Befeuern Großdemos die Infektionsrate?
ZEW-Studie liefert Zündstoff für eine Debatte, bei der es um mehr als um Zahlen geht. Kritiker attestieren dem Papier eine "politische Schlagseite". (Siehe auch Telepolis-Beitrag: "Querdenker als Corona-Spreader?" vom 11. Februar)
Eine aktuell diskutierte und - wie sich zeigt - politisch höchst umstrittene Studie des Mannheimer Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH (ZEW) argumentiert, dass Demos gegen staatliche Corona-Maßnahmen wahre Superspreader-Events sein dürften. Sie hätten das Potenzial, die Covid-19-Infektionen in vielen Teilen des Landes zu verbreiten. Auch Telepolis berichtete hierüber am 11. Februar, wenige Tage nachdem die von den Autoren selbst als "Discussion Paper" bezeichnete Studie "Spreading the Disease: Protest in Times of Pandemics" veröffentlicht worden war.
Kurz gesagt: Die "Querdenker-Demos" in Leipzig und Berlin vom vergangenem November - um sie geht es hier - sind dieser Betrachtung zufolge als Superspreader-Events für ganz Deutschland einzustufen. Zu diesem Ergebnis kommen jedenfalls die beiden Autoren des 49 Seiten umfassenden Papiers. Beides sind übrigens Volkswirte: Dr. Martin Lange und Dr. Ole Monscheuer. Martin Lange ist seit September 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Arbeitsmärkte und Personalmanagement des Leibniz-Instituts, Ole Monscheuer ist Postdoc an der Humboldt-Universität zu Berlin mit Schwerpunkt im Bereich Arbeits- und Migrationsökonomie. Einen medizinischen oder naturwissenschaftlichen Hintergrund weisen ihre Viten beziehungsweise Positionen nicht auf.
Analysiert haben sie das Infektionsgeschehen in Landkreisen, aus denen eine größere Anzahl Demonstrantinnen und Demonstranten zu den November-Protesten (7. November 2020 in Leipzig, 18. November 2020 in Berlin) angereist waren, und zwar per Bus. Die Absicht der Autoren: Zu zeigen, welche Folgen großangelegte Proteste für die Infektionsrate unter den Teilnehmenden und in deren Heimatorten hatten. Die Untersuchung bezieht sich nur auf Deutschland. Im Text selber hört sich die gewählte Fragestellung - mit Blick auf die Demo-Beteiligten - so an:
"Wie trägt diese Gruppe zur Verbreitung von Covid-19 bei? Verhalten sich Covid-19-Leugner anders als die Mehrheit der Bevölkerung? Und haben große Proteste einen Einfluss auf die Übertragung der Krankheit?"
Das Verkehrsmittel der Protestler ist der Reisebus. Er spielt im Ansatz der Untersuchung eine Hauptrolle, und zwar unter dem skurrilen Namen "Honk for Hope", zu Deutsch: Hupen für die Hoffnung. Damit bieten Busunternehmer Reiseunterstützung für Demonstranten. Wie bereits berichtet, erschien es den Leibniz-Autoren sinnvoll, zu erforschen, ob es einen Zusammenhang zwischen den Abfahrtsorten der "Honk for Hope"-Busse und der regionalen Entwicklung der Inzidenzen gab.
Um diese Orte zu bestimmen, nutzten Lange und Monscheuer Informationen über die Anbieter der Busreisen beziehungsweise des Netzwerks, das sich seit Sommer 2020 auf die Beförderung von Demonstranten zu den "Querdenken"-Kundgebungen spezialisiert hat.
Bushaltestellen als Corona-Indikatoren
Die Recherche habe ergeben, dass die Sieben-Tage-Inzidenz nach den Demonstrationen deutlich stärker in denjenigen Landkreisen anstieg, die Städte mit solchen Busverbindungen aufweisen, als in Landkreisen ohne solche Verbindungen. Die Corona-Zahlen in den Städten und Landkreisen, die von "Honk for Hope" angesteuert wurden, lagen demzufolge signifikant höher als in denen, die nicht auf dem Fahrplan standen. So zählten Landkreise mit einer Ortschaft von unter 20.000 Einwohnern, die von den Bussen des Netzwerks angefahren wurde, am 23. Dezember durchschnittlich 13,8 Prozent mehr Fälle pro 100.000 Einwohner als solche, in denen die Busse nicht gehalten hatten.
