Querdenker als Corona-Spreader?

Lepizig, Demonstration am 17. Oktober 2020. Foto: Andreas Schwarzkopf/CC BY-SA 4.0

Besteht die Möglichkeit, dass Demos ohne Masken und ohne Abstand dazu beigetragen haben, das Virus zu verbreiten? Wer dies damals befürchtet hatte, musste sich als Panik-Macher verspotten lassen

An den Orten, an denen die Demos stattfanden, zeigten sich hinsichtlich der Verbreitung der Infektionen während der zu erwartenden Inkubationszeit keine auffälligen Entwicklungen. Offensichtlich waren diese Beobachtungen jedoch zu kurz gegriffen.

Eine gemeinsame Studie des ZEW (Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung) Mannheim und der Humboldt-Universität in Berlin hat jetzt Zusammenhänge herausgefunden, die auf den ersten Blick übersehen wurden. Dazu hat man die Auswirkungen zweier großer Querdenker-Kundgebungen, die im November 2020 stattfanden, hinsichtlich der Sieben-Tage-Inzidenz bis Ende Dezember analysiert.

Der Ansatz der Studie geht davon aus, dass messbare Auswirkungen der Massenveranstaltungen auf eine Ausbreitung von Infektionen nicht am Ort der Demonstrationen abzulesen sind, sondern in den Heimatgemeinden, aus denen die Demonstranten mit organisierten Busfahrten anreisten.

"Honk for Hope"

Während die Demonstranten von den einzelnen Querdenker-Gruppen angeworben wurden, entwickelte sich unter dem Namen Honk for Hope ein ganzes Netzwerk von Bus-Unternehmen, die aufgrund der Corona-Maßnahmen gehindert waren, ihr übliches Busgeschäft zu betreiben und mit dem Pooling ihrer Busse offensichtlich zwei Ziele verfolgten.

Zum einen konnte man damit einen Teil der Busflotte auslasten, auf der anderen Seite hatte man wohl die Hoffnung, dass mit den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen ausreichender Widerstand gegen die von den Regierungen meist noch etwas zögerlich vertretenen Anti-Corona-Maßnahmen hätte aufgebaut werden können, so dass die geltenden Einschränkungen zu Fall gekommen wären und der Busreiseverkehr wieder so hätte aufgenommen werden können, wie dies vor Corona der Fall war.

Unter dem Sammelbegriff "Honk for Hope/Hupen für Hoffnung" wurde eine internationale Initiative zur Förderung der Interessen des Busreisegewerbes zu Zeiten von Corona gegründet, da man sicher war, dass das Busreisegewerbe dringend eines branchenspezifischen Zusammenschlusses bedürfe, um eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit und ein gemeinsames Lobbying über Staatsgrenzen hinweg zu betreiben.

Auf der von Wien aus unter der Adresse der City Tours GmbH geführten "Honk for Hope"-Website wurden eine große Anzahl an Abfahrtsorten quer durch Deutschland angeboten, von denen man eine Fahrt zu den einzelnen Demonstrationen buchen konnte.

Nicht der Ort der Demonstrationen, sondern die Herkunft der Teilnehmer

Dass sich an den Orten, an welchen die Demonstrationen stattfanden, keine erhöhten Infektionszahlen nachweisen ließen, ist nicht weiter verwunderlich, weil ein größerer Teil der Kundgebungsteilnehmer aus anderen Orten zugereist war. Und somit erscheint es durchaus sinnvoll, zu untersuchen, ob es einen Zusammenhang zwischen den Abfahrtsorten der "Honk for Hope"-Busse und der regionalen Entwicklung der Inzidenzen gab.

Untersucht wurde in der Studie daher nicht das Infektionsgeschehen an den Orten der Demonstrationen selbst, sondern in den Landkreisen, aus denen die Teilnehmer zu den Kundgebungen am 7. November 2020 in Leipzig und am 18. November 2020 in Berlin anreisten. Dazu nutzten die Studienautoren Informationen über das damals bestehende Angebot von Busunternehmen, die sich seit Mitte 2020 unter dem Namen "Honk for Hope" auf die Beförderung von Querdenkern zu den einschlägigen Kundgebungen spezialisiert hatten.

