januar 2024 bestätigen diese Zahl.

Die Europäische Kommission bekräftigte auf Nachfrage, dass sie ihre Bewertung der Produktionskapazität auf "Fakten" und "laufende Investitionen" in den Ausbau der Industrie stütze.

Viele Faktoren sorgen für Rückstand

Die Rüstungsunternehmen erklärten den Rückstand mit einer Reihe von Faktoren: einem globalen Mangel an Schießpulver und Sprengstoff, fehlenden Geldern für die Munitionsindustrie, zögerlichen Regierungen und dem Unwillen zu langfristigen Verträgen.

Die Ukraine plant derweil, im zweiten Halbjahr 2024 mit der Massenproduktion von 155-mm-Granaten zu beginnen. Der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerov schätzt den aktuellen Bedarf auf 200.000 Schuss pro Monat – mehr als die EU und die Vereinigten Staaten zusammen liefern können.

Zahlen teilweise geheim

Die USA haben seit Februar 2022 mehr als drei Millionen 155-mm-Artilleriegranaten in die Ukraine geliefert. Neben der koordinierten EU-Unterstützung spenden europäische Länder auch individuell Munition an die Ukraine, halten aber Zahlen geheim.

Die Ukraine kauft und produziert auch unabhängig Munition, aber das Volumen der inländischen Produktion und Beschaffung ist weit geringer als das ihrer westlichen Partner.

Nach dem Beginn der russischen Invasion begann die Ukraine mit der Massenproduktion von Munition sowjetischen Kalibers und erreichte eine Kapazität von einigen Zehntausend Schuss pro Monat.

Inzwischen behauptet Ukroboronprom, der staatliche Verteidigungskonzern, dass die inländisch produzierten 155-mm-Granaten mit allen Arten von Artillerie dieses Kalibers kompatibel sein werden. Die Ukraine hat 13 verschiedene Typen.

Politische Wunschvorstellungen

Es wird angenommen, dass die Ukraine für eine einzelne 155-mm-Granate auf dem Weltmarkt 3.000 bis 5.000 Euro bezahlt. Fortgeschrittenere Varianten können 8.000 Euro kosten.

Die Recherche des US-Auslandssenders bestätigt schon länger kursierende Berichte, die auch Telepolis aufgegriffen hatte. Die übertriebenen Angaben über die Munitionsproduktion zeigen einmal mehr, inwieweit die Ukraine-Debatte von politischer Wunschvorstellung geprägt ist.

Die Realität auf dem Schlachtfeld sieht anders aus. Und sie wird am Ende entscheidend sein.