Das Geschehen hatte demnach bis Weihnachten einen Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz um 40 in den betroffenen Landkreisen zur Folge, zum Teil auch höher.
Lange und Monscheuer gingen nach eigenen Angaben schrittweise vor und verglichen verschiedene Kennzahlen miteinander. In einem ersten Schritt ermittelten sie Faktoren, die anzeigen, wo Corona besonders stark zuschlägt: Nämlich dort, wo der Anteil an AfD-Wählern hoch und die Masern-Impfbereitschaft gering sei. Mit dieser Korrelation im Hinterkopf nahmen sie die beiden Kundgebungen Ende 2020 ins Visier - die vom 7. November in Leipzig mit rund 20.000 (andere Schätzungen: bis 45.000) Teilnehmenden und die vom 18. November in Berlin mit mehr als 10.000 Teilnehmenden.
"Gesellschaftsschädliche Ansichten"
"Unsere Studie dokumentiert, dass eine radikale Minderheit eine signifikante Gefahr für die ganze Bevölkerung sein kann", heißt es in der Bilanz des Papiers, und weiter: "Angesichts der gravierenden Konsequenzen für die öffentliche Gesundheit sollten sich Gesetzgeber vermehrt (auf das) konzentrieren, was gesellschaftsschädliche Ansichten und Verhalten fördert." Die Forscher gehen davon aus, dass tausende, im Endeffekt mehr als 20.000 Infektionen hätten verhindert werden können, wenn die Corona-Demos in Leipzig und Berlin abgesagt worden wären.
Presseberichten zufolge war nach der Demo in Leipzig Anfang November auch einer der Organisatoren schwer an Corona erkrankt. Der Tagesspiegel schrieb, dass einer der "bekanntesten Köpfe" der Szene im Nachgang künstlich beatmet werden musste. Bei der Demo, die bundesweit für Schlagzeilen sorgte, wurde die erlaubte Zahl von 16.000 Teilnehmern auf alle Fälle deutlich überschritten, Teilnehmer hielten sich nicht an die Sicherheitsabstände und trugen keine Masken. Ins Netz gestellte Bilder der Veranstaltung vermitteln einen Eindruck von dem Chaos
Seltsames "Frühlingserwachen"
Die Bus-Netzwerker bieten unterdessen bereits Gruppenfahrten zu einer weiteren Großdemo an, und zwar für den 20. März in Kassel. Unter dem Motto "Frühlingserwachen - Die Welt steht auf" werden die Touren auf der Seite des Busunternehmers Thomas Kaden aus dem sächsischen Plauen beworben, einem der Gründer des Netzwerks.
Nach Bekanntwerden der Studie hatten Kritiker den "wirtschaftsnahen Charakter" des Leibniz-Instituts bemängelt und die Frage aufgeworfen, ob es sich bei der Untersuchung um eine verdeckte Auftragsarbeit handeln könnte. Dem widerspricht Martin Lange: Die Idee zu der Untersuchung sei ihm selber gekommen, es sei niemand an ihn herangetreten. Er habe im November 2020 in den Medien die Bilder gesehen - etwa die Aufnahmen von Demo-Besuchern in Leipzig - und sich gefragt: Aus welchen Landkreisen kommen die Demonstranten?
Danach habe man sich die Bushaltestellen "Honk for Hopes" angeschaut. Im Interview mit dem Sender SWR betont Lange: "Unsere Studie zeigt, dass so große Demos, wo sich die Leute nicht an die Regeln halten, als Superspreader funktionieren können. Wir liefern die Zahlen dazu (…)". Lange, der sich selbst als Ökonom bezeichnet, fasst zusammen: Eine mobile Minderheit, die sich nicht an geltende Hygieneregeln hält, ist ein erhebliches Risiko für die Gemeinschaft. Die Studie stößt derweil auch auf fachkundigen Widerspruch.
Studie mit "politischer Schlagseite"?
Entsprechend nimmt der Neubrandenburger Nordkurier die Leibnizer aufs Korn. In seiner Ausgabe vom 11. Februar schreibt das Blatt unter Berufung auf zwei Professoren: "Experten zerpflücken Studie über Querdenken-Demos" und nennt die Forschungsergebnisse der Leibniz-Studie "statistisch verbrämte Propaganda". Kompetente Fachleute, so die Aussage, zweifelten die Methodik und die Studienergebnisse an, diagnostiziert wird hier eine "politisch motivierte Zahlenschieberei".