Im Rahmen der Studie wurde festgestellt, dass die Sieben-Tages-Inzidenz nach den Demonstrationen deutlich stärker in solchen Landkreisen anstieg, in denen Orte sich mit einer vom "Honk for Hope"-Netzwerk angebotenen Busverbindung befinden, als in Landkreisen ohne solche Busverbindungen. Nach Aussage der Studien-Autoren betrug der erhöhte zusätzliche Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz in den jeweils betroffenen Landkreisen 40 Fälle auf 100.000 Einwohner, was alleine schon über dem derzeit diskutierten Inzidenz-Grenzwert von 35 liegen würde.

Bezogen auf die beiden erwähnten Demonstrationen schätzt man, dass bis Weihnachten zwischen 16.000 und 21.000 Covid-19-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn nur diese beiden Kundgebungen abgesagt worden wären. Dass man die Zahlen nur abschätzen kann, liegt auch daran, dass der Datenschutz in Deutschland ein personengenaues Tracking nicht zulässt.

Mit ihrer Analyse quantifizieren nun ZEW und Humboldt-Universität erstmals den Zielkonflikt zwischen der Einschränkung von Freiheitsrechten und den gewählten politischen Maßnahmen zum Infektionsschutz. Die gewünschte individuelle Freiheit, die sich bei den Kundgebungen zumeist im Verzicht auf eine vorgeschriebene Mund-Nasen-Bedeckung und die Einhaltung der Abstandsregeln manifestierten, steht hier den Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit gegenüber.

Eine kleine hochmobile Gruppe, die sich nicht an geltende Hygieneregeln halten will, weil sie sich dadurch in ihren persönlichen Freiheiten behindert fühlt, kann somit ein erhebliches Risiko für andere Menschen darstellen.

Vorwürfe gegen die Studie

Wer den Studienautoren jetzt vorwirft, dass sie die Studie am 9. Februar veröffentlicht haben, weil zu diesem Zeitpunkt über eine Verlängerung des Lockdowns diskutiert wurde, übersieht, dass die Diskussionen über die Lockdowns inzwischen in kurzen Abständen geführt werden. Die ist eine Folge des Infektionschutzgesetzes, das die Überprüfung der verordneten Maßnahmen in vergleichsweise kurzen Abständen erfordert.

Dass die Studie gerade jetzt veröffentlicht wurde, hängt damit zusammen, dass sie Datenmaterial bis Weihnachten genutzt hat und den gesamten Januar für die Bearbeitung benötigte. Wäre die Veröffentlichung der vorliegenden Studie jetzt aufgrund der politischen Diskussion verschoben worden, hätte dies an den Entscheidungen der Politik wohl wenig geändert.

Die Studienautoren hätten sich jedoch mit dem Vorwurf der Verschleierung vorliegender Ergebnisse konfrontiert gesehen. Auch wenn man der Studie jetzt vorwerfen will, sie wolle dazu dienen, die Fehler der regierungsamtlichen Coronapolitik zu verbergen, scheint das nur äußerst schwach begründet. Das soll nun keinesfalls bedeuten, dass die Regierungen im Zusammenhang mit Corona ohne Fehler geblieben seien. Zu den aus den Studienergebnisse ableitbaren Aussagen steht das Versagen bei der Durchsetzung von Masken- und Abstandspflicht und das nicht erfolgte Tracken der Bewegungsmuster der Kundgebungsteilnehmer über die Teilnahme hinaus, wie es beispielsweise in Singapur erfolgt.

Das fehlende Tracking führt ohne Zweifel zu gewissen Unschärfen bei der Datenlage. Nachgeschärft wurde diese im Rahmen der Studie jedoch durch den Datenabgleich mit weiteren Gemeinsamkeiten der Regionen mit einer erhöhten Inzidenz. Dazu zählt das Wahlverhalten in den besonders von den Corona-Infektionen betroffenen Regionen, wobei hier ja Regionen betroffen sind, in welchen schon traditionell eine Opposition gegen staatliches Handeln eine größere Bedeutung hat. Dies zeigte sich in der jüngeren Vergangenheit auch im Widerstand gegen die Masernimpfungen.

Man hätte natürlich auch noch die bestehenden Cluster freikirchlicher Gemeinden mit einbeziehen können, deren Einfluss auf die Corona-Verbreitung zuvor schon aus dem Elsass und aus Südkorea berichtet wurde. Die Tatsache, dass sich die in der zweiten Welle in großem Maße betroffenen Orte vorwiegend in ländlichen Gebieten befinden, spricht übrigens auch deutlich gegen eine überragende Bedeutung von Industrie und öffentlichem Nahverkehr als Pandemietreiber. Beide sind in diesen Regionen eher schwach ausgeprägt.