"Auf jeden Fall grober Unfug sind die 21.000 Mehrinfektionen", lässt sich Statistik-Professor Walter Krämer von der Uni Dortmund ein. Auch Mathematiker Prof. Thomas Rießinger, der sich selbst als überzeugten Impfanhänger bezeichnet, wird mit kritischen Tönen angeführt, er attestiert der "Querdenken"-Studie eine "politische Schlagseite". Kritiker wie er merken unterdes auch gerne an, die Untersuchung sei bisher in keinem Fachjournal veröffentlicht worden.
"Die Autoren gehen mit einen deutlichen Vorurteil an die Studie heran. Daraus machen sie auch gar keinen Hehl", so Krämer. Zudem, so der Dortmunder Statistiker, hapere es wie in so vielen Studien, die zu vermeintlich spektakulären Ergebnissen kämen, an einer klaren Unterscheidung von Korrelation und Kausalität.
Corona-Superspreader-Events - ein klarer Streitfall
Also alles klar - oder sind Zweifel wie diese begründet? Der Tagesspiegel (Ausgabe 9. Februar) ist sich in der Grundaussage der ZEW-Studie sicher: "Inzwischen ist klar: Diese beiden 'Querdenker'-Demos waren Corona-Superspreader-Events. Wären die Kundgebungen abgesagt worden, hätten bis Weihnachten zwischen 16.000 und 21.000 Covid-19-Infektionen verhindert werden können."
Beim Spektakel in der Berliner Innenstadt vom 18. November sieht der Tagesspiegel eine "Mischung aus Querdenkern und anderen Verschwörungsideologen, sowie Esoterikern, Rechtsextremen, Reichsbürgern und allgemeinen Kritikern der Corona-Politik" am Werk. Diese Gruppe wird damit identifiziert, dass die Teilnehmenden "sich nicht an die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nase-Schutz oder Abstand (...) halten".
"Ausbreitung von Covid-19 erheblich gesteigert"
Das klingt plausibel und passt zum Intro der ZEW-Studie. Dort leiten die Autoren Lange und Monscheuer ihre Untersuchung mit den Worten ein:
"In dieser Studie zeigen wir, dass die Ausbreitung von Covid-19 erheblich gesteigert werden kann durch Personen, die die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch die Krankheit herunterspielen und empfohlenen und vorgeschriebenen Verhaltensweisen zur Eindämmung der Übertragung ablehnen."
Kristian Stemmler schreibt indes in der jungen Welt (Ausgabe 11. Februar) lakonisch: "Es war absehbar, dass Demonstrationen sogenannter Querdenker, bei denen weder Masken getragen noch Abstände eingehalten werden, zur Ausbreitung des Coronavirus beitragen würden" und unterstreicht einen gewissen Hang der Studie zur Pauschalierung, nennt aber die Studienergebnisse "nachvollziehbar".
Allerdings, so sein Resümee, seien die politischen Schlussfolgerungen, die das "wirtschaftsnahe ZEW" ziehe, eher fragwürdig. Die Sprache findet er unnötig "staatstragend": "Im Fazit des Papiers heißt es ebenso pauschal wie staatstragend, die Studie dokumentiere, 'dass eine radikale Minderheit eine erhebliche Bedrohung für die gesamte Bevölkerung darstellen kann'". Die Studie setze entsprechend stark auf Schlagworte wie "Anstrengungen für mehr Vertrauen in Institutionen, politische Entscheidungsträger und wissenschaftliche Evidenz". Kritiker rücken die Absicht der Autoren aus diesen Gründen in die Nähe von staatlichen Opinion-Leadern.
"Proteste müssen weiterhin möglich sein"
Der jungen Welt zufolge sieht auch der linke Aktivist Christoph Kleine solch pauschalen Appelle mit einer gewissen Skepsis, auch wenn er die Studie insgesamt nicht anzweifelt. "Dass Demos, bei denen Abstände nicht eingehalten und keine Schutzmasken getragen werden, zur Verbreitung des Virus beitragen, ist keine Überraschung und belegt erneut, dass Coronaleugner sich und andere gefährden", sagte wird er zitiert.
Gleichzeitig sei er überzeugt, so das Blatt, dass die Busfahrten selbst erheblich zum Infektionsgeschehen beigetragen hätten. Es sei aber wichtig, dass aus derartigen Studien keine falschen Schlüsse gezogen würden: So müssten Proteste auf der Straße, bei denen die Regeln zur Eindämmung der Pandemie eingehalten werden, "weiterhin möglich sein".